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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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gang, enthalten viele incommeusurable Empfindungen, und sind fragmentarisch,
wie Mosaikarbeit entworfen; es treten jedesmal Personen aus, von denen man
nie erfährt, was sie sind und was sie wollen.

Damit ist unsere belletristische Literatur so ziemlich erschöpft. Wenn man es
also unserm armen Publikum verdenke, daß ihrem Herzensbedürfnis) ein solcher
Vorrath nicht genügt, so sollte man doch billig in Erwägung ziehn, daß der Pa¬
triotismus zwar viel vermag, aber Eines nicht: er vermag nicht, der Langeweile
zu widerstehn. Der französische Roman, so schlecht er sonst sein mag, versteht
wenigstens, uns in Spannung zu setzen; Feuer, Erfindung, Lebendigkeit werden
wir nie vermissen, wenn auch das Feuer ein Strohfeuer ist, wenn auch die Er¬
findung mit der naivsten Frechheit sich in Unmöglichkeiten ergeht, wenn auch die
Lebendigkeit etwas vom Polisson an sich hat. Bei dem Engländer dagegen finden
wir stets einen Reichthum an concreten, in der Regel mit humoristischer Anschaulich¬
keit dargestellten Figuren, ein gesundes, derbes, zuweilen cynisches, aber nie ver¬
schrobenes Leben, und Anschauungen und Vorstellungen, in denen Jeder sich hei¬
misch findet. Die Gemüthlichkeit des britischen Kaminfeuers wärmt die gesammte
englische Literatur.

So ist es bei den Irischen Novellen der Fall, die ich ungerechter Weise dazu
benutzt habe, den Lesern der Grenzboten einen Excurs über die Nichtsnutzigkeit
der deutschen Belletristik zu octroyiren. Wenn uns die deutschen Communisten von
Irland erzählen, so gewinnt man nur abstracte Begriffe von Elend, Hartherzig¬
keit und Verbrechen. Man nehme aber einmal Lever zur Hand -- nicht weniger
seine Vorgängerin Lady Morgan -- und man wird erstaunen, was für ein Schatz
von Gemüth, Drolligkeit und Schwänken in dieser verwahrlosten Stiefschwester
der stolzen Britannia zu finden ist. Vom Standpunkt des Staatsökonomen an¬
gesehen, ist Irland nichts als ein abschreckendes Beispiel, mischt mau sich aber
selber in diesen bunten Fasching, in dieses lärmende, betrunkene, aber doch in sei¬
ner Art glückselige Treiben, so wird man zu dem Gefühl kommen, daß die Leere,
Nüchternheit und Morosität unserer gesellschaftlichen Zustände nicht lediglich aus
der Verwahrlosung unserer politischen Zustände herzuleiten ist.

Zum Schluß möchte ich den Unterschied zwischen der Belletristik der drei Na¬
tionen noch auf die charakteristischen Bildungsmittel zurückführen, die bei jeder von
ihnen vorwiegen. Bei den Engländern ist es die philologisch-historische Erziehung,
die Politik, der Handel u'ut die Industrie. Der britische Dichter lernt von der
frühesten Jugend auf, gründlich auf das Detail eingehen; er findet dann Gele¬
genheit, überall mit Menschen zu verkehren, die einen autonomen Zweck und einen
in ihrer Lebensweise begründeten weiten Blick haben. Es wird ihm daher leicht,
charakteristische Gestalten zu schaffen, die ihr Recht in sich selber tragen. Bei der
Bildung der Franzosen herrscht die mathematische Richtung vor, selbst in ihrer
Sprache; sie räsonniren mit wenigstens äußerlicher Logik und gehen, auch in ih--


gang, enthalten viele incommeusurable Empfindungen, und sind fragmentarisch,
wie Mosaikarbeit entworfen; es treten jedesmal Personen aus, von denen man
nie erfährt, was sie sind und was sie wollen.

Damit ist unsere belletristische Literatur so ziemlich erschöpft. Wenn man es
also unserm armen Publikum verdenke, daß ihrem Herzensbedürfnis) ein solcher
Vorrath nicht genügt, so sollte man doch billig in Erwägung ziehn, daß der Pa¬
triotismus zwar viel vermag, aber Eines nicht: er vermag nicht, der Langeweile
zu widerstehn. Der französische Roman, so schlecht er sonst sein mag, versteht
wenigstens, uns in Spannung zu setzen; Feuer, Erfindung, Lebendigkeit werden
wir nie vermissen, wenn auch das Feuer ein Strohfeuer ist, wenn auch die Er¬
findung mit der naivsten Frechheit sich in Unmöglichkeiten ergeht, wenn auch die
Lebendigkeit etwas vom Polisson an sich hat. Bei dem Engländer dagegen finden
wir stets einen Reichthum an concreten, in der Regel mit humoristischer Anschaulich¬
keit dargestellten Figuren, ein gesundes, derbes, zuweilen cynisches, aber nie ver¬
schrobenes Leben, und Anschauungen und Vorstellungen, in denen Jeder sich hei¬
misch findet. Die Gemüthlichkeit des britischen Kaminfeuers wärmt die gesammte
englische Literatur.

