Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

welchen ich theils Theilnehmer war, theils vollkommen glaubwürdige Quellen habe,
zusammenstellen und meine Ueberzeugung hinzufügen, die vielleicht bestritten werden,
aber darum nicht minder zur Ermittelung einer bessern führen dürste. Zu diesem
Behufe wird es nöthig sein, Ihre Leser mit den Pesther Zuständen unmittelbar
vor dem letzten Abzuge der Kossuth'schen Regierung bekannt zu machen.

Schon als Kossuth mit dem Ministerium von Debreczin nach Pesth übersie¬
delte, also gleich nach der Erstürmung Ofens, waren es hauptsächlich zwei Um¬
stände, welche die Tagespresse und die geängstigten Gemüther in gleichem Maße
beunruhigten. Die russische Intervention und die Stellung Görgey's zur Natio-
nalregierung.

Was die erstere betrifft, so wurde sie nur von dem reaktionären Elemente in
dem Pesther Bürgerthum als Gespenst zur Entmuthigung der Bevölkerung aus¬
gebeutet. Der treuherzige Sinn der untern Volksschichten wurde nur wenig vom
Nussenfieber angesteckt, mit dem Steigen und der Verwirklichung der Gefahr stieg
auch die Begeisterung und die Bereitwilligkeit des Volkes, sein Alles (und was
hat das arme Volk mehr als sein Leben?) dem bedrohten Vaterlande zu opfern. --
Die Regierung, die diese strotzenden Kräfte nur zu orgauistren brauchte, um sie
zu einer mächtigen Schutzmauer des Vaterlandes auszubilden, füllte die Spalten
ihres Organs "Közlöny" mit Verordnungen zu Gebeten, Bußtagen und Prozessto¬
nen; forderte das Volk im Allgemeinen zum bewaffneten Widerstand auf,
ohne im Mindesten die Massen zu regeln, die sich aus alle" Theilen deö Vater¬
landes zur Theilnahme an dem ausgeschriebenen Kreuzzuge herandrängten. Das
Allgemeine sührt zur Verflachung: was Nutzen bringen soll, muß detaillirt werden.
Der Bauer wetzte seine Sense, der Taglöhner seinen Spaten, der Handwerker
seinen Spieß oder sein Messer, ohne das Fähnlein zu sehen, unter das er sich
reihen, ohne Ort oder Richtung zu wissen, wohin er seine Waffe und sein Leben
tragen sollte, ja ohne selbst zu wissen, ob denn wirklich dem Vaterlande Gefahr
drohe. Noch nie hat ein Volk solche Begeisterung und solchen Thatenwillcn an
den Tag gelegt; aber auch noch nie wurden diese so vernachlässigt als vom Mini¬
sterium Szcmere. Die Presse erhob sich in Masse (mit sehr unbedeutender Aus¬
nahme) gegen die Thatlosigkeit der Negierung, aber sie konnte gegen die Verkehrtheit
des Ministeriums nicht durchdringen; einige Journale wurden sogar von diesem mit
Suspension bedroht und diese an einem derselben ausgeführt. Das ministerielle
Közlöny ließ von seinem Skepticismus über die Intervention der Russen selbst
dann nicht nach, als diese schon Kaschau besetzt hatten *). Endlich wurde durch die



*) Wie dieser Skepticismus mit den aufeinanderfolgenden Ausrufer vom Gouverneur, dem
Ministerium und der Nationalversammlung zum allgemeinen Kreuzzuge gegen die "Feinde der
Civilisation, der Religion und Freiheit" sich vertragen mag, ist uns Herr Szemere noch jetzt
zu erklären schuldig. Anm. d. Eins.
Grenzboien. i. 18S0. 1Z

welchen ich theils Theilnehmer war, theils vollkommen glaubwürdige Quellen habe,
zusammenstellen und meine Ueberzeugung hinzufügen, die vielleicht bestritten werden,
aber darum nicht minder zur Ermittelung einer bessern führen dürste. Zu diesem
Behufe wird es nöthig sein, Ihre Leser mit den Pesther Zuständen unmittelbar
vor dem letzten Abzuge der Kossuth'schen Regierung bekannt zu machen.

Schon als Kossuth mit dem Ministerium von Debreczin nach Pesth übersie¬
delte, also gleich nach der Erstürmung Ofens, waren es hauptsächlich zwei Um¬
stände, welche die Tagespresse und die geängstigten Gemüther in gleichem Maße
beunruhigten. Die russische Intervention und die Stellung Görgey's zur Natio-
nalregierung.

