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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Hunderts so gut wie gar keine Kenntniß, und to'unen geschichtlich nicht erweisen,
daß schon damals eine Rachel gelebt hat, aber man lese -- ohne sich an die
Alexandriner zu stoßen, die gräßliche Verwünschung, die Camille gegen ihren
Bruder und gegen Rom ausstößt, und frage sich, ob so etwas anders gesprochen
werden kann, als schäumend, tobend, rasend, mit rollenden Augen und wilden
Geberden; oder man erwäge ihr vielsagendes Mlas! am Schluß des laugen Be¬
richts über deu Fall ihres Gedichten, und frage sich, ob dieser Schlußaccord
nicht eine furchtbare Reihe von Dissonanzen voraussetzt, die sie uur durch ein sehr
bewegtes Mienenspiel ausdrücken konnte. Die Poesie des Kontrastes ist bei Cor¬
neille ebenso das leitende Princip, wie bei Victor Hugo; der Idealismus der
Tugend, "der Geister schreckliches Gesetz/' contrastirt so gewaltsam mit der
menschlichen Natur, mit der Totalität der Seele, daß daraus jede Hitze der Lei¬
denschaft begreiflich wird.

Ich berühre deu Gegenstand, der eine eigue gründliche Betrachtung erfor¬
dert, hier nur beiläufig. Wenn Rachel die Geister der alten Classiker dadurch
heraufbeschwor, daß sie Victor Hugo noch überbot, so hat sie dieselben besser
verstanden, als z. B. Ponsard und seiue Kritiker, welche die Elasticität eiues
Stücks uach der Langweiligkeit und Eintönigkeit desselben abmessen.

So wuß man in den Widersachern der Romantik auch zwei Gesichtspunkte
unterscheiden. Die ersten Classiker, die gegen Victor Hugo in die Schranken
traten, zehrten von den Reminiscenzen, nicht der Richelieu'schen, sondern der
Napoleonischen Zeit. Unter dem Kaiser war alle officielle Kunst classisch, das The¬
ater, wie die Malerei und die plastische Kunst. Es gab nichts als conventio-
nelle Phrasen, conventionelle Farben, conventionelle Drapirungen und Geberden.
So ging es noch in der ersten Periode der Restauration fort.

Als Victor Hugo und Alexander Dumas gleichzeitig, in den letzten zwanziger
Jahren, mit ihren kühnen Neuerungen hervortraten, war es zunächst die Convenienz,
die sich ihnen entgegensetzte. Man eiferte sür die drei Einheiten, für den regel¬
rechten Vers, für den hergebrachten Stil in Liebeserklärungen und im Ausdruck
der Leidenschaft. Mit einer solchen Opposition konnten die Romantiker leicht
fertig werden. Aber ihre Neuerungen wurden bald Manier, Convenienz; es
bildete sich eine Schule, die in verba magistri schwur, und nun war eS uicht
mehr die Pedanterie, sondern die Freiheit, die sie bekämpfte. Dieser waren sie
nicht gewachsen, denn ihr Wesen war unfrei und unklar.

Unter den französischen Kritikern, die die Fahne des alten Klassicismus auf-
pflanzten, zeichne ich zwei aus: Gustav Planche und Nisard. Beide unterscheiden
sich durch eine seltene Eigenschaft von der ungeheueren Mehrzahl der übrigen
Kritiker: Bestimmtheit in den Principien und Klarheit und Energie in der An.
wenduug. Was ihre Collegen betrifft, von Se. Beroe an bis herunter zu Jules
Janin, so würden sie ihren jungdeutschen und pseudohegeliauischen Zeitgenossen


Grenzvoten. IV. 13S0. 125

Hunderts so gut wie gar keine Kenntniß, und to'unen geschichtlich nicht erweisen,
daß schon damals eine Rachel gelebt hat, aber man lese — ohne sich an die
Alexandriner zu stoßen, die gräßliche Verwünschung, die Camille gegen ihren
Bruder und gegen Rom ausstößt, und frage sich, ob so etwas anders gesprochen
werden kann, als schäumend, tobend, rasend, mit rollenden Augen und wilden
Geberden; oder man erwäge ihr vielsagendes Mlas! am Schluß des laugen Be¬
richts über deu Fall ihres Gedichten, und frage sich, ob dieser Schlußaccord
nicht eine furchtbare Reihe von Dissonanzen voraussetzt, die sie uur durch ein sehr
bewegtes Mienenspiel ausdrücken konnte. Die Poesie des Kontrastes ist bei Cor¬
neille ebenso das leitende Princip, wie bei Victor Hugo; der Idealismus der
Tugend, „der Geister schreckliches Gesetz/' contrastirt so gewaltsam mit der
menschlichen Natur, mit der Totalität der Seele, daß daraus jede Hitze der Lei¬
denschaft begreiflich wird.

Ich berühre deu Gegenstand, der eine eigue gründliche Betrachtung erfor¬
dert, hier nur beiläufig. Wenn Rachel die Geister der alten Classiker dadurch
heraufbeschwor, daß sie Victor Hugo noch überbot, so hat sie dieselben besser
verstanden, als z. B. Ponsard und seiue Kritiker, welche die Elasticität eiues
Stücks uach der Langweiligkeit und Eintönigkeit desselben abmessen.

