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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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nur ein schiefes und einseitiges Bild, das zwar pikant, aber nicht vollständig ist.
Ebenso wenn Lamartine dnrch eine Menge von Gott weiß wo hergeholten, jedenfalls
sehr unkritisch gesichteten Anekdoten seinen Handlungen eine frischere Farbe zu
geben sucht. Eine historische Monographie wird um so besser sein, je strenger
sich der Darstellende an seinen Gegenstand hält, und je erschöpfender er ihn behan¬
delt; und eine allgemeine Geschichte, in der die verschiedenen Momente der Cultur
gleichmäßig zu ihrem Recht kommen sollen, wird diese Aufgabe viel befriedigender
losen, wenn sie dieselben neben oder vielmehr nach einander, als wenn sie sie
durcheinander referirt. So hat Macaulay ganz mit Recht die. Sittenschilderung
seines Zeitalters vou dem Gang politischer Begebenheiten getrennt.

Es läßt sich also eine Kunstform denken, welche die eigentliche Geschichte
ergänzt: die an Stelle des Referats über ein Zeitalter ein Bild desselben gibt,
und wir können bei dem Namen des historischen Romans stehen bleiben, ohne
dabei zu untersuchen, inwieweit das gewöhnlich leitende erotische Interesse dabei
in seinem Recht ist. Jedenfalls wird auch die Liebesgeschichte, die den Faden
bildet, im Geist der Zeit gedacht sein müssen. Das Ideal eines solchen Romans
setzt ein ebenso gründliches Studium der Geschichte voraus, als die eigentliche
Geschichtschreibung, in gewisser Beziehung noch mehr, und daneben das künst¬
lerische Talent. Es wird aber am wenigsten dann erreicht werden, wenn der
Dichter nicht blos die Zeit zu schildern, sondern im Sinne der Zeit zu schreiben
versucht, denn wir wollen unsern Standpunkt nicht verlassen, wir wollen den
Contrast jener Zeit gegen die unsrige empfinden, und der Dichter hat gerade die
Aufgabe, die richtige Perspective zu finden.

Wenn man diesen letzten Punkt festhält, so wird man es sich erklären können,
warum das Alterthum überhaupt, und im Alterthum vor Allem die classische Zeit
der griechischen Bildung, der Form des historischen Romans am meisten wider¬
strebt. Es steht diese Zeit unserer eignen Cultur so ucche, denn sie ist unsere
Quelle, -- viel näher als das Mittelalter, ja in mancher Hinsicht näher als die
Reformationszeit, -- daß wir alles Gefühl des Kontrastes, alle Perspective
verloren haben, daß wir erschrecken, wenn es sich zeigt, wie es in der ausgeführten,
bildlichen Behandlung nicht anders möglich ist, eine wie ungeheure Kluft uus
von diesen bekannten Figuren trennt, die wir bereits in der Schule als unsers
Gleichen zu betrachten lernten.

Es gibt fast in der ganzen Weltgeschichte keinen Zeitraum, der uns eine
so reiche, vollständige und musterhafte Literatur hinterlassen hätte, als das Jahr¬
hundert von Perikles bis auf Alexander. Drei große Tragiker stellen uus die ideale
Seite des Lebeus dar; mit unvergleichlichen Witz geißelt Aristophanes die Schatten¬
seite desselben. Die Geschichte wird uns nicht allein in der classischen Form eines
Thucydides überliefert, sie wird durch eine Reihe glänzender Redner ergänzt. Ans
Plato und Xenophon lernen wir nicht blos, wie die Griechen denken, sondern


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nur ein schiefes und einseitiges Bild, das zwar pikant, aber nicht vollständig ist.
Ebenso wenn Lamartine dnrch eine Menge von Gott weiß wo hergeholten, jedenfalls
sehr unkritisch gesichteten Anekdoten seinen Handlungen eine frischere Farbe zu
geben sucht. Eine historische Monographie wird um so besser sein, je strenger
sich der Darstellende an seinen Gegenstand hält, und je erschöpfender er ihn behan¬
delt; und eine allgemeine Geschichte, in der die verschiedenen Momente der Cultur
gleichmäßig zu ihrem Recht kommen sollen, wird diese Aufgabe viel befriedigender
losen, wenn sie dieselben neben oder vielmehr nach einander, als wenn sie sie
durcheinander referirt. So hat Macaulay ganz mit Recht die. Sittenschilderung
seines Zeitalters vou dem Gang politischer Begebenheiten getrennt.

Es läßt sich also eine Kunstform denken, welche die eigentliche Geschichte
ergänzt: die an Stelle des Referats über ein Zeitalter ein Bild desselben gibt,
und wir können bei dem Namen des historischen Romans stehen bleiben, ohne
dabei zu untersuchen, inwieweit das gewöhnlich leitende erotische Interesse dabei
in seinem Recht ist. Jedenfalls wird auch die Liebesgeschichte, die den Faden
bildet, im Geist der Zeit gedacht sein müssen. Das Ideal eines solchen Romans
setzt ein ebenso gründliches Studium der Geschichte voraus, als die eigentliche
Geschichtschreibung, in gewisser Beziehung noch mehr, und daneben das künst¬
lerische Talent. Es wird aber am wenigsten dann erreicht werden, wenn der
Dichter nicht blos die Zeit zu schildern, sondern im Sinne der Zeit zu schreiben
versucht, denn wir wollen unsern Standpunkt nicht verlassen, wir wollen den
Contrast jener Zeit gegen die unsrige empfinden, und der Dichter hat gerade die
Aufgabe, die richtige Perspective zu finden.

Wenn man diesen letzten Punkt festhält, so wird man es sich erklären können,
warum das Alterthum überhaupt, und im Alterthum vor Allem die classische Zeit
der griechischen Bildung, der Form des historischen Romans am meisten wider¬
strebt. Es steht diese Zeit unserer eignen Cultur so ucche, denn sie ist unsere
Quelle, — viel näher als das Mittelalter, ja in mancher Hinsicht näher als die
Reformationszeit, — daß wir alles Gefühl des Kontrastes, alle Perspective
verloren haben, daß wir erschrecken, wenn es sich zeigt, wie es in der ausgeführten,
bildlichen Behandlung nicht anders möglich ist, eine wie ungeheure Kluft uus
von diesen bekannten Figuren trennt, die wir bereits in der Schule als unsers
Gleichen zu betrachten lernten.

Es gibt fast in der ganzen Weltgeschichte keinen Zeitraum, der uns eine
so reiche, vollständige und musterhafte Literatur hinterlassen hätte, als das Jahr¬
hundert von Perikles bis auf Alexander. Drei große Tragiker stellen uus die ideale
Seite des Lebeus dar; mit unvergleichlichen Witz geißelt Aristophanes die Schatten¬
seite desselben. Die Geschichte wird uns nicht allein in der classischen Form eines
Thucydides überliefert, sie wird durch eine Reihe glänzender Redner ergänzt. Ans
Plato und Xenophon lernen wir nicht blos, wie die Griechen denken, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/371>, abgerufen am 22.07.2024.