So ist es bei den Irischen Novellen der Fall, die ich ungerechter Weise dazu
benutzt habe, den Lesern der Grenzboten einen Excurs über die Nichtsnutzigkeit
der deutschen Belletristik zu octroyiren. Wenn uns die deutschen Communisten von
Irland erzählen, so gewinnt man nur abstracte Begriffe von Elend, Hartherzig¬
keit und Verbrechen. Man nehme aber einmal Lever zur Hand — nicht weniger
seine Vorgängerin Lady Morgan — und man wird erstaunen, was für ein Schatz
von Gemüth, Drolligkeit und Schwänken in dieser verwahrlosten Stiefschwester
der stolzen Britannia zu finden ist. Vom Standpunkt des Staatsökonomen an¬
gesehen, ist Irland nichts als ein abschreckendes Beispiel, mischt mau sich aber
selber in diesen bunten Fasching, in dieses lärmende, betrunkene, aber doch in sei¬
ner Art glückselige Treiben, so wird man zu dem Gefühl kommen, daß die Leere,
Nüchternheit und Morosität unserer gesellschaftlichen Zustände nicht lediglich aus
der Verwahrlosung unserer politischen Zustände herzuleiten ist.

Zum Schluß möchte ich den Unterschied zwischen der Belletristik der drei Na¬
tionen noch auf die charakteristischen Bildungsmittel zurückführen, die bei jeder von
ihnen vorwiegen. Bei den Engländern ist es die philologisch-historische Erziehung,
die Politik, der Handel u'ut die Industrie. Der britische Dichter lernt von der
frühesten Jugend auf, gründlich auf das Detail eingehen; er findet dann Gele¬
genheit, überall mit Menschen zu verkehren, die einen autonomen Zweck und einen
in ihrer Lebensweise begründeten weiten Blick haben. Es wird ihm daher leicht,
charakteristische Gestalten zu schaffen, die ihr Recht in sich selber tragen. Bei der
Bildung der Franzosen herrscht die mathematische Richtung vor, selbst in ihrer
Sprache; sie räsonniren mit wenigstens äußerlicher Logik und gehen, auch in ih--


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[0134] gang, enthalten viele incommeusurable Empfindungen, und sind fragmentarisch, wie Mosaikarbeit entworfen; es treten jedesmal Personen aus, von denen man nie erfährt, was sie sind und was sie wollen. Damit ist unsere belletristische Literatur so ziemlich erschöpft. Wenn man es also unserm armen Publikum verdenke, daß ihrem Herzensbedürfnis) ein solcher Vorrath nicht genügt, so sollte man doch billig in Erwägung ziehn, daß der Pa¬ triotismus zwar viel vermag, aber Eines nicht: er vermag nicht, der Langeweile zu widerstehn. Der französische Roman, so schlecht er sonst sein mag, versteht wenigstens, uns in Spannung zu setzen; Feuer, Erfindung, Lebendigkeit werden wir nie vermissen, wenn auch das Feuer ein Strohfeuer ist, wenn auch die Er¬ findung mit der naivsten Frechheit sich in Unmöglichkeiten ergeht, wenn auch die Lebendigkeit etwas vom Polisson an sich hat. Bei dem Engländer dagegen finden wir stets einen Reichthum an concreten, in der Regel mit humoristischer Anschaulich¬ keit dargestellten Figuren, ein gesundes, derbes, zuweilen cynisches, aber nie ver¬ schrobenes Leben, und Anschauungen und Vorstellungen, in denen Jeder sich hei¬ misch findet. Die Gemüthlichkeit des britischen Kaminfeuers wärmt die gesammte englische Literatur. So ist es bei den Irischen Novellen der Fall, die ich ungerechter Weise dazu benutzt habe, den Lesern der Grenzboten einen Excurs über die Nichtsnutzigkeit der deutschen Belletristik zu octroyiren. Wenn uns die deutschen Communisten von Irland erzählen, so gewinnt man nur abstracte Begriffe von Elend, Hartherzig¬ keit und Verbrechen. Man nehme aber einmal Lever zur Hand — nicht weniger seine Vorgängerin Lady Morgan — und man wird erstaunen, was für ein Schatz von Gemüth, Drolligkeit und Schwänken in dieser verwahrlosten Stiefschwester der stolzen Britannia zu finden ist. Vom Standpunkt des Staatsökonomen an¬ gesehen, ist Irland nichts als ein abschreckendes Beispiel, mischt mau sich aber selber in diesen bunten Fasching, in dieses lärmende, betrunkene, aber doch in sei¬ ner Art glückselige Treiben, so wird man zu dem Gefühl kommen, daß die Leere, Nüchternheit und Morosität unserer gesellschaftlichen Zustände nicht lediglich aus der Verwahrlosung unserer politischen Zustände herzuleiten ist. Zum Schluß möchte ich den Unterschied zwischen der Belletristik der drei Na¬ tionen noch auf die charakteristischen Bildungsmittel zurückführen, die bei jeder von ihnen vorwiegen. Bei den Engländern ist es die philologisch-historische Erziehung, die Politik, der Handel u'ut die Industrie. Der britische Dichter lernt von der frühesten Jugend auf, gründlich auf das Detail eingehen; er findet dann Gele¬ genheit, überall mit Menschen zu verkehren, die einen autonomen Zweck und einen in ihrer Lebensweise begründeten weiten Blick haben. Es wird ihm daher leicht, charakteristische Gestalten zu schaffen, die ihr Recht in sich selber tragen. Bei der Bildung der Franzosen herrscht die mathematische Richtung vor, selbst in ihrer Sprache; sie räsonniren mit wenigstens äußerlicher Logik und gehen, auch in ih--

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/134>, abgerufen am 24.07.2024.