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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Um ein historicheS Drama zu schreiben, müsse man also vorher nicht blos das
Costüm und die Gebräuche, sondern die Geschichte und die sittlichen Verhältnisse
der Zeit, welche man schildern wolle, genau studiren. Von diesem Princip aus¬
gehend, beginnt er jede Kritik eiues historischen Stücks mit der Exposition der
geschichtlichen Grundlage, um davou den Maßstab seines Urtheils zu entlehnen.
Er treibt diese Methode zuweilen bis zur Pedanterie, indem er z. B. das jüngste Er¬
zeugnis; der Scribe'schen Muse, leg eoriws c>6 1a remo 6e ^avarrs, welches, wie alle
historischen Lustspiele dieses bürgerliche Dichters, eigentlich unter dem constitutionellen
Regiment der Julidynastie spielt, einer ernsthaften historischen Kritik unterwirft.

Auch dieses Princip wird, einseitig verfolgt, sich als unzureichend bewähren.
Man kauu ein gutes historisches Stück schreiben, ohne gründliches Studium der
geschilderten Zeit, und umgekehrt. Es kommt darauf an, daß der Dichter mit
einem richtigen und schnellen Blick für das Wesentliche ausgestattet ist. Planche
thut daher nicht selten den romantischen Dichtern Unrecht. Ich habe selber in
meiner Kritik Victor Hugo's nachzuweisen gesucht, daß diesen! Dichter die beiden
ersten Erfordernisse der Kunst abgehen: Wahrheit und Schönheit. Es ist aber
trotzdem nicht zu verkennen, daß seiue Darstellung in gewisser Beziehung einen
Fortschritt gegen die Napoleonische Periode enthält. Er hat die Convenienz in
der Sprache, die Convenienz in der Mischung der verschiedenen Elemente, welche
einen Charakter ausmachen, aufgehoben. Nehmen wir z. B. eiues seiner Stücke,
das keineswegs das beste ist, Marie Tndor. Die Geschwätzigkeit, mit der diese
Königin ihrer Leidenschaft freien Lauf läßt, ist weder schön noch poetisch wahr,
denn sie widerspricht den Gewohnheiten ihres Standes; dennoch ist dieses Be¬
streben, die Sprünge eines heißblütigen Gemüths im Detail zu empfinden und sie
in volksthümlichen Ausdruck wiederzugeben, ein nothwendiger Durchgangspunkt
zur idealen dramatischen Gestaltung. In einer Zeit des Uebergangs ist die Kritik
im Unrecht, welche nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade anch der bloßen
Tendenz Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Darum ist auch mit der einseitigen Rückkehr zu der alten, freilich ebenso
einseitig überwundenen Form uoch nichts gewonnen. Unter den modernen Dichtern,
die das versucht haben, hat Pousard den größten, aber keineswegs gerechtfertigten
Erfolg davongetragen. Daß er die Zerstreutheiten der romantischen Schule, die
beständigen Abschweifungen in Details, die uicht zur Sache gehören, die Anhäu-
fung von originellen Figuren, die uicht im Verhältniß zu deu durch sie ausge-
drückten Ideen steheu, vermeidet, daß er die Handlung in wenig Personen und in
einfache Begebenheiten concentrirt, ist nur zu loben; aber gerade in dieser Ein¬
fachheit tritt anch der Mangel an derjenigen Kraft, welche eigentlich den Drama¬
tiker macht, um so empfindlicher hervor. Seine drei Stücke: I.uoreee, ^xnss 6e
Asi-amie und OKai-Jolo col-co^, welche den drei Hauptperiodeu der Geschichte
entnommen sind, haben durch den Reiz der Neuheit imponirt; sie können aber


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Um ein historicheS Drama zu schreiben, müsse man also vorher nicht blos das
Costüm und die Gebräuche, sondern die Geschichte und die sittlichen Verhältnisse
der Zeit, welche man schildern wolle, genau studiren. Von diesem Princip aus¬
gehend, beginnt er jede Kritik eiues historischen Stücks mit der Exposition der
geschichtlichen Grundlage, um davou den Maßstab seines Urtheils zu entlehnen.
Er treibt diese Methode zuweilen bis zur Pedanterie, indem er z. B. das jüngste Er¬
zeugnis; der Scribe'schen Muse, leg eoriws c>6 1a remo 6e ^avarrs, welches, wie alle
historischen Lustspiele dieses bürgerliche Dichters, eigentlich unter dem constitutionellen
Regiment der Julidynastie spielt, einer ernsthaften historischen Kritik unterwirft.

Auch dieses Princip wird, einseitig verfolgt, sich als unzureichend bewähren.
Man kauu ein gutes historisches Stück schreiben, ohne gründliches Studium der
geschilderten Zeit, und umgekehrt. Es kommt darauf an, daß der Dichter mit
einem richtigen und schnellen Blick für das Wesentliche ausgestattet ist. Planche
thut daher nicht selten den romantischen Dichtern Unrecht. Ich habe selber in
meiner Kritik Victor Hugo's nachzuweisen gesucht, daß diesen! Dichter die beiden
ersten Erfordernisse der Kunst abgehen: Wahrheit und Schönheit. Es ist aber
trotzdem nicht zu verkennen, daß seiue Darstellung in gewisser Beziehung einen
Fortschritt gegen die Napoleonische Periode enthält. Er hat die Convenienz in
der Sprache, die Convenienz in der Mischung der verschiedenen Elemente, welche
einen Charakter ausmachen, aufgehoben. Nehmen wir z. B. eiues seiner Stücke,
das keineswegs das beste ist, Marie Tndor. Die Geschwätzigkeit, mit der diese
Königin ihrer Leidenschaft freien Lauf läßt, ist weder schön noch poetisch wahr,
denn sie widerspricht den Gewohnheiten ihres Standes; dennoch ist dieses Be¬
streben, die Sprünge eines heißblütigen Gemüths im Detail zu empfinden und sie
in volksthümlichen Ausdruck wiederzugeben, ein nothwendiger Durchgangspunkt
zur idealen dramatischen Gestaltung. In einer Zeit des Uebergangs ist die Kritik
im Unrecht, welche nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade anch der bloßen
Tendenz Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Darum ist auch mit der einseitigen Rückkehr zu der alten, freilich ebenso
einseitig überwundenen Form uoch nichts gewonnen. Unter den modernen Dichtern,
die das versucht haben, hat Pousard den größten, aber keineswegs gerechtfertigten
Erfolg davongetragen. Daß er die Zerstreutheiten der romantischen Schule, die
beständigen Abschweifungen in Details, die uicht zur Sache gehören, die Anhäu-
fung von originellen Figuren, die uicht im Verhältniß zu deu durch sie ausge-
drückten Ideen steheu, vermeidet, daß er die Handlung in wenig Personen und in
einfache Begebenheiten concentrirt, ist nur zu loben; aber gerade in dieser Ein¬
fachheit tritt anch der Mangel an derjenigen Kraft, welche eigentlich den Drama¬
tiker macht, um so empfindlicher hervor. Seine drei Stücke: I.uoreee, ^xnss 6e
Asi-amie und OKai-Jolo col-co^, welche den drei Hauptperiodeu der Geschichte
entnommen sind, haben durch den Reiz der Neuheit imponirt; sie können aber


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[0483] Um ein historicheS Drama zu schreiben, müsse man also vorher nicht blos das Costüm und die Gebräuche, sondern die Geschichte und die sittlichen Verhältnisse der Zeit, welche man schildern wolle, genau studiren. Von diesem Princip aus¬ gehend, beginnt er jede Kritik eiues historischen Stücks mit der Exposition der geschichtlichen Grundlage, um davou den Maßstab seines Urtheils zu entlehnen. Er treibt diese Methode zuweilen bis zur Pedanterie, indem er z. B. das jüngste Er¬ zeugnis; der Scribe'schen Muse, leg eoriws c>6 1a remo 6e ^avarrs, welches, wie alle historischen Lustspiele dieses bürgerliche Dichters, eigentlich unter dem constitutionellen Regiment der Julidynastie spielt, einer ernsthaften historischen Kritik unterwirft. Auch dieses Princip wird, einseitig verfolgt, sich als unzureichend bewähren. Man kauu ein gutes historisches Stück schreiben, ohne gründliches Studium der geschilderten Zeit, und umgekehrt. Es kommt darauf an, daß der Dichter mit einem richtigen und schnellen Blick für das Wesentliche ausgestattet ist. Planche thut daher nicht selten den romantischen Dichtern Unrecht. Ich habe selber in meiner Kritik Victor Hugo's nachzuweisen gesucht, daß diesen! Dichter die beiden ersten Erfordernisse der Kunst abgehen: Wahrheit und Schönheit. Es ist aber trotzdem nicht zu verkennen, daß seiue Darstellung in gewisser Beziehung einen Fortschritt gegen die Napoleonische Periode enthält. Er hat die Convenienz in der Sprache, die Convenienz in der Mischung der verschiedenen Elemente, welche einen Charakter ausmachen, aufgehoben. Nehmen wir z. B. eiues seiner Stücke, das keineswegs das beste ist, Marie Tndor. Die Geschwätzigkeit, mit der diese Königin ihrer Leidenschaft freien Lauf läßt, ist weder schön noch poetisch wahr, denn sie widerspricht den Gewohnheiten ihres Standes; dennoch ist dieses Be¬ streben, die Sprünge eines heißblütigen Gemüths im Detail zu empfinden und sie in volksthümlichen Ausdruck wiederzugeben, ein nothwendiger Durchgangspunkt zur idealen dramatischen Gestaltung. In einer Zeit des Uebergangs ist die Kritik im Unrecht, welche nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade anch der bloßen Tendenz Gerechtigkeit widerfahren läßt. Darum ist auch mit der einseitigen Rückkehr zu der alten, freilich ebenso einseitig überwundenen Form uoch nichts gewonnen. Unter den modernen Dichtern, die das versucht haben, hat Pousard den größten, aber keineswegs gerechtfertigten Erfolg davongetragen. Daß er die Zerstreutheiten der romantischen Schule, die beständigen Abschweifungen in Details, die uicht zur Sache gehören, die Anhäu- fung von originellen Figuren, die uicht im Verhältniß zu deu durch sie ausge- drückten Ideen steheu, vermeidet, daß er die Handlung in wenig Personen und in einfache Begebenheiten concentrirt, ist nur zu loben; aber gerade in dieser Ein¬ fachheit tritt anch der Mangel an derjenigen Kraft, welche eigentlich den Drama¬ tiker macht, um so empfindlicher hervor. Seine drei Stücke: I.uoreee, ^xnss 6e Asi-amie und OKai-Jolo col-co^, welche den drei Hauptperiodeu der Geschichte entnommen sind, haben durch den Reiz der Neuheit imponirt; sie können aber 125*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/483>, abgerufen am 22.07.2024.