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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Neue Romane.
2.

Ich deutete am Schluß meines letzten Artikels einen llebelftalld an, der seit
Goethe so ziemlich in allen deutschen Romanen wiederkehrt, wenn sie sich uur
einigermaßen über das Niveau deö Alltäglichen zu erheben suchen. Sollst war
es Mode, die feineren Empfindungen des Herzens und die kühnerem Züge des
Charakters, die zu sein und zu kühn waren, um sich in den Handlungen zu ent¬
falten, in Briefen an irgend einen Vertrauten oder eine Bertraute auszusprechen;
selbst wenn die Heldin in Ohnmacht siel, mußte sie augenblicklich ihrer Freundin
referiren, und wenn nichts vorfiel, so wurde auch darüber ein Brief geschrieben.
Die Wuth des Briefschreibens hat jetzt nachgelassen, dagegen ist das schlimmere
Laster der Tagebücher eingerissen. Seitdem Ottilie ein Tagebuch geführt, ver¬
säumt keine Frau von einigem Geist, in sorgfältig stilisirten Aphorismen ihrer
schönen Seele Lust zu machen. Zum Theil siud es die süßen Geheimnisse des
Herzens, der Nachklang schöner Stunden, die man in diesem köstlichen Schrein
aufspeichert; mau malt sich aus, was man dabei gedacht, als man mit dem
schönen, blassen Polen die erste Polka tanzte, oder was man empfunden, als der
erste Sonnenstrahl auf die neuen, seelenvoll gruppirten Möbeln siel; in der Re¬
gel aber sind es Einfälle über literarische Gegenstände, namentlich über Fällst,
Byron und Don Juan, die Lieblinge der Damen. Da eine gründlich ausge¬
führte Kritik weder von einer Dame noch von einem Tagebuch zu erwarten ist,
so wird eine epigrammatische Pointe gesucht, ein gefühlvoller Witz, der auf die
alte Erscheinung ein neues Schlaglicht wirft. Daraus geht uicht nur der Nach¬
theil hervor, daß eine Masse schiefer, einseitiger Urtheile in die Welt lausen,
daß mau sich zwingt, beständig in Aphorismen, in Paradoxien zu denken, eine
Manier, die dem gefunden Menschenverstand uicht ebeu förderlich ist; sondern auch
der größere, daß man auf solche Reflexionen einen Werth legt, den sie in tenter
Weise verdienen, und über dieses Schattenspiel schillernder Witze dasjenige aus
den Augen läßt, was eigentlich das Interesse des menschlichen Lebens ausmacht:
That und Leiden.

Auch "der Tannhäuser," deu wir im vorigen Heft besprachen, gibt uns
ein solches Tagebuch; es wird noch dazu vou der gesetztesteu, verständigsten und
tugendhaftesten Person deö Stückes geführt, aber sie kann sich doch uicht ent-
halten, sich zuweilen in ihren Mußestunden die Frage vorzulegen, ob sie nicht
den Opfertod der Charlotte Stieglitz sterben solle, und über Christus, die Re¬
publik, die Identität Gottes und der Welt, den Zweifel und den Glauben, die
Ehe und das freie Weib, sich Einfälle auszuarbeiten, die ebensowenig schön als


Grenzvoten. IV. 1850. 119
Neue Romane.
2.

Ich deutete am Schluß meines letzten Artikels einen llebelftalld an, der seit
Goethe so ziemlich in allen deutschen Romanen wiederkehrt, wenn sie sich uur
einigermaßen über das Niveau deö Alltäglichen zu erheben suchen. Sollst war
es Mode, die feineren Empfindungen des Herzens und die kühnerem Züge des
Charakters, die zu sein und zu kühn waren, um sich in den Handlungen zu ent¬
falten, in Briefen an irgend einen Vertrauten oder eine Bertraute auszusprechen;
selbst wenn die Heldin in Ohnmacht siel, mußte sie augenblicklich ihrer Freundin
referiren, und wenn nichts vorfiel, so wurde auch darüber ein Brief geschrieben.
Die Wuth des Briefschreibens hat jetzt nachgelassen, dagegen ist das schlimmere
Laster der Tagebücher eingerissen. Seitdem Ottilie ein Tagebuch geführt, ver¬
säumt keine Frau von einigem Geist, in sorgfältig stilisirten Aphorismen ihrer
schönen Seele Lust zu machen. Zum Theil siud es die süßen Geheimnisse des
Herzens, der Nachklang schöner Stunden, die man in diesem köstlichen Schrein
aufspeichert; mau malt sich aus, was man dabei gedacht, als man mit dem
schönen, blassen Polen die erste Polka tanzte, oder was man empfunden, als der
erste Sonnenstrahl auf die neuen, seelenvoll gruppirten Möbeln siel; in der Re¬
gel aber sind es Einfälle über literarische Gegenstände, namentlich über Fällst,
Byron und Don Juan, die Lieblinge der Damen. Da eine gründlich ausge¬
führte Kritik weder von einer Dame noch von einem Tagebuch zu erwarten ist,
so wird eine epigrammatische Pointe gesucht, ein gefühlvoller Witz, der auf die
alte Erscheinung ein neues Schlaglicht wirft. Daraus geht uicht nur der Nach¬
theil hervor, daß eine Masse schiefer, einseitiger Urtheile in die Welt lausen,
daß mau sich zwingt, beständig in Aphorismen, in Paradoxien zu denken, eine
Manier, die dem gefunden Menschenverstand uicht ebeu förderlich ist; sondern auch
der größere, daß man auf solche Reflexionen einen Werth legt, den sie in tenter
Weise verdienen, und über dieses Schattenspiel schillernder Witze dasjenige aus
den Augen läßt, was eigentlich das Interesse des menschlichen Lebens ausmacht:
That und Leiden.

