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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Wir wenden uns zu einer wesentlich verschiedenen Classe von Novellen, die
in's sociale Gebiet übergreifen und durch Darstellung von den Leiden des Volks
auf ihre Abhülfe aufmerksam zu machen bestimmt sind, zu der Classe der Prole¬
tarier-Romane. Wir führen zwei davon an.

Uhr^ Karton. this ot Nanoliester Mo. 1849.

^.teor I.ooKe, Isilor sua ?vel: su autobiograpl^. 1850.

Die zweite der erwähnten Novellen, die erst kürzlich erschienen ist, kenne ich
nnr ans einer Recension im Athenäum, die zugleich einen Auszug gibt. Sie
scheint ein nicht unbedeutendes Publicum gefunden zu haben, obgleich, nach den
mitgetheilten Stellen zu schließen, die bei den englischen Novellisten so gewöhn¬
liche und beliebte Kunst, die Gewöhnlichkeiten des Lebens dnrch Humor zu ideali-
siren, hinter den Ernst des Zweckes zurücktritt. Der Inhalt ist folgender: --
Akkon Locke ist der Sohn einer armen puritanischen Mutter, die, in den heroisch¬
düstern Traditionen ihrer Secte aufgezogen, ihm eine streng religiöse Erziehung
gibt. In der ungesunden Vorstadt, deren enge Straßen er nie verlassen darf,
quält ihn eine unendliche Sehnsucht nach der Natur, die er nicht kennt. Der
Knabe kommt zu einem Schneider in die Lehre. Hier weiß er sich heimlich Mittel
zu verschaffe", eine ihm bis dahin versagte Lectüre zu treiben. Diese, sowie sein
Umgang und seine Schicksale machen ihn zum Chartisten. Seine Mutter, die mit
Schrecken wahrnimmt, daß er in der Schneiderwerkstatt seinen Glauben verloren
hat, nimmt ihn heraus, bei einem Buchhändler setzt er seine literarische Bildung
fort, ergreift dann wieder die Nadel, zugleich aber auch die Feder, um Dichter
des Volkes zu werden. Als Chartist wird er vor Gericht gestellt, eingekerkert
und endlich durch eine edle Dame, die ihn im Nervensieber pflegt, zum rechtgläu¬
bige Christenthum bekehrt.

Mary Barton läßt diesen leidigen Trost der Armuth bei Seite. Der
Roman, der übrigens gleichfalls in das Verbrechen chartistischer Umtriebe ausläuft,
enthüllt uns das nackte Elend der niedrigen Volksclassen mit schonungsloser Wahr¬
heit und Plastik. Die frivolen Erfindungen von Eugen Sue und den übrigen
Franzosen bleiben weit dahinter zurück; denn es ist hier ohne alle Coquetterie,
mit bitterm Ernst und mit jeuer Kraft der Charakteristik, in der die Engländer
uus weit voraus sind, die Hütte des Proletariers aufgedeckt, wir verfolgen sein
tägliches Leben und seine Entbehrungen, den Jrrgang seiner verletzten Empfin¬
dungen und Gedanken bis zum Verbrechen. Wir haben es nicht mit Ungeheuern
zu thun, mit "Skeletten", "Schulmeistern" und ähnlichen Erfindungen der Opium-
Phantasie, sondern mit kräftigen ursprünglichen Naturen, die auch in der Hitze
der Verzweiflung und des Verbrechens die Zurechnungsfähig^ nicht verlieren,
und die unser Mitleid in Anspruch nehmen, auch wo wir sie verdammen müssen.
Der Roman ist mit jenem religiösen Ernst geschrieben, der den Engländer aus¬
zeichnet, der es niemals leicht nimmt mit dem Elend und dem Laster, der sich


Wir wenden uns zu einer wesentlich verschiedenen Classe von Novellen, die
in's sociale Gebiet übergreifen und durch Darstellung von den Leiden des Volks
auf ihre Abhülfe aufmerksam zu machen bestimmt sind, zu der Classe der Prole¬
tarier-Romane. Wir führen zwei davon an.

Uhr^ Karton. this ot Nanoliester Mo. 1849.

^.teor I.ooKe, Isilor sua ?vel: su autobiograpl^. 1850.

Die zweite der erwähnten Novellen, die erst kürzlich erschienen ist, kenne ich
nnr ans einer Recension im Athenäum, die zugleich einen Auszug gibt. Sie
scheint ein nicht unbedeutendes Publicum gefunden zu haben, obgleich, nach den
mitgetheilten Stellen zu schließen, die bei den englischen Novellisten so gewöhn¬
liche und beliebte Kunst, die Gewöhnlichkeiten des Lebens dnrch Humor zu ideali-
siren, hinter den Ernst des Zweckes zurücktritt. Der Inhalt ist folgender: —
Akkon Locke ist der Sohn einer armen puritanischen Mutter, die, in den heroisch¬
düstern Traditionen ihrer Secte aufgezogen, ihm eine streng religiöse Erziehung
gibt. In der ungesunden Vorstadt, deren enge Straßen er nie verlassen darf,
quält ihn eine unendliche Sehnsucht nach der Natur, die er nicht kennt. Der
Knabe kommt zu einem Schneider in die Lehre. Hier weiß er sich heimlich Mittel
zu verschaffe», eine ihm bis dahin versagte Lectüre zu treiben. Diese, sowie sein
Umgang und seine Schicksale machen ihn zum Chartisten. Seine Mutter, die mit
Schrecken wahrnimmt, daß er in der Schneiderwerkstatt seinen Glauben verloren
hat, nimmt ihn heraus, bei einem Buchhändler setzt er seine literarische Bildung
fort, ergreift dann wieder die Nadel, zugleich aber auch die Feder, um Dichter
des Volkes zu werden. Als Chartist wird er vor Gericht gestellt, eingekerkert
und endlich durch eine edle Dame, die ihn im Nervensieber pflegt, zum rechtgläu¬
bige Christenthum bekehrt.