Was die erstere betrifft, so wurde sie nur von dem reaktionären Elemente in
dem Pesther Bürgerthum als Gespenst zur Entmuthigung der Bevölkerung aus¬
gebeutet. Der treuherzige Sinn der untern Volksschichten wurde nur wenig vom
Nussenfieber angesteckt, mit dem Steigen und der Verwirklichung der Gefahr stieg
auch die Begeisterung und die Bereitwilligkeit des Volkes, sein Alles (und was
hat das arme Volk mehr als sein Leben?) dem bedrohten Vaterlande zu opfern. —
Die Regierung, die diese strotzenden Kräfte nur zu orgauistren brauchte, um sie
zu einer mächtigen Schutzmauer des Vaterlandes auszubilden, füllte die Spalten
ihres Organs „Közlöny" mit Verordnungen zu Gebeten, Bußtagen und Prozessto¬
nen; forderte das Volk im Allgemeinen zum bewaffneten Widerstand auf,
ohne im Mindesten die Massen zu regeln, die sich aus alle» Theilen deö Vater¬
landes zur Theilnahme an dem ausgeschriebenen Kreuzzuge herandrängten. Das
Allgemeine sührt zur Verflachung: was Nutzen bringen soll, muß detaillirt werden.
Der Bauer wetzte seine Sense, der Taglöhner seinen Spaten, der Handwerker
seinen Spieß oder sein Messer, ohne das Fähnlein zu sehen, unter das er sich
reihen, ohne Ort oder Richtung zu wissen, wohin er seine Waffe und sein Leben
tragen sollte, ja ohne selbst zu wissen, ob denn wirklich dem Vaterlande Gefahr
drohe. Noch nie hat ein Volk solche Begeisterung und solchen Thatenwillcn an
den Tag gelegt; aber auch noch nie wurden diese so vernachlässigt als vom Mini¬
sterium Szcmere. Die Presse erhob sich in Masse (mit sehr unbedeutender Aus¬
nahme) gegen die Thatlosigkeit der Negierung, aber sie konnte gegen die Verkehrtheit
des Ministeriums nicht durchdringen; einige Journale wurden sogar von diesem mit
Suspension bedroht und diese an einem derselben ausgeführt. Das ministerielle
Közlöny ließ von seinem Skepticismus über die Intervention der Russen selbst
dann nicht nach, als diese schon Kaschau besetzt hatten *). Endlich wurde durch die



