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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Lamartine's neueste Schriften.

Nach seinem verunglückten Versuch, den Negeraufstand in Se. Domingo
dramatisch zu bearbeiten, und nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise in den
Orient, wo er sein fabelhaftes Paschalik besucht und sich dem Sultan vorgestellt
hat, sind von Herrn v. Lamartine wieder drei Schriften erschienen: ein Roman
(-enLviövö, die Nouvelles ^onliäeneLs und eine Reihe politischer Erbauungsreden
in der vou ihm redigirten Zeitschrift: 1o ConLeiller 6u ?eux1e.

Alle drei haben einen ähnlichen Charakter: sie sind bestimmt, die frühern
Poesien des Verfassers durch angeblich aus dem Leben gegriffene Züge zu
illustriren, die aber wieder nichts weiter sind, als ein Mittelding zwischen Wahr¬
heit und Dichtung, mit viel rhetorischen Aufwand, weder durch Kunstsinn noch
dnrch Wahrheit befriedigend, in jener poetisirenden Prosa geschrieben, die weder
an der Klarheit der echten Prosa, noch an dem Schwung der Poesie Theil hat.

Der Roman Gen6pieve wird durch eine sehr lauge historisch-philosophische
Vorrede eingeführt. -- Es ist dieselbe an eine Näherin in Aix, Mlle. Reine,
adresstrt, die sich in ihren Mußestunden mit der Lectüre poetischer Werke be¬
schäftigt, und namentlich an den Versen unsers Dichters großen Geschmack
gesunden hat. Herr vou Lamartine gibt ihr einen kurzen Abriß der allgemeinen
Literarurgeschichte, in welchem er ihr auseinandersetzt, wie keiner der bisherigen
Koryphäen der Weltliteratur, Plato, Sophokles, Milton, Corneille, Calderon, Cer¬
vantes u. s. w., den hauptsächlichsten Anforderungen, die man an den Dichter
stellen müsse, genügt habe: nämlich für das Volk zu schreiben. Diesem tiefge¬
fühlten Bedürfniß soll nun abgeholfen werden. -- Man sieht, unser Gutzkow mit
seiner Theorie des "Nebeneinander" und "Nacheinander" steht nicht allein. -- Nach
den Dichtern folgt eine Kritik der Geschichtschreiber, die sammt und sonders an
dem nämlichen Gebrechen leiden sollen. -- Die Abhandlung ist von einem wahr¬
haft impertinenten Dilettantismus; abgesehen von den mehrfach darin vorkommen¬
den Schnitzern, die man keinem Schüler verzeihen würde, ist über keinen der
behandelten Gegenstände etwas gesagt, was zur Sache gehörte. Es siud lyrische
Phantasien über Werke, die Lamartine entweder niemals studirt, oder gänzlich
vergessen hat.

Was den Roman betrifft, so soll die Heldin desselben eine Ergänzung und
Erläuterung zu der zweiten Person des Gedichts Jocelyn sein (Marthe), wie der
Ubbo Dumont in den ersten Cousidenceö eine Ergänzung zum Jocelyn selbst. --
Durch eine solche nachträgliche Erläuterung tragen die Dichter nicht viel zu dem
Genuß bei, welchen uus ihre frühern Schöpfungen gewähren; sie zerpflücken die
Blume, die uus uur als Ganzes ansprach, und geben uns dessenungeachtet keine
wirkliche Analyse, denn die Phantasie geht doch mit ihnen durch. Wir haben eine


Grenzboten. IV. 1850. . 107
Lamartine's neueste Schriften.

Nach seinem verunglückten Versuch, den Negeraufstand in Se. Domingo
dramatisch zu bearbeiten, und nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise in den
Orient, wo er sein fabelhaftes Paschalik besucht und sich dem Sultan vorgestellt
hat, sind von Herrn v. Lamartine wieder drei Schriften erschienen: ein Roman
(-enLviövö, die Nouvelles ^onliäeneLs und eine Reihe politischer Erbauungsreden
in der vou ihm redigirten Zeitschrift: 1o ConLeiller 6u ?eux1e.

Alle drei haben einen ähnlichen Charakter: sie sind bestimmt, die frühern
Poesien des Verfassers durch angeblich aus dem Leben gegriffene Züge zu
illustriren, die aber wieder nichts weiter sind, als ein Mittelding zwischen Wahr¬
heit und Dichtung, mit viel rhetorischen Aufwand, weder durch Kunstsinn noch
dnrch Wahrheit befriedigend, in jener poetisirenden Prosa geschrieben, die weder
an der Klarheit der echten Prosa, noch an dem Schwung der Poesie Theil hat.