So wuß man in den Widersachern der Romantik auch zwei Gesichtspunkte
unterscheiden. Die ersten Classiker, die gegen Victor Hugo in die Schranken
traten, zehrten von den Reminiscenzen, nicht der Richelieu'schen, sondern der
Napoleonischen Zeit. Unter dem Kaiser war alle officielle Kunst classisch, das The¬
ater, wie die Malerei und die plastische Kunst. Es gab nichts als conventio-
nelle Phrasen, conventionelle Farben, conventionelle Drapirungen und Geberden.
So ging es noch in der ersten Periode der Restauration fort.

Als Victor Hugo und Alexander Dumas gleichzeitig, in den letzten zwanziger
Jahren, mit ihren kühnen Neuerungen hervortraten, war es zunächst die Convenienz,
die sich ihnen entgegensetzte. Man eiferte sür die drei Einheiten, für den regel¬
rechten Vers, für den hergebrachten Stil in Liebeserklärungen und im Ausdruck
der Leidenschaft. Mit einer solchen Opposition konnten die Romantiker leicht
fertig werden. Aber ihre Neuerungen wurden bald Manier, Convenienz; es
bildete sich eine Schule, die in verba magistri schwur, und nun war eS uicht
mehr die Pedanterie, sondern die Freiheit, die sie bekämpfte. Dieser waren sie
nicht gewachsen, denn ihr Wesen war unfrei und unklar.

Unter den französischen Kritikern, die die Fahne des alten Klassicismus auf-
pflanzten, zeichne ich zwei aus: Gustav Planche und Nisard. Beide unterscheiden
sich durch eine seltene Eigenschaft von der ungeheueren Mehrzahl der übrigen
Kritiker: Bestimmtheit in den Principien und Klarheit und Energie in der An.
wenduug. Was ihre Collegen betrifft, von Se. Beroe an bis herunter zu Jules
Janin, so würden sie ihren jungdeutschen und pseudohegeliauischen Zeitgenossen


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[0481] Hunderts so gut wie gar keine Kenntniß, und to'unen geschichtlich nicht erweisen, daß schon damals eine Rachel gelebt hat, aber man lese — ohne sich an die Alexandriner zu stoßen, die gräßliche Verwünschung, die Camille gegen ihren Bruder und gegen Rom ausstößt, und frage sich, ob so etwas anders gesprochen werden kann, als schäumend, tobend, rasend, mit rollenden Augen und wilden Geberden; oder man erwäge ihr vielsagendes Mlas! am Schluß des laugen Be¬ richts über deu Fall ihres Gedichten, und frage sich, ob dieser Schlußaccord nicht eine furchtbare Reihe von Dissonanzen voraussetzt, die sie uur durch ein sehr bewegtes Mienenspiel ausdrücken konnte. Die Poesie des Kontrastes ist bei Cor¬ neille ebenso das leitende Princip, wie bei Victor Hugo; der Idealismus der Tugend, „der Geister schreckliches Gesetz/' contrastirt so gewaltsam mit der menschlichen Natur, mit der Totalität der Seele, daß daraus jede Hitze der Lei¬ denschaft begreiflich wird. Ich berühre deu Gegenstand, der eine eigue gründliche Betrachtung erfor¬ dert, hier nur beiläufig. Wenn Rachel die Geister der alten Classiker dadurch heraufbeschwor, daß sie Victor Hugo noch überbot, so hat sie dieselben besser verstanden, als z. B. Ponsard und seiue Kritiker, welche die Elasticität eiues Stücks uach der Langweiligkeit und Eintönigkeit desselben abmessen. So wuß man in den Widersachern der Romantik auch zwei Gesichtspunkte unterscheiden. Die ersten Classiker, die gegen Victor Hugo in die Schranken traten, zehrten von den Reminiscenzen, nicht der Richelieu'schen, sondern der Napoleonischen Zeit. Unter dem Kaiser war alle officielle Kunst classisch, das The¬ ater, wie die Malerei und die plastische Kunst. Es gab nichts als conventio- nelle Phrasen, conventionelle Farben, conventionelle Drapirungen und Geberden. So ging es noch in der ersten Periode der Restauration fort. Als Victor Hugo und Alexander Dumas gleichzeitig, in den letzten zwanziger Jahren, mit ihren kühnen Neuerungen hervortraten, war es zunächst die Convenienz, die sich ihnen entgegensetzte. Man eiferte sür die drei Einheiten, für den regel¬ rechten Vers, für den hergebrachten Stil in Liebeserklärungen und im Ausdruck der Leidenschaft. Mit einer solchen Opposition konnten die Romantiker leicht fertig werden. Aber ihre Neuerungen wurden bald Manier, Convenienz; es bildete sich eine Schule, die in verba magistri schwur, und nun war eS uicht mehr die Pedanterie, sondern die Freiheit, die sie bekämpfte. Dieser waren sie nicht gewachsen, denn ihr Wesen war unfrei und unklar. Unter den französischen Kritikern, die die Fahne des alten Klassicismus auf- pflanzten, zeichne ich zwei aus: Gustav Planche und Nisard. Beide unterscheiden sich durch eine seltene Eigenschaft von der ungeheueren Mehrzahl der übrigen Kritiker: Bestimmtheit in den Principien und Klarheit und Energie in der An. wenduug. Was ihre Collegen betrifft, von Se. Beroe an bis herunter zu Jules Janin, so würden sie ihren jungdeutschen und pseudohegeliauischen Zeitgenossen Grenzvoten. IV. 13S0. 125

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/481>, abgerufen am 22.07.2024.