*) Wie dieser Skepticismus mit den aufeinanderfolgenden Ausrufer vom Gouverneur, dem
Ministerium und der Nationalversammlung zum allgemeinen Kreuzzuge gegen die „Feinde der
Civilisation, der Religion und Freiheit" sich vertragen mag, ist uns Herr Szemere noch jetzt
zu erklären schuldig. Anm. d. Eins.
Grenzboien. i. 18S0. 1Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92928"/>
            <p xml:id="ID_332" prev="#ID_331"> welchen ich theils Theilnehmer war, theils vollkommen glaubwürdige Quellen habe,<lb/>
zusammenstellen und meine Ueberzeugung hinzufügen, die vielleicht bestritten werden,<lb/>
aber darum nicht minder zur Ermittelung einer bessern führen dürste. Zu diesem<lb/>
Behufe wird es nöthig sein, Ihre Leser mit den Pesther Zuständen unmittelbar<lb/>
vor dem letzten Abzuge der Kossuth'schen Regierung bekannt zu machen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_333"> Schon als Kossuth mit dem Ministerium von Debreczin nach Pesth übersie¬<lb/>
delte, also gleich nach der Erstürmung Ofens, waren es hauptsächlich zwei Um¬<lb/>
stände, welche die Tagespresse und die geängstigten Gemüther in gleichem Maße<lb/>
beunruhigten. Die russische Intervention und die Stellung Görgey's zur Natio-<lb/>
nalregierung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_334" next="#ID_335"> Was die erstere betrifft, so wurde sie nur von dem reaktionären Elemente in<lb/>
dem Pesther Bürgerthum als Gespenst zur Entmuthigung der Bevölkerung aus¬<lb/>
gebeutet. Der treuherzige Sinn der untern Volksschichten wurde nur wenig vom<lb/>
Nussenfieber angesteckt, mit dem Steigen und der Verwirklichung der Gefahr stieg<lb/>
auch die Begeisterung und die Bereitwilligkeit des Volkes, sein Alles (und was<lb/>
hat das arme Volk mehr als sein Leben?) dem bedrohten Vaterlande zu opfern. &#x2014;<lb/>
Die Regierung, die diese strotzenden Kräfte nur zu orgauistren brauchte, um sie<lb/>
zu einer mächtigen Schutzmauer des Vaterlandes auszubilden, füllte die Spalten<lb/>
ihres Organs &#x201E;Közlöny" mit Verordnungen zu Gebeten, Bußtagen und Prozessto¬<lb/>
nen; forderte das Volk im Allgemeinen zum bewaffneten Widerstand auf,<lb/>
ohne im Mindesten die Massen zu regeln, die sich aus alle» Theilen deö Vater¬<lb/>
landes zur Theilnahme an dem ausgeschriebenen Kreuzzuge herandrängten. Das<lb/>
Allgemeine sührt zur Verflachung: was Nutzen bringen soll, muß detaillirt werden.<lb/>
Der Bauer wetzte seine Sense, der Taglöhner seinen Spaten, der Handwerker<lb/>
seinen Spieß oder sein Messer, ohne das Fähnlein zu sehen, unter das er sich<lb/>
reihen, ohne Ort oder Richtung zu wissen, wohin er seine Waffe und sein Leben<lb/>
tragen sollte, ja ohne selbst zu wissen, ob denn wirklich dem Vaterlande Gefahr<lb/>
drohe. Noch nie hat ein Volk solche Begeisterung und solchen Thatenwillcn an<lb/>
den Tag gelegt; aber auch noch nie wurden diese so vernachlässigt als vom Mini¬<lb/>
sterium Szcmere. Die Presse erhob sich in Masse (mit sehr unbedeutender Aus¬<lb/>
nahme) gegen die Thatlosigkeit der Negierung, aber sie konnte gegen die Verkehrtheit<lb/>
des Ministeriums nicht durchdringen; einige Journale wurden sogar von diesem mit<lb/>
Suspension bedroht und diese an einem derselben ausgeführt. Das ministerielle<lb/>
Közlöny ließ von seinem Skepticismus über die Intervention der Russen selbst<lb/>
dann nicht nach, als diese schon Kaschau besetzt hatten *). Endlich wurde durch die</p><lb/>
            <note xml:id="FID_6" place="foot"> *) Wie dieser Skepticismus mit den aufeinanderfolgenden Ausrufer vom Gouverneur, dem<lb/>
Ministerium und der Nationalversammlung zum allgemeinen Kreuzzuge gegen die &#x201E;Feinde der<lb/>
Civilisation, der Religion und Freiheit" sich vertragen mag, ist uns Herr Szemere noch jetzt<lb/>
zu erklären schuldig. Anm. d. Eins.</note><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboien. i. 18S0. 1Z</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] welchen ich theils Theilnehmer war, theils vollkommen glaubwürdige Quellen habe, zusammenstellen und meine Ueberzeugung hinzufügen, die vielleicht bestritten werden, aber darum nicht minder zur Ermittelung einer bessern führen dürste. Zu diesem Behufe wird es nöthig sein, Ihre Leser mit den Pesther Zuständen unmittelbar vor dem letzten Abzuge der Kossuth'schen Regierung bekannt zu machen. Schon als Kossuth mit dem Ministerium von Debreczin nach Pesth übersie¬ delte, also gleich nach der Erstürmung Ofens, waren es hauptsächlich zwei Um¬ stände, welche die Tagespresse und die geängstigten Gemüther in gleichem Maße beunruhigten. Die russische Intervention und die Stellung Görgey's zur Natio- nalregierung. Was die erstere betrifft, so wurde sie nur von dem reaktionären Elemente in dem Pesther Bürgerthum als Gespenst zur Entmuthigung der Bevölkerung aus¬ gebeutet. Der treuherzige Sinn der untern Volksschichten wurde nur wenig vom Nussenfieber angesteckt, mit dem Steigen und der Verwirklichung der Gefahr stieg auch die Begeisterung und die Bereitwilligkeit des Volkes, sein Alles (und was hat das arme Volk mehr als sein Leben?) dem bedrohten Vaterlande zu opfern. — Die Regierung, die diese strotzenden Kräfte nur zu orgauistren brauchte, um sie zu einer mächtigen Schutzmauer des Vaterlandes auszubilden, füllte die Spalten ihres Organs „Közlöny" mit Verordnungen zu Gebeten, Bußtagen und Prozessto¬ nen; forderte das Volk im Allgemeinen zum bewaffneten Widerstand auf, ohne im Mindesten die Massen zu regeln, die sich aus alle» Theilen deö Vater¬ landes zur Theilnahme an dem ausgeschriebenen Kreuzzuge herandrängten. Das Allgemeine sührt zur Verflachung: was Nutzen bringen soll, muß detaillirt werden. Der Bauer wetzte seine Sense, der Taglöhner seinen Spaten, der Handwerker seinen Spieß oder sein Messer, ohne das Fähnlein zu sehen, unter das er sich reihen, ohne Ort oder Richtung zu wissen, wohin er seine Waffe und sein Leben tragen sollte, ja ohne selbst zu wissen, ob denn wirklich dem Vaterlande Gefahr drohe. Noch nie hat ein Volk solche Begeisterung und solchen Thatenwillcn an den Tag gelegt; aber auch noch nie wurden diese so vernachlässigt als vom Mini¬ sterium Szcmere. Die Presse erhob sich in Masse (mit sehr unbedeutender Aus¬ nahme) gegen die Thatlosigkeit der Negierung, aber sie konnte gegen die Verkehrtheit des Ministeriums nicht durchdringen; einige Journale wurden sogar von diesem mit Suspension bedroht und diese an einem derselben ausgeführt. Das ministerielle Közlöny ließ von seinem Skepticismus über die Intervention der Russen selbst dann nicht nach, als diese schon Kaschau besetzt hatten *). Endlich wurde durch die *) Wie dieser Skepticismus mit den aufeinanderfolgenden Ausrufer vom Gouverneur, dem Ministerium und der Nationalversammlung zum allgemeinen Kreuzzuge gegen die „Feinde der Civilisation, der Religion und Freiheit" sich vertragen mag, ist uns Herr Szemere noch jetzt zu erklären schuldig. Anm. d. Eins. Grenzboien. i. 18S0. 1Z

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/105
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/105>, abgerufen am 24.07.2024.