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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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mit seiner Phantasie und seinem Zorn nie in's Unbestimmte verliert, der streng
bleibt, anch wo er gerührt ist. Aber es ist eine trübe, schwere Atmosphäre, die
sich über diese Schicksale ausbreitet, und wir werden mehr niedergedrückt, als er¬
schüttert.

Einen ganz entgegengesetzten Charakter haben einige deutsche Romane der
Gegenwart, von denen wir vorläufig auf einen eingehen.

Der Tannhäuser. Ein Roman von A. Widmann. Berlin, Franz Duncker.

Was uns an diesem Roman zunächst äußerlich auffällt, ist die Eigenthüm¬
lichkeit in der Plastik, die uus Deutschen ganz ungewohnt vorkommt, und
die sich in dem Maß nur bei Balzac findet. Balzac ist offenbar das Vorbild,
namentlich bei Stellen wie diese, in welcher die Physiognomie des Haupthelden,
Friedrich, geschildert wird. -- "Zuerst sah der Betrachteude ein Vogelgesicht, so
bedeutend überwog die vollkommene Stirn und die herabhängende Nase die
untern Theile. Allmälig aber blieb der Blick an der äußerst seinen, von Leben
zuckenden Oberlippe haften, welche bald von Liebreiz umgössen, ein stolzes Lächeln
auf die runde weiche Wange zurückspielte, bald fest an die Unterlippe gepreßt,
einen ätzend sinnlichen Ausdruck gewann, der durch das zarte runde Kinn nicht
gemildert wurde. Unwillkürlich sah man einen Panther vor sich, welcher in
schmeichelnd gefährlichem Spiel zugleich lockt und vernichtet. Dieser Eindruck war
um so schärfer, wenn Fritz, wie er zu thun Pflegte, die durchgearbeitete
Hand wie ein Greif weit auf den Tisch hinzugesetzt hatte." Gleich darauf wird
die Gier geschildert, mit der diese ideale Person zu -- fressen Pflegt. -- Ihr
gegeuüber sitzt die Heldin, Franziska. "Sie hatte die volle Brust fest an den
Tisch angepreßt und schaute mit den offenen braunen Augen Fritz entgegen, still
und unergründlich wie eine Sphinx. Jeder Zug des fast erschlafften Gesichts mit
der gleichmäßigen lichten Hautfarbe war Fülle und Glanz." -- "Das knappe
schwarzseidene Kleid hob ihre edlen Formen. Leicht hätte man die etwas zu
große Fülle übersehen, wäre nicht über die ganze Figur ein Zug der Trägheit
verbreitet gewesen. Dieser contrastirte seltsam mit der Bewegung, welche Fran¬
ziska bei jedem ungewöhnlichen Geräusch durchzuckte und dann an die stumme
Unruhe einer gefangenen Wölfin erinnerte. -- Im Ganzen langweilte sich Fran¬
ziska und darum war sie uicht schön; denn wir schätzen an den Frauen doch
vor Allem die Theilnahme als liebenswürdig, und namentlich volle und runde
Züge, welche Ermattung und Indolenz in die Länge dehnen, können auch ein
bedeutendes Wesen räthselhaft entstellen." -- Man denkt wenigstens, man hat es
mit einer Gräfin zu thun: aber nein, die Heldin gehört zu eiuer Classe, der man
unerhört schmeichelt, wenn man sie gefallene Engel nennt. -- Dieselbe "stürzt
sich" bei eiuer spätern Gelegenheit "weinend auf den Boden und ringt mit den
Händen, als würde sie vom Schmerz mit Fäusten geschlagen" u. f. w.

Diese Seltsamkeit des Ausdrucks ist aber noch nichts gegen die Seltsamkeit


mit seiner Phantasie und seinem Zorn nie in's Unbestimmte verliert, der streng
bleibt, anch wo er gerührt ist. Aber es ist eine trübe, schwere Atmosphäre, die
sich über diese Schicksale ausbreitet, und wir werden mehr niedergedrückt, als er¬
schüttert.

Einen ganz entgegengesetzten Charakter haben einige deutsche Romane der
Gegenwart, von denen wir vorläufig auf einen eingehen.

Der Tannhäuser. Ein Roman von A. Widmann. Berlin, Franz Duncker.

