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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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irgend der Stoff es zuläßt, auch jene paradoxe Genialität, die durch scharfe
Betonung irgend eiuer Seite dem Bilde ein vollständig verändertes Ansehen
gibt. Das Maxünum in dieser Art ist die bekannte Kritik über Hamlet, die
damit schließt, daß der König eine noble und würdige Person wird. Diese Neigung,
die sittlichen Begriffe umzukehren, theilt Börne mit Heine, der auch lieber "unge¬
heure, colossale" Laster haben wollte, als die unästhetische Moral; der für das russische
Reich schwärmte, weil es ihm imponirte, der einer Agrippina und Lucretia Borgia,
weil sie sich eines wohlgeformten Beins erfreuten, alle die unschuldigen Kleinig¬
keiten, wie Giftmischerei, nachzusehen geneigt war. Bei Börne ist das nicht
Frivolität des Gemüths, denn in diesen bürgerlichen Dingen ist seine Gesinnung
ziemlich fest und gesund, soudern die bei einem recht verstockten "gefunden Men¬
schenverstand " fast immer vorkommende Neigung, der Abwechselung wegen einmal
über die Schnur zu hauen.

Auf unsere ästhetische Kritik hat Börne fast ebenso nachtheilig gewirkt, als
auf unsere politische Empfindung, und zwar aus denselben Gründen. Die Kritik
hat die Aufgabe, durch gründliche Verarbeitung des gegebenen Stoffs die Prin¬
cipien hervortreten zu lassen, und umgekehrt, die Principien ans die Gegenstände
anzuwenden. Börne's Kritik macht sich weder ernsthaft mit den Gegenständen zu
thun, noch geht sie von Principiell ans; sie ist trotz mancher, nicht zu verkennen¬
den Verdienste im Einzelnen, als Ganzes betrachtet, ein Spiel der subjectiven
Eitelkeit. Zwar ist sie mit so viel Talent geschrieben, daß wir noch heute diese
Sammlung von Recensionen über ziemlich gleichgültige Bücher nicht ohne Interesse
lesen. Es ist ein anmuthiges Geplauder, das uns besticht, wenn es uns anch
nicht belehrt. Am liebenswürdigsten, wenn es nur Geplauder ist und gar keinen
Inhalt hat, wie der Aufsatz über Henriette Sonntag, mit dem er in Frankfurt
seinen Ruf begründete. Aber je größer der Erfolg dieses unverkennbaren Talents
war, desto mehr hat es seine Nachfolger verführt, buhlerische Künste zu treiben.
Die Entartung unserer Kritik in inhaltsloses Feuilleton-Geplauder ist um so nach--
theiliger, da eine ernste, consequente, von ihrem Gegenstand und ihren Principien
wahrhaft erfüllte Kritik allein im Stande ist, unsere Literatur aus der babyloni¬
^. 8. schen Verwirrung zu führen, in der sie jetzt befangen ist.




irgend der Stoff es zuläßt, auch jene paradoxe Genialität, die durch scharfe
Betonung irgend eiuer Seite dem Bilde ein vollständig verändertes Ansehen
gibt. Das Maxünum in dieser Art ist die bekannte Kritik über Hamlet, die
damit schließt, daß der König eine noble und würdige Person wird. Diese Neigung,
die sittlichen Begriffe umzukehren, theilt Börne mit Heine, der auch lieber „unge¬
heure, colossale" Laster haben wollte, als die unästhetische Moral; der für das russische
Reich schwärmte, weil es ihm imponirte, der einer Agrippina und Lucretia Borgia,
weil sie sich eines wohlgeformten Beins erfreuten, alle die unschuldigen Kleinig¬
keiten, wie Giftmischerei, nachzusehen geneigt war. Bei Börne ist das nicht
Frivolität des Gemüