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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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ditwn unverständlich ist, bei der Übertragung einer Religion von dem einen Volk
ans das andere reiner und vollständiger überliefert wird, als der ethische Gehalt
der Sagen und Lehrsätze, den jedes Volk nach seiner Indwidnalität sich entweder
selbstschöpferisch bildet, oder, wenn es ihn von Außen her empfängt, ihn modificirt.
So wird sich z. B. in der Mythologie der Griechen und Römer, die wir in ihrer
höhern Ausbildung nur durch die Dichter kennen, und die für uns daher einen
lediglich ethischen Inhalt haben, bei genauerem Studium, innerhalb dieser Mythen
und neben ihnen, ein kosmisches Moment oorftudeu, welches ihnen wahrscheinlich
von einem ausgebildeteren naturalistischen System, z. B. dem ägyptischen, über¬
liefert ist.

So wird sich anch in den Festen der christlichen Welt, wie in einzelnen
Dogmen und Legenden dieser aus dem Heidenthum .herzuleitende Ursprung
nachweisen lassen, ohne daß dadurch die wesentlich spiritualistische Bedeutung des
Christenthums irgendwie verkümmert würde. -- Es wäre für den Forscher, der
an Detailarbeit Vergnügen findet, von großem Interesse, diese Scheidung im
Einzelnen durchzuführen, nnr gehört da^u neben einer umfassenden, wahrhaft un¬
geheuern Gelehrsamkeit eine ängstliche, mühsame Geduld, die anch die kleinste
Rechnung nicht abschließt, ohne nach allen Seiten hin Probe zu machen; und
selbst wenn diese Bedingung erfüllt wird, wäre es zweifelhaft, ob sich ein glän¬
zendes und zugleich unumstößliches Resultat ergeben würde. -- Im Gegentheil
charakterisirt die Forscher nach dieser Richtung hiu -- die Creicher, Görres,
Schubert u. s. w. -- abgesehen von der trüben Mystik, in die sie gewöhnlich
verfallen, eine wahrhaft fieberhafte Ungeduld, die sich mit dem Abschluß der
Rechnung übereilt, und darum sehr schnelle, blendende, aber keine dauerhaften
Resultate gewinnt. Außerdem entspringt aus dem Chaotischen des Stoffs ge¬
wöhnlich eine Regellosigkeit, ein unorganisches Ueberspringen ans dem einen
Gebiet in das andere, welches das Studium und die Kritik sehr erschwert, nament¬
lich, seitdem die vergleichende Sprachkunde sich zur Geltung gebracht hat, und
man sich berechtigt glaubt, sobald im Sanskrit oder im Chinesischen ein Wort,
wenn auch uur ganz undeutlich, all ein ebräisches erinnert, darauf sogleich die
wunderbarsten Schlüsse zu bauen. -- Doch wie gesagt,^ sollen diese Bemerkungen
nur als vorläufig gelten. --

Die übrigen Schriften stehen sich ihrem Inhalt und ihrer Tendenz nach
näher. -- Am weitesten links steht der "deutsche Theologe." Er findet in
Strauß einen Fortschritt gegen Hegel, in Feuerbach einen Fortschritt gegen Strauß,
in Rüge eiiieil Fortschritt gegell Feilerbach, in Noak einen Fortschritt gegen
Rüge. Diesen Standpunkt hält er in seiner Geschichte der verschiedenen Reli-



Man vergleiche meine Kritik von Noak'ez Wesen des Christenthums in Heft ?4 und
einigen ähnlichen Erscheimmgcn in Heft 38.
Grenzboten. IV. 18ö0. 75

ditwn unverständlich ist, bei der Übertragung einer Religion von dem einen Volk
ans das andere reiner und vollständiger überliefert wird, als der ethische Gehalt
der Sagen und Lehrsätze, den jedes Volk nach seiner Indwidnalität sich entweder
selbstschöpferisch bildet, oder, wenn es ihn von Außen her empfängt, ihn modificirt.
So wird sich z. B. in der Mythologie der Griechen und Römer, die wir in ihrer
höhern Ausbildung nur durch die Dichter kennen, und die für uns daher einen
lediglich ethischen Inhalt haben, bei genauerem Studium, innerhalb dieser Mythen
und neben ihnen, ein kosmisches Moment oorftudeu, welches ihnen wahrscheinlich
von einem ausgebildeteren naturalistischen System, z. B. dem ägyptischen, über¬
liefert ist.

