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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Das Gesetz traf immer noch die Zeitungseigenthümer auf das strengste;
aber die öffentliche Meinung war für sie, und sie ließen sich nicht entmuthigen.
Gegen Eude desselben Jahres (1695) wird ein gewisser Dyer vor die schwülen
des Unterhauses gefordert, muß auf deu Knien Abbitte leisten und wird öffent¬
lich zurecht gewiesen, weil er sich in seinem Blatte beklagt hatte, "daß die De¬
batten der beideu Häuser so gehaltlos seien, daß viele Mitglieder aus deu
Sitzungen wegblieben, und daß sie sich nicht mit den Staatsgeschäften befaßten/'
Alsdann wurde durch eine besondere Bill den Blättern und Zeitungen verboten,
sich mit Politik zu beschäftigen, oder eine Kritik der Parlamentsdebatten zu ver¬
öffentlichen. Man hätte meinen sollen, die Presse müsse jetzt sterben, aber sie
starb uicht. Die Streuge des Gesetzes traf sie, aber der Schutz der öffentlichen
Meinung hielt sie aufrecht.

Einer der größten Irrthümer der neuern Zeit ist der Glaube an die Ge¬
walt der Gesetze ohne Berücksichtigung des Zustandes der Gemüther, auf welche
die Gesetze Anwendung finden, und der Gesinnung derer, die sie anwenden sollen
und die sie erlassen. Schon Plato sagt sehr richtig: "Man schreibt was man
nicht ausführen will." Zu eiuer Zeit, wo in deu Straßen vou Florenz das Blut
in Strömen floß, trug das Banner der Stadt die Aufschrift: Das Reich Christi,
und noch in der neuesten Zeit fochten die Juuitämpfer mit der Lösung: "Frei¬
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit."

1697 hoffte man die von dem geheimen Jnstinct der Masse beschützte Presse,
und namentlich die Tagespresse, durch Gesetze zu erdrücken. Freisinnig im Herzen
und servil in der Form sendete England seine Verdammungssprüche gegen die
Fortschritte der Öffentlichkeit; aber sie vergeudeten ihre Kraft vergebens. Die
Gemüther versagten ihre Mitwirkung, die Geister verdammten sie im Princip,
und die Sitte verhinderte ihre Anwendung. Mit dem Schluß des Jahres 1697
begann die Vervielfältigung und Erweiterung der Zeitungen. Anfangs hatten sie
blos Nachrichten ohne alle Bemerkungen gegeben; dann hatten sie versucht, sich
auf Reflexionen zu beschränken ohne Thatsachen zu geben. Beide Verfahrungs-
arten waren unvollkommen. Unter der Königin Anna fing man zuerst an die
beideu Elemente einer guten Zeitung, das Thatsächliche und die Kritik, mit ein-
ander zu vereinigen; das Thatsächliche zur Begründung der Reflexion, und letztere
zur Beleuchtung des Thatsächlichen. Ans dieser Verbindung der Kritik mit der
Politik des Tages entstand eine neue, noch ungekannte Macht; die grelle Be¬
leuchtung des geheimen Getriebes der Politik und des Charakters der auf der
politischen Bühne erscheinenden Staatsmänner, die Schnelligkeit der Nachrichten
verbunden mit dem freien Tone der Kritiken schufen die neue Macht des organi-
sirten Zeitnugöweseus.

Die neue Erscheinung erregte die lebhafteste Besorgniß aller Staatsmänner.
Von dem Ministerium aufmerksam gemacht, versprach das Unterhaus seiue Mit-


117*

Das Gesetz traf immer noch die Zeitungseigenthümer auf das strengste;
aber die öffentliche Meinung war für sie, und sie ließen sich nicht entmuthigen.
Gegen Eude desselben Jahres (1695) wird ein gewisser Dyer vor die schwülen
des Unterhauses gefordert, muß auf deu Knien Abbitte leisten und wird öffent¬
lich zurecht gewiesen, weil er sich in seinem Blatte beklagt hatte, „daß die De¬
batten der beideu Häuser so gehaltlos seien, daß viele Mitglieder aus deu
Sitzungen wegblieben, und daß sie sich nicht mit den Staatsgeschäften befaßten/'
Alsdann wurde durch eine besondere Bill den Blättern und Zeitungen verboten,
sich mit Politik zu beschäftigen, oder eine Kritik der Parlamentsdebatten zu ver¬
öffentlichen. Man hätte meinen sollen, die Presse müsse jetzt sterben, aber sie
starb uicht. Die Streuge des Gesetzes traf sie, aber der Schutz der öffentlichen
Meinung hielt sie aufrecht.

Einer der größten Irrthümer der neuern Zeit ist der Glaube an die Ge¬
walt der Gesetze ohne Berücksichtigung des Zustandes der Gemüther, auf welche
die Gesetze Anwendung finden, und der Gesinnung derer, die sie anwenden sollen
und die sie erlassen. Schon Plato sagt sehr richtig: „Man schreibt was man
nicht ausführen will." Zu eiuer Zeit, wo in deu Straßen vou Florenz das Blut
in Strömen floß, trug das Banner der Stadt die Aufschrift: Das Reich Christi,
und noch in der neuesten Zeit fochten die Juuitämpfer mit der Lösung: „Frei¬
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit."

