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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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ren Erzählungen, in geradester Linie auf ihren Zweck los. Später vervollständigen
sie sich in der Chaumiere, im Salon und an der Börse. Sie gewinnen schnellen
Witz, Grazie und Kühnheit im Combiniren. Wir armen Deutschen! Bei unserer
Bildung geht die Philosophie über die historischen und exacten Wissenschaften hin¬
aus, trotz aller Schulen; es werden uns weite, complicirte, romantische Gesichts¬
punkte gegeben, ehe wir gelernt haben, die Dinge selber genau zu betrachten; in
unseren sog. deutschen Aufsätzen in der Schule hält man uns an, Dilettant zu wer¬
den, noch ehe es uns Freude macht; man treibt uns dazu, in dem formlosen
Dilettantismus unserer Göthe u. s. w. die wahre Höhe der Kunst zu ahnen, noch
ehe die Willkür uns ein wirkliches Wohlgefallen erregt. Später gilt der Beamte
mehr als der Kaufmann und der Industrielle, das Aufgeben des selbstständigen
Erwerbs, des selbstständigen Willens an einen außer uns liegenden Zweck höher,
als der gesunde Egoismus. Wir werden Münzen mit uniformem Gepräge. In den
Nebenstunden lassen wir uns Musik machen. Reichthum an Reflexionen, Reichthum
an Pflichten, Reichthum an Stüumungeu! Philosophie, Bureau, Musik! Dar¬
über ist uns der Humor uicht weniger verloren gegangen, als die Freiheit,




Zur antiromantischen Literatur.



Die romantische Schule in ihrem innern Zusammenhang mit Goethe und Schiller.
Von Hermann Hettner. Vraunschweig, Vieweg.

Der Verfasser erklärt im Vorwort seiner kleinen Schrift, sie solle keine eigent¬
liche Geschichte der Schule sein, sondern nur eine Vorstudie dazu. So verhält
es sich auch; nur wird der Vorstudie wohl keine wirkliche Geschichte folgen. Es
sind eben kritische Bemerkungen über einzelne Dichter der sogenannten romantischen
Schule, über Göthe und Schiller, sowie einige andere Schriftsteller jener Periode,
geordnet nach den Rubriken: 1) der poetische Idealismus, 2) das Romantische,
3) Göthe und Schiller in ihrem Verhältniß zur Antike, 4) Katholicismus und
Mittelalter, 5) Anfänge der historischen Poesie. Vorlesungen für ein gebildetes
Publikum, das immerhin Manches daraus lernen kann. Der Verfasser legt einen
ziemlich starken Accent darauf, daß mau uicht ungerecht gegen jene Schriftsteller
sein soll, er findet die dramatisirten Märchen von Tieck, sowie seine spätern No¬
vellen sehr zu loben, er tadelt es, daß' Rüge und Andere die ganze Schule auf
einen einzigen Begriff reducirt haben, und thut nachher doch dasselbe, indem er
sagt: "Die romantische Schule ist die Doctrin und Praxis der subjectiv auf sich
gestellte", gegenstandlosen, phantastischen Phantasie", was Rüge mit denselben


ren Erzählungen, in geradester Linie auf ihren Zweck los. Später vervollständigen
sie sich in der Chaumiere, im Salon und an der Börse. Sie gewinnen schnellen
Witz, Grazie und Kühnheit im Combiniren. Wir armen Deutschen! Bei unserer
Bildung geht die Philosophie über die historischen und exacten Wissenschaften hin¬
aus, trotz aller Schulen; es werden uns weite, complicirte, romantische Gesichts¬
punkte gegeben, ehe wir gelernt haben, die Dinge selber genau zu betrachten; in
unseren sog. deutschen Aufsätzen in der Schule hält man uns an, Dilettant zu wer¬
den, noch ehe es uns Freude macht; man treibt uns dazu, in dem formlosen
Dilettantismus unserer Göthe u. s. w. die wahre Höhe der Kunst zu ahnen, noch
ehe die Willkür uns ein wirkliches Wohlgefallen erregt. Später gilt der Beamte
mehr als der Kaufmann und der Industrielle, das Aufgeben des selbstständigen
Erwerbs, des selbstständigen Willens an einen außer uns liegenden Zweck höher,
als der gesunde Egoismus. Wir werden Münzen mit uniformem Gepräge. In den
Nebenstunden lassen wir uns Musik machen. Reichthum an Reflexionen, Reichthum
an Pflichten, Reichthum an Stüumungeu! Philosophie, Bureau, Musik! Dar¬
über ist uns der Humor uicht weniger verloren gegangen, als die Freiheit,




Zur antiromantischen Literatur.



Die romantische Schule in ihrem innern Zusammenhang mit Goethe und Schiller.
Von Hermann Hettner. Vraunschweig, Vieweg.

Der Verfasser erklärt im Vorwort seiner kleinen Schrift, sie solle keine eigent¬
liche Geschichte der Schule sein, sondern nur eine Vorstudie dazu. So verhält
es sich auch; nur wird der Vorstudie wohl keine wirkliche Geschichte folgen. Es
sind eben kritische Bemerkungen über einzelne Dichter der sogenannten romantischen
Schule, über Göthe und Schiller, sowie einige andere Schriftsteller jener Periode,
geordnet nach den Rubriken: 1) der poetische Idealismus, 2) das Romantische,
3) Göthe und Schiller in ihrem Verhältniß zur Antike, 4) Katholicismus und
Mittelalter, 5) Anfänge der historischen Poesie. Vorlesungen für ein gebildetes
Publikum, das immerhin Manches daraus lernen kann. Der Verfasser legt einen
ziemlich starken Accent darauf, daß mau uicht ungerecht gegen jene Schriftsteller
sein soll, er findet die dramatisirten Märchen von Tieck, sowie seine spätern No¬
vellen sehr zu loben, er tadelt es, daß' Rüge und Andere die ganze Schule auf
einen einzigen Begriff reducirt haben, und thut nachher doch dasselbe, indem er
sagt: „Die romantische Schule ist die Doctrin und Praxis der subjectiv auf sich
gestellte», gegenstandlosen, phantastischen Phantasie", was Rüge mit denselben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/135>, abgerufen am 24.07.2024.