So wird sich anch in den Festen der christlichen Welt, wie in einzelnen
Dogmen und Legenden dieser aus dem Heidenthum .herzuleitende Ursprung
nachweisen lassen, ohne daß dadurch die wesentlich spiritualistische Bedeutung des
Christenthums irgendwie verkümmert würde. — Es wäre für den Forscher, der
an Detailarbeit Vergnügen findet, von großem Interesse, diese Scheidung im
Einzelnen durchzuführen, nnr gehört da^u neben einer umfassenden, wahrhaft un¬
geheuern Gelehrsamkeit eine ängstliche, mühsame Geduld, die anch die kleinste
Rechnung nicht abschließt, ohne nach allen Seiten hin Probe zu machen; und
selbst wenn diese Bedingung erfüllt wird, wäre es zweifelhaft, ob sich ein glän¬
zendes und zugleich unumstößliches Resultat ergeben würde. — Im Gegentheil
charakterisirt die Forscher nach dieser Richtung hiu — die Creicher, Görres,
Schubert u. s. w. — abgesehen von der trüben Mystik, in die sie gewöhnlich
verfallen, eine wahrhaft fieberhafte Ungeduld, die sich mit dem Abschluß der
Rechnung übereilt, und darum sehr schnelle, blendende, aber keine dauerhaften
Resultate gewinnt. Außerdem entspringt aus dem Chaotischen des Stoffs ge¬
wöhnlich eine Regellosigkeit, ein unorganisches Ueberspringen ans dem einen
Gebiet in das andere, welches das Studium und die Kritik sehr erschwert, nament¬
lich, seitdem die vergleichende Sprachkunde sich zur Geltung gebracht hat, und
man sich berechtigt glaubt, sobald im Sanskrit oder im Chinesischen ein Wort,
wenn auch uur ganz undeutlich, all ein ebräisches erinnert, darauf sogleich die
wunderbarsten Schlüsse zu bauen. — Doch wie gesagt,^ sollen diese Bemerkungen
nur als vorläufig gelten. —

Die übrigen Schriften stehen sich ihrem Inhalt und ihrer Tendenz nach
näher. — Am weitesten links steht der „deutsche Theologe." Er findet in
Strauß einen Fortschritt gegen Hegel, in Feuerbach einen Fortschritt gegen Strauß,
in Rüge eiiieil Fortschritt gegell Feilerbach, in Noak einen Fortschritt gegen
Rüge. Diesen Standpunkt hält er in seiner Geschichte der verschiedenen Reli-



Man vergleiche meine Kritik von Noak'ez Wesen des Christenthums in Heft ?4 und
einigen ähnlichen Erscheimmgcn in Heft 38.
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[0081] ditwn unverständlich ist, bei der Übertragung einer Religion von dem einen Volk ans das andere reiner und vollständiger überliefert wird, als der ethische Gehalt der Sagen und Lehrsätze, den jedes Volk nach seiner Indwidnalität sich entweder selbstschöpferisch bildet, oder, wenn es ihn von Außen her empfängt, ihn modificirt. So wird sich z. B. in der Mythologie der Griechen und Römer, die wir in ihrer höhern Ausbildung nur durch die Dichter kennen, und die für uns daher einen lediglich ethischen Inhalt haben, bei genauerem Studium, innerhalb dieser Mythen und neben ihnen, ein kosmisches Moment oorftudeu, welches ihnen wahrscheinlich von einem ausgebildeteren naturalistischen System, z. B. dem ägyptischen, über¬ liefert ist. So wird sich anch in den Festen der christlichen Welt, wie in einzelnen Dogmen und Legenden dieser aus dem Heidenthum .herzuleitende Ursprung nachweisen lassen, ohne daß dadurch die wesentlich spiritualistische Bedeutung des Christenthums irgendwie verkümmert würde. — Es wäre für den Forscher, der an Detailarbeit Vergnügen findet, von großem Interesse, diese Scheidung im Einzelnen durchzuführen, nnr gehört da^u neben einer umfassenden, wahrhaft un¬ geheuern Gelehrsamkeit eine ängstliche, mühsame Geduld, die anch die kleinste Rechnung nicht abschließt, ohne nach allen Seiten hin Probe zu machen; und selbst wenn diese Bedingung erfüllt wird, wäre es zweifelhaft, ob sich ein glän¬ zendes und zugleich unumstößliches Resultat ergeben würde. — Im Gegentheil charakterisirt die Forscher nach dieser Richtung hiu — die Creicher, Görres, Schubert u. s. w. — abgesehen von der trüben Mystik, in die sie gewöhnlich verfallen, eine wahrhaft fieberhafte Ungeduld, die sich mit dem Abschluß der Rechnung übereilt, und darum sehr schnelle, blendende, aber keine dauerhaften Resultate gewinnt. Außerdem entspringt aus dem Chaotischen des Stoffs ge¬ wöhnlich eine Regellosigkeit, ein unorganisches Ueberspringen ans dem einen Gebiet in das andere, welches das Studium und die Kritik sehr erschwert, nament¬ lich, seitdem die vergleichende Sprachkunde sich zur Geltung gebracht hat, und man sich berechtigt glaubt, sobald im Sanskrit oder im Chinesischen ein Wort, wenn auch uur ganz undeutlich, all ein ebräisches erinnert, darauf sogleich die wunderbarsten Schlüsse zu bauen. — Doch wie gesagt,^ sollen diese Bemerkungen nur als vorläufig gelten. — Die übrigen Schriften stehen sich ihrem Inhalt und ihrer Tendenz nach näher. — Am weitesten links steht der „deutsche Theologe." Er findet in Strauß einen Fortschritt gegen Hegel, in Feuerbach einen Fortschritt gegen Strauß, in Rüge eiiieil Fortschritt gegell Feilerbach, in Noak einen Fortschritt gegen Rüge. Diesen Standpunkt hält er in seiner Geschichte der verschiedenen Reli- Man vergleiche meine Kritik von Noak'ez Wesen des Christenthums in Heft ?4 und einigen ähnlichen Erscheimmgcn in Heft 38. Grenzboten. IV. 18ö0. 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/81>, abgerufen am 25.08.2024.