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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Fiction in zweiter, verwässerter Auflage. -- Der Gegenstand des Romans ist die
Aufopferung der Heldin für ihre Schwester Ioselte, deren uueheliches Kind sie auf
sich nimmt. Es find rührende Züge darin, obgleich der Schwulst die einfache
Empfindung nicht rein hervortreten läßt. -- Aber selbst dieser Eindruck wird
geschwächt durch eine Anhäufung vou Episoden, die das Interesse zerstreuen, und
die eine Menge Bagatellen, Trivialitäten, und selbst Züge eiuer wahrhaft
kindischen Sentimentalität enthalten. So sollen wir uns einmal, neben dem
Interesse, welches uus die Hauptbegebeuheit einflößt, uoch dadurch rühren lassen,
daß Geuvvikve ein Schaaf, welches sie persönlich liebt, mit Aufopferung eines
Theils ihres kleinen Einkommens vom Opfertode befreit. --

An den Nouvelles cor>üÄenoe8 können wir nur einen noch geringern An¬
theil nehmen, als an den frühern Bekenntnissen ans seinem Leben. Bekanntlich
schrieb Lamartine dieselben, um das nöthige Geld zur Erhaltung seines väter¬
lichen Erbtheils zu gewinnen. Die Kritik hatte ihn: vorgeworfen, die Geheim¬
nisse seines Herzens verkauft, und Dinge mitgetheilt zu haben, die kein Gentle¬
man erzählt. Lamartine rechtfertigt sich durch die sonderbare Ansicht, daß eine
solche Verschwiegenheit zwar einem kleinen Kreise von Bekannten, aber nicht denk
gesammten Publicum gegenüber ziemlich sei. Er ruft in dieser Ausgabe mit etwas
theatralischen Pathos jenen Kritikern zu: "Triumphirt, ihr Neider! denn ich
habe meinen Zweck nicht erreicht. Jenes Geld hat nicht genügt, ich habe mein
Erbgut doch verkaufen müssen."

Was seiue Indiscretion uoch unangenehmer macht, das ist die weibische Ko¬
ketterie, mit der er seine Empfindungen zur Schau trägt, mit der er sein Gesicht
beständig im Spiegel besieht. Wenn es einem Schriftsteller daraus ankommt, die
Welt durch seiue Bekenntnisse zu belehren, zu erbauen, zu warnen, wenn es ihm
um vollständige Wahrheit zu thun ist, so wird mau wenigstens nicht leicht einen
allgemeinen Grundsatz ausstellen können, bis wie weit ein Eingehen in Privat¬
verhältnisse schicklich und erlaubt sei. Wenn mau aber aus der Schule schwatzt,
nur um seiner Eitelkeit zu fröhnen, so hat die Kritik das Recht und die Pflicht,
strenger zu sein.

Die Personen und Zustände, welche Lamartine schildert, und zwar mit eiuer
minutiösen Gewissenhaftigkeit im Portrait, tragen nichts dazu bei, uns über seinen
Entwickelungsgang aufzuklären. Er stellt es vielmehr so dar, als sei er all seinen
Umgebungen stets überlegen gewesen, und habe von ihnen nichts empfangen, als
Liebe und Verehrung. Er fährt fort, seiue Schönheit zu schildern, wie sie von
der jugendlichen Bildung in die männliche übergeht; daraus lernen wir nicht viel.
Die Mitglieder der Familie Lamartine siud lauter Engel; alle ihre Gliedmaßen
werden hervorgesucht, um eiuen neuen Rafael oder Titian zu begeistern. Die
Erzählung macht den Eindruck, daß der Dichter sich in seinem Leben viel ge¬
langweilt habe. Die eingeflochtenen Episoden sind von einer so raffinirten


Fiction in zweiter, verwässerter Auflage. — Der Gegenstand des Romans ist die
Aufopferung der Heldin für ihre Schwester Ioselte, deren uueheliches Kind sie auf
sich nimmt. Es find rührende Züge darin, obgleich der Schwulst die einfache
Empfindung nicht rein hervortreten läßt. — Aber selbst dieser Eindruck wird
geschwächt durch eine Anhäufung vou Episoden, die das Interesse zerstreuen, und
die eine Menge Bagatellen, Trivialitäten, und selbst Züge eiuer wahrhaft
kindischen Sentimentalität enthalten. So sollen wir uns einmal, neben dem
Interesse, welches uus die Hauptbegebeuheit einflößt, uoch dadurch rühren lassen,
daß Geuvvikve ein Schaaf, welches sie persönlich liebt, mit Aufopferung eines
Theils ihres kleinen Einkommens vom Opfertode befreit. —

An den Nouvelles cor>üÄenoe8 können wir nur einen noch geringern An¬
theil nehmen, als an den frühern Bekenntnissen ans seinem Leben. Bekanntlich
schrieb Lamartine dieselben, um das nöthige Geld zur Erhaltung seines väter¬
lichen Erbtheils zu gewinnen. Die Kritik hatte ihn: vorgeworfen, die Geheim¬
nisse seines Herzens verkauft, und Dinge mitgetheilt zu haben, die kein Gentle¬
man erzählt. Lamartine rechtfertigt sich durch die sonderbare Ansicht, daß eine
solche Verschwiegenheit zwar einem kleinen Kreise von Bekannten, aber nicht denk
gesammten Publicum gegenüber ziemlich sei. Er ruft in dieser Ausgabe mit etwas
theatralischen Pathos jenen Kritikern zu: „Triumphirt, ihr Neider! denn ich
habe meinen Zweck nicht erreicht. Jenes Geld hat nicht genügt, ich habe mein
Erbgut doch verkaufen müssen."