Was uns an diesem Roman zunächst äußerlich auffällt, ist die Eigenthüm¬
lichkeit in der Plastik, die uus Deutschen ganz ungewohnt vorkommt, und
die sich in dem Maß nur bei Balzac findet. Balzac ist offenbar das Vorbild,
namentlich bei Stellen wie diese, in welcher die Physiognomie des Haupthelden,
Friedrich, geschildert wird. — „Zuerst sah der Betrachteude ein Vogelgesicht, so
bedeutend überwog die vollkommene Stirn und die herabhängende Nase die
untern Theile. Allmälig aber blieb der Blick an der äußerst seinen, von Leben
zuckenden Oberlippe haften, welche bald von Liebreiz umgössen, ein stolzes Lächeln
auf die runde weiche Wange zurückspielte, bald fest an die Unterlippe gepreßt,
einen ätzend sinnlichen Ausdruck gewann, der durch das zarte runde Kinn nicht
gemildert wurde. Unwillkürlich sah man einen Panther vor sich, welcher in
schmeichelnd gefährlichem Spiel zugleich lockt und vernichtet. Dieser Eindruck war
um so schärfer, wenn Fritz, wie er zu thun Pflegte, die durchgearbeitete
Hand wie ein Greif weit auf den Tisch hinzugesetzt hatte." Gleich darauf wird
die Gier geschildert, mit der diese ideale Person zu — fressen Pflegt. — Ihr
gegeuüber sitzt die Heldin, Franziska. „Sie hatte die volle Brust fest an den
Tisch angepreßt und schaute mit den offenen braunen Augen Fritz entgegen, still
und unergründlich wie eine Sphinx. Jeder Zug des fast erschlafften Gesichts mit
der gleichmäßigen lichten Hautfarbe war Fülle und Glanz." — „Das knappe
schwarzseidene Kleid hob ihre edlen Formen. Leicht hätte man die etwas zu
große Fülle übersehen, wäre nicht über die ganze Figur ein Zug der Trägheit
verbreitet gewesen. Dieser contrastirte seltsam mit der Bewegung, welche Fran¬
ziska bei jedem ungewöhnlichen Geräusch durchzuckte und dann an die stumme
Unruhe einer gefangenen Wölfin erinnerte. — Im Ganzen langweilte sich Fran¬
ziska und darum war sie uicht schön; denn wir schätzen an den Frauen doch
vor Allem die Theilnahme als liebenswürdig, und namentlich volle und runde
Züge, welche Ermattung und Indolenz in die Länge dehnen, können auch ein
bedeutendes Wesen räthselhaft entstellen." — Man denkt wenigstens, man hat es
mit einer Gräfin zu thun: aber nein, die Heldin gehört zu eiuer Classe, der man
unerhört schmeichelt, wenn man sie gefallene Engel nennt. — Dieselbe „stürzt
sich" bei eiuer spätern Gelegenheit „weinend auf den Boden und ringt mit den
Händen, als würde sie vom Schmerz mit Fäusten geschlagen" u. f. w.

Diese Seltsamkeit des Ausdrucks ist aber noch nichts gegen die Seltsamkeit


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[0375] mit seiner Phantasie und seinem Zorn nie in's Unbestimmte verliert, der streng bleibt, anch wo er gerührt ist. Aber es ist eine trübe, schwere Atmosphäre, die sich über diese Schicksale ausbreitet, und wir werden mehr niedergedrückt, als er¬ schüttert. Einen ganz entgegengesetzten Charakter haben einige deutsche Romane der Gegenwart, von denen wir vorläufig auf einen eingehen. Der Tannhäuser. Ein Roman von A. Widmann. Berlin, Franz Duncker. Was uns an diesem Roman zunächst äußerlich auffällt, ist die Eigenthüm¬ lichkeit in der Plastik, die uus Deutschen ganz ungewohnt vorkommt, und die sich in dem Maß nur bei Balzac findet. Balzac ist offenbar das Vorbild, namentlich bei Stellen wie diese, in welcher die Physiognomie des Haupthelden, Friedrich, geschildert wird. — „Zuerst sah der Betrachteude ein Vogelgesicht, so bedeutend überwog die vollkommene Stirn und die herabhängende Nase die untern Theile. Allmälig aber blieb der Blick an der äußerst seinen, von Leben zuckenden Oberlippe haften, welche bald von Liebreiz umgössen, ein stolzes Lächeln auf die runde weiche Wange zurückspielte, bald fest an die Unterlippe gepreßt, einen ätzend sinnlichen Ausdruck gewann, der durch das zarte runde Kinn nicht gemildert wurde. Unwillkürlich sah man einen Panther vor sich, welcher in schmeichelnd gefährlichem Spiel zugleich lockt und vernichtet. Dieser Eindruck war um so schärfer, wenn Fritz, wie er zu thun Pflegte, die durchgearbeitete Hand wie ein Greif weit auf den Tisch hinzugesetzt hatte." Gleich darauf wird die Gier geschildert, mit der diese ideale Person zu — fressen Pflegt. — Ihr gegeuüber sitzt die Heldin, Franziska. „Sie hatte die volle Brust fest an den Tisch angepreßt und schaute mit den offenen braunen Augen Fritz entgegen, still und unergründlich wie eine Sphinx. Jeder Zug des fast erschlafften Gesichts mit der gleichmäßigen lichten Hautfarbe war Fülle und Glanz." — „Das knappe schwarzseidene Kleid hob ihre edlen Formen. Leicht hätte man die etwas zu große Fülle übersehen, wäre nicht über die ganze Figur ein Zug der Trägheit verbreitet gewesen. Dieser contrastirte seltsam mit der Bewegung, welche Fran¬ ziska bei jedem ungewöhnlichen Geräusch durchzuckte und dann an die stumme Unruhe einer gefangenen Wölfin erinnerte. — Im Ganzen langweilte sich Fran¬ ziska und darum war sie uicht schön; denn wir schätzen an den Frauen doch vor Allem die Theilnahme als liebenswürdig, und namentlich volle und runde Züge, welche Ermattung und Indolenz in die Länge dehnen, können auch ein bedeutendes Wesen räthselhaft entstellen." — Man denkt wenigstens, man hat es mit einer Gräfin zu thun: aber nein, die Heldin gehört zu eiuer Classe, der man unerhört schmeichelt, wenn man sie gefallene Engel nennt. — Dieselbe „stürzt sich" bei eiuer spätern Gelegenheit „weinend auf den Boden und ringt mit den Händen, als würde sie vom Schmerz mit Fäusten geschlagen" u. f. w. Diese Seltsamkeit des Ausdrucks ist aber noch nichts gegen die Seltsamkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/375>, abgerufen am 22.07.2024.