1697 hoffte man die von dem geheimen Jnstinct der Masse beschützte Presse,
und namentlich die Tagespresse, durch Gesetze zu erdrücken. Freisinnig im Herzen
und servil in der Form sendete England seine Verdammungssprüche gegen die
Fortschritte der Öffentlichkeit; aber sie vergeudeten ihre Kraft vergebens. Die
Gemüther versagten ihre Mitwirkung, die Geister verdammten sie im Princip,
und die Sitte verhinderte ihre Anwendung. Mit dem Schluß des Jahres 1697
begann die Vervielfältigung und Erweiterung der Zeitungen. Anfangs hatten sie
blos Nachrichten ohne alle Bemerkungen gegeben; dann hatten sie versucht, sich
auf Reflexionen zu beschränken ohne Thatsachen zu geben. Beide Verfahrungs-
arten waren unvollkommen. Unter der Königin Anna fing man zuerst an die
beideu Elemente einer guten Zeitung, das Thatsächliche und die Kritik, mit ein-
ander zu vereinigen; das Thatsächliche zur Begründung der Reflexion, und letztere
zur Beleuchtung des Thatsächlichen. Ans dieser Verbindung der Kritik mit der
Politik des Tages entstand eine neue, noch ungekannte Macht; die grelle Be¬
leuchtung des geheimen Getriebes der Politik und des Charakters der auf der
politischen Bühne erscheinenden Staatsmänner, die Schnelligkeit der Nachrichten
verbunden mit dem freien Tone der Kritiken schufen die neue Macht des organi-
sirten Zeitnugöweseus.

Die neue Erscheinung erregte die lebhafteste Besorgniß aller Staatsmänner.
Von dem Ministerium aufmerksam gemacht, versprach das Unterhaus seiue Mit-


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[0419] Das Gesetz traf immer noch die Zeitungseigenthümer auf das strengste; aber die öffentliche Meinung war für sie, und sie ließen sich nicht entmuthigen. Gegen Eude desselben Jahres (1695) wird ein gewisser Dyer vor die schwülen des Unterhauses gefordert, muß auf deu Knien Abbitte leisten und wird öffent¬ lich zurecht gewiesen, weil er sich in seinem Blatte beklagt hatte, „daß die De¬ batten der beideu Häuser so gehaltlos seien, daß viele Mitglieder aus deu Sitzungen wegblieben, und daß sie sich nicht mit den Staatsgeschäften befaßten/' Alsdann wurde durch eine besondere Bill den Blättern und Zeitungen verboten, sich mit Politik zu beschäftigen, oder eine Kritik der Parlamentsdebatten zu ver¬ öffentlichen. Man hätte meinen sollen, die Presse müsse jetzt sterben, aber sie starb uicht. Die Streuge des Gesetzes traf sie, aber der Schutz der öffentlichen Meinung hielt sie aufrecht. Einer der größten Irrthümer der neuern Zeit ist der Glaube an die Ge¬ walt der Gesetze ohne Berücksichtigung des Zustandes der Gemüther, auf welche die Gesetze Anwendung finden, und der Gesinnung derer, die sie anwenden sollen und die sie erlassen. Schon Plato sagt sehr richtig: „Man schreibt was man nicht ausführen will." Zu eiuer Zeit, wo in deu Straßen vou Florenz das Blut in Strömen floß, trug das Banner der Stadt die Aufschrift: Das Reich Christi, und noch in der neuesten Zeit fochten die Juuitämpfer mit der Lösung: „Frei¬ heit, Gleichheit, Brüderlichkeit." 1697 hoffte man die von dem geheimen Jnstinct der Masse beschützte Presse, und namentlich die Tagespresse, durch Gesetze zu erdrücken. Freisinnig im Herzen und servil in der Form sendete England seine Verdammungssprüche gegen die Fortschritte der Öffentlichkeit; aber sie vergeudeten ihre Kraft vergebens. Die Gemüther versagten ihre Mitwirkung, die Geister verdammten sie im Princip, und die Sitte verhinderte ihre Anwendung. Mit dem Schluß des Jahres 1697 begann die Vervielfältigung und Erweiterung der Zeitungen. Anfangs hatten sie blos Nachrichten ohne alle Bemerkungen gegeben; dann hatten sie versucht, sich auf Reflexionen zu beschränken ohne Thatsachen zu geben. Beide Verfahrungs- arten waren unvollkommen. Unter der Königin Anna fing man zuerst an die beideu Elemente einer guten Zeitung, das Thatsächliche und die Kritik, mit ein- ander zu vereinigen; das Thatsächliche zur Begründung der Reflexion, und letztere zur Beleuchtung des Thatsächlichen. Ans dieser Verbindung der Kritik mit der Politik des Tages entstand eine neue, noch ungekannte Macht; die grelle Be¬ leuchtung des geheimen Getriebes der Politik und des Charakters der auf der politischen Bühne erscheinenden Staatsmänner, die Schnelligkeit der Nachrichten verbunden mit dem freien Tone der Kritiken schufen die neue Macht des organi- sirten Zeitnugöweseus. Die neue Erscheinung erregte die lebhafteste Besorgniß aller Staatsmänner. Von dem Ministerium aufmerksam gemacht, versprach das Unterhaus seiue Mit- 117*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/419>, abgerufen am 24.07.2024.