Was seiue Indiscretion uoch unangenehmer macht, das ist die weibische Ko¬
ketterie, mit der er seine Empfindungen zur Schau trägt, mit der er sein Gesicht
beständig im Spiegel besieht. Wenn es einem Schriftsteller daraus ankommt, die
Welt durch seiue Bekenntnisse zu belehren, zu erbauen, zu warnen, wenn es ihm
um vollständige Wahrheit zu thun ist, so wird mau wenigstens nicht leicht einen
allgemeinen Grundsatz ausstellen können, bis wie weit ein Eingehen in Privat¬
verhältnisse schicklich und erlaubt sei. Wenn mau aber aus der Schule schwatzt,
nur um seiner Eitelkeit zu fröhnen, so hat die Kritik das Recht und die Pflicht,
strenger zu sein.

Die Personen und Zustände, welche Lamartine schildert, und zwar mit eiuer
minutiösen Gewissenhaftigkeit im Portrait, tragen nichts dazu bei, uns über seinen
Entwickelungsgang aufzuklären. Er stellt es vielmehr so dar, als sei er all seinen
Umgebungen stets überlegen gewesen, und habe von ihnen nichts empfangen, als
Liebe und Verehrung. Er fährt fort, seiue Schönheit zu schildern, wie sie von
der jugendlichen Bildung in die männliche übergeht; daraus lernen wir nicht viel.
Die Mitglieder der Familie Lamartine siud lauter Engel; alle ihre Gliedmaßen
werden hervorgesucht, um eiuen neuen Rafael oder Titian zu begeistern. Die
Erzählung macht den Eindruck, daß der Dichter sich in seinem Leben viel ge¬
langweilt habe. Die eingeflochtenen Episoden sind von einer so raffinirten


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[0338] Fiction in zweiter, verwässerter Auflage. — Der Gegenstand des Romans ist die Aufopferung der Heldin für ihre Schwester Ioselte, deren uueheliches Kind sie auf sich nimmt. Es find rührende Züge darin, obgleich der Schwulst die einfache Empfindung nicht rein hervortreten läßt. — Aber selbst dieser Eindruck wird geschwächt durch eine Anhäufung vou Episoden, die das Interesse zerstreuen, und die eine Menge Bagatellen, Trivialitäten, und selbst Züge eiuer wahrhaft kindischen Sentimentalität enthalten. So sollen wir uns einmal, neben dem Interesse, welches uus die Hauptbegebeuheit einflößt, uoch dadurch rühren lassen, daß Geuvvikve ein Schaaf, welches sie persönlich liebt, mit Aufopferung eines Theils ihres kleinen Einkommens vom Opfertode befreit. — An den Nouvelles cor>üÄenoe8 können wir nur einen noch geringern An¬ theil nehmen, als an den frühern Bekenntnissen ans seinem Leben. Bekanntlich schrieb Lamartine dieselben, um das nöthige Geld zur Erhaltung seines väter¬ lichen Erbtheils zu gewinnen. Die Kritik hatte ihn: vorgeworfen, die Geheim¬ nisse seines Herzens verkauft, und Dinge mitgetheilt zu haben, die kein Gentle¬ man erzählt. Lamartine rechtfertigt sich durch die sonderbare Ansicht, daß eine solche Verschwiegenheit zwar einem kleinen Kreise von Bekannten, aber nicht denk gesammten Publicum gegenüber ziemlich sei. Er ruft in dieser Ausgabe mit etwas theatralischen Pathos jenen Kritikern zu: „Triumphirt, ihr Neider! denn ich habe meinen Zweck nicht erreicht. Jenes Geld hat nicht genügt, ich habe mein Erbgut doch verkaufen müssen." Was seiue Indiscretion uoch unangenehmer macht, das ist die weibische Ko¬ ketterie, mit der er seine Empfindungen zur Schau trägt, mit der er sein Gesicht beständig im Spiegel besieht. Wenn es einem Schriftsteller daraus ankommt, die Welt durch seiue Bekenntnisse zu belehren, zu erbauen, zu warnen, wenn es ihm um vollständige Wahrheit zu thun ist, so wird mau wenigstens nicht leicht einen allgemeinen Grundsatz ausstellen können, bis wie weit ein Eingehen in Privat¬ verhältnisse schicklich und erlaubt sei. Wenn mau aber aus der Schule schwatzt, nur um seiner Eitelkeit zu fröhnen, so hat die Kritik das Recht und die Pflicht, strenger zu sein. Die Personen und Zustände, welche Lamartine schildert, und zwar mit eiuer minutiösen Gewissenhaftigkeit im Portrait, tragen nichts dazu bei, uns über seinen Entwickelungsgang aufzuklären. Er stellt es vielmehr so dar, als sei er all seinen Umgebungen stets überlegen gewesen, und habe von ihnen nichts empfangen, als Liebe und Verehrung. Er fährt fort, seiue Schönheit zu schildern, wie sie von der jugendlichen Bildung in die männliche übergeht; daraus lernen wir nicht viel. Die Mitglieder der Familie Lamartine siud lauter Engel; alle ihre Gliedmaßen werden hervorgesucht, um eiuen neuen Rafael oder Titian zu begeistern. Die Erzählung macht den Eindruck, daß der Dichter sich in seinem Leben viel ge¬ langweilt habe. Die eingeflochtenen Episoden sind von einer so raffinirten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/338>, abgerufen am 22.07.2024.