Auch „der Tannhäuser," deu wir im vorigen Heft besprachen, gibt uns
ein solches Tagebuch; es wird noch dazu vou der gesetztesteu, verständigsten und
tugendhaftesten Person deö Stückes geführt, aber sie kann sich doch uicht ent-
halten, sich zuweilen in ihren Mußestunden die Frage vorzulegen, ob sie nicht
den Opfertod der Charlotte Stieglitz sterben solle, und über Christus, die Re¬
publik, die Identität Gottes und der Welt, den Zweifel und den Glauben, die
Ehe und das freie Weib, sich Einfälle auszuarbeiten, die ebensowenig schön als


Grenzvoten. IV. 1850. 119
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[0433] Neue Romane. 2. Ich deutete am Schluß meines letzten Artikels einen llebelftalld an, der seit Goethe so ziemlich in allen deutschen Romanen wiederkehrt, wenn sie sich uur einigermaßen über das Niveau deö Alltäglichen zu erheben suchen. Sollst war es Mode, die feineren Empfindungen des Herzens und die kühnerem Züge des Charakters, die zu sein und zu kühn waren, um sich in den Handlungen zu ent¬ falten, in Briefen an irgend einen Vertrauten oder eine Bertraute auszusprechen; selbst wenn die Heldin in Ohnmacht siel, mußte sie augenblicklich ihrer Freundin referiren, und wenn nichts vorfiel, so wurde auch darüber ein Brief geschrieben. Die Wuth des Briefschreibens hat jetzt nachgelassen, dagegen ist das schlimmere Laster der Tagebücher eingerissen. Seitdem Ottilie ein Tagebuch geführt, ver¬ säumt keine Frau von einigem Geist, in sorgfältig stilisirten Aphorismen ihrer schönen Seele Lust zu machen. Zum Theil siud es die süßen Geheimnisse des Herzens, der Nachklang schöner Stunden, die man in diesem köstlichen Schrein aufspeichert; mau malt sich aus, was man dabei gedacht, als man mit dem schönen, blassen Polen die erste Polka tanzte, oder was man empfunden, als der erste Sonnenstrahl auf die neuen, seelenvoll gruppirten Möbeln siel; in der Re¬ gel aber sind es Einfälle über literarische Gegenstände, namentlich über Fällst, Byron und Don Juan, die Lieblinge der Damen. Da eine gründlich ausge¬ führte Kritik weder von einer Dame noch von einem Tagebuch zu erwarten ist, so wird eine epigrammatische Pointe gesucht, ein gefühlvoller Witz, der auf die alte Erscheinung ein neues Schlaglicht wirft. Daraus geht uicht nur der Nach¬ theil hervor, daß eine Masse schiefer, einseitiger Urtheile in die Welt lausen, daß mau sich zwingt, beständig in Aphorismen, in Paradoxien zu denken, eine Manier, die dem gefunden Menschenverstand uicht ebeu förderlich ist; sondern auch der größere, daß man auf solche Reflexionen einen Werth legt, den sie in tenter Weise verdienen, und über dieses Schattenspiel schillernder Witze dasjenige aus den Augen läßt, was eigentlich das Interesse des menschlichen Lebens ausmacht: That und Leiden. Auch „der Tannhäuser," deu wir im vorigen Heft besprachen, gibt uns ein solches Tagebuch; es wird noch dazu vou der gesetztesteu, verständigsten und tugendhaftesten Person deö Stückes geführt, aber sie kann sich doch uicht ent- halten, sich zuweilen in ihren Mußestunden die Frage vorzulegen, ob sie nicht den Opfertod der Charlotte Stieglitz sterben solle, und über Christus, die Re¬ publik, die Identität Gottes und der Welt, den Zweifel und den Glauben, die Ehe und das freie Weib, sich Einfälle auszuarbeiten, die ebensowenig schön als Grenzvoten. IV. 1850. 119

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/433>, abgerufen am 24.08.2024.