Der Roman Gen6pieve wird durch eine sehr lauge historisch-philosophische
Vorrede eingeführt. — Es ist dieselbe an eine Näherin in Aix, Mlle. Reine,
adresstrt, die sich in ihren Mußestunden mit der Lectüre poetischer Werke be¬
schäftigt, und namentlich an den Versen unsers Dichters großen Geschmack
gesunden hat. Herr vou Lamartine gibt ihr einen kurzen Abriß der allgemeinen
Literarurgeschichte, in welchem er ihr auseinandersetzt, wie keiner der bisherigen
Koryphäen der Weltliteratur, Plato, Sophokles, Milton, Corneille, Calderon, Cer¬
vantes u. s. w., den hauptsächlichsten Anforderungen, die man an den Dichter
stellen müsse, genügt habe: nämlich für das Volk zu schreiben. Diesem tiefge¬
fühlten Bedürfniß soll nun abgeholfen werden. — Man sieht, unser Gutzkow mit
seiner Theorie des „Nebeneinander" und „Nacheinander" steht nicht allein. — Nach
den Dichtern folgt eine Kritik der Geschichtschreiber, die sammt und sonders an
dem nämlichen Gebrechen leiden sollen. — Die Abhandlung ist von einem wahr¬
haft impertinenten Dilettantismus; abgesehen von den mehrfach darin vorkommen¬
den Schnitzern, die man keinem Schüler verzeihen würde, ist über keinen der
behandelten Gegenstände etwas gesagt, was zur Sache gehörte. Es siud lyrische
Phantasien über Werke, die Lamartine entweder niemals studirt, oder gänzlich
vergessen hat.

Was den Roman betrifft, so soll die Heldin desselben eine Ergänzung und
Erläuterung zu der zweiten Person des Gedichts Jocelyn sein (Marthe), wie der
Ubbo Dumont in den ersten Cousidenceö eine Ergänzung zum Jocelyn selbst. —
Durch eine solche nachträgliche Erläuterung tragen die Dichter nicht viel zu dem
Genuß bei, welchen uus ihre frühern Schöpfungen gewähren; sie zerpflücken die
Blume, die uus uur als Ganzes ansprach, und geben uns dessenungeachtet keine
wirkliche Analyse, denn die Phantasie geht doch mit ihnen durch. Wir haben eine


Grenzboten. IV. 1850. . 107
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[0337] Lamartine's neueste Schriften. Nach seinem verunglückten Versuch, den Negeraufstand in Se. Domingo dramatisch zu bearbeiten, und nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise in den Orient, wo er sein fabelhaftes Paschalik besucht und sich dem Sultan vorgestellt hat, sind von Herrn v. Lamartine wieder drei Schriften erschienen: ein Roman (-enLviövö, die Nouvelles ^onliäeneLs und eine Reihe politischer Erbauungsreden in der vou ihm redigirten Zeitschrift: 1o ConLeiller 6u ?eux1e. Alle drei haben einen ähnlichen Charakter: sie sind bestimmt, die frühern Poesien des Verfassers durch angeblich aus dem Leben gegriffene Züge zu illustriren, die aber wieder nichts weiter sind, als ein Mittelding zwischen Wahr¬ heit und Dichtung, mit viel rhetorischen Aufwand, weder durch Kunstsinn noch dnrch Wahrheit befriedigend, in jener poetisirenden Prosa geschrieben, die weder an der Klarheit der echten Prosa, noch an dem Schwung der Poesie Theil hat. Der Roman Gen6pieve wird durch eine sehr lauge historisch-philosophische Vorrede eingeführt. — Es ist dieselbe an eine Näherin in Aix, Mlle. Reine, adresstrt, die sich in ihren Mußestunden mit der Lectüre poetischer Werke be¬ schäftigt, und namentlich an den Versen unsers Dichters großen Geschmack gesunden hat. Herr vou Lamartine gibt ihr einen kurzen Abriß der allgemeinen Literarurgeschichte, in welchem er ihr auseinandersetzt, wie keiner der bisherigen Koryphäen der Weltliteratur, Plato, Sophokles, Milton, Corneille, Calderon, Cer¬ vantes u. s. w., den hauptsächlichsten Anforderungen, die man an den Dichter stellen müsse, genügt habe: nämlich für das Volk zu schreiben. Diesem tiefge¬ fühlten Bedürfniß soll nun abgeholfen werden. — Man sieht, unser Gutzkow mit seiner Theorie des „Nebeneinander" und „Nacheinander" steht nicht allein. — Nach den Dichtern folgt eine Kritik der Geschichtschreiber, die sammt und sonders an dem nämlichen Gebrechen leiden sollen. — Die Abhandlung ist von einem wahr¬ haft impertinenten Dilettantismus; abgesehen von den mehrfach darin vorkommen¬ den Schnitzern, die man keinem Schüler verzeihen würde, ist über keinen der behandelten Gegenstände etwas gesagt, was zur Sache gehörte. Es siud lyrische Phantasien über Werke, die Lamartine entweder niemals studirt, oder gänzlich vergessen hat. Was den Roman betrifft, so soll die Heldin desselben eine Ergänzung und Erläuterung zu der zweiten Person des Gedichts Jocelyn sein (Marthe), wie der Ubbo Dumont in den ersten Cousidenceö eine Ergänzung zum Jocelyn selbst. — Durch eine solche nachträgliche Erläuterung tragen die Dichter nicht viel zu dem Genuß bei, welchen uus ihre frühern Schöpfungen gewähren; sie zerpflücken die Blume, die uus uur als Ganzes ansprach, und geben uns dessenungeachtet keine wirkliche Analyse, denn die Phantasie geht doch mit ihnen durch. Wir haben eine Grenzboten. IV. 1850. . 107

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/337>, abgerufen am 22.07.2024.