Mary Barton läßt diesen leidigen Trost der Armuth bei Seite. Der
Roman, der übrigens gleichfalls in das Verbrechen chartistischer Umtriebe ausläuft,
enthüllt uns das nackte Elend der niedrigen Volksclassen mit schonungsloser Wahr¬
heit und Plastik. Die frivolen Erfindungen von Eugen Sue und den übrigen
Franzosen bleiben weit dahinter zurück; denn es ist hier ohne alle Coquetterie,
mit bitterm Ernst und mit jeuer Kraft der Charakteristik, in der die Engländer
uus weit voraus sind, die Hütte des Proletariers aufgedeckt, wir verfolgen sein
tägliches Leben und seine Entbehrungen, den Jrrgang seiner verletzten Empfin¬
dungen und Gedanken bis zum Verbrechen. Wir haben es nicht mit Ungeheuern
zu thun, mit „Skeletten", „Schulmeistern" und ähnlichen Erfindungen der Opium-
Phantasie, sondern mit kräftigen ursprünglichen Naturen, die auch in der Hitze
der Verzweiflung und des Verbrechens die Zurechnungsfähig^ nicht verlieren,
und die unser Mitleid in Anspruch nehmen, auch wo wir sie verdammen müssen.
Der Roman ist mit jenem religiösen Ernst geschrieben, der den Engländer aus¬
zeichnet, der es niemals leicht nimmt mit dem Elend und dem Laster, der sich


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[0374] Wir wenden uns zu einer wesentlich verschiedenen Classe von Novellen, die in's sociale Gebiet übergreifen und durch Darstellung von den Leiden des Volks auf ihre Abhülfe aufmerksam zu machen bestimmt sind, zu der Classe der Prole¬ tarier-Romane. Wir führen zwei davon an. Uhr^ Karton. this ot Nanoliester Mo. 1849. ^.teor I.ooKe, Isilor sua ?vel: su autobiograpl^. 1850. Die zweite der erwähnten Novellen, die erst kürzlich erschienen ist, kenne ich nnr ans einer Recension im Athenäum, die zugleich einen Auszug gibt. Sie scheint ein nicht unbedeutendes Publicum gefunden zu haben, obgleich, nach den mitgetheilten Stellen zu schließen, die bei den englischen Novellisten so gewöhn¬ liche und beliebte Kunst, die Gewöhnlichkeiten des Lebens dnrch Humor zu ideali- siren, hinter den Ernst des Zweckes zurücktritt. Der Inhalt ist folgender: — Akkon Locke ist der Sohn einer armen puritanischen Mutter, die, in den heroisch¬ düstern Traditionen ihrer Secte aufgezogen, ihm eine streng religiöse Erziehung gibt. In der ungesunden Vorstadt, deren enge Straßen er nie verlassen darf, quält ihn eine unendliche Sehnsucht nach der Natur, die er nicht kennt. Der Knabe kommt zu einem Schneider in die Lehre. Hier weiß er sich heimlich Mittel zu verschaffe», eine ihm bis dahin versagte Lectüre zu treiben. Diese, sowie sein Umgang und seine Schicksale machen ihn zum Chartisten. Seine Mutter, die mit Schrecken wahrnimmt, daß er in der Schneiderwerkstatt seinen Glauben verloren hat, nimmt ihn heraus, bei einem Buchhändler setzt er seine literarische Bildung fort, ergreift dann wieder die Nadel, zugleich aber auch die Feder, um Dichter des Volkes zu werden. Als Chartist wird er vor Gericht gestellt, eingekerkert und endlich durch eine edle Dame, die ihn im Nervensieber pflegt, zum rechtgläu¬ bige Christenthum bekehrt. Mary Barton läßt diesen leidigen Trost der Armuth bei Seite. Der Roman, der übrigens gleichfalls in das Verbrechen chartistischer Umtriebe ausläuft, enthüllt uns das nackte Elend der niedrigen Volksclassen mit schonungsloser Wahr¬ heit und Plastik. Die frivolen Erfindungen von Eugen Sue und den übrigen Franzosen bleiben weit dahinter zurück; denn es ist hier ohne alle Coquetterie, mit bitterm Ernst und mit jeuer Kraft der Charakteristik, in der die Engländer uus weit voraus sind, die Hütte des Proletariers aufgedeckt, wir verfolgen sein tägliches Leben und seine Entbehrungen, den Jrrgang seiner verletzten Empfin¬ dungen und Gedanken bis zum Verbrechen. Wir haben es nicht mit Ungeheuern zu thun, mit „Skeletten", „Schulmeistern" und ähnlichen Erfindungen der Opium- Phantasie, sondern mit kräftigen ursprünglichen Naturen, die auch in der Hitze der Verzweiflung und des Verbrechens die Zurechnungsfähig^ nicht verlieren, und die unser Mitleid in Anspruch nehmen, auch wo wir sie verdammen müssen. Der Roman ist mit jenem religiösen Ernst geschrieben, der den Engländer aus¬ zeichnet, der es niemals leicht nimmt mit dem Elend und dem Laster, der sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/374>, abgerufen am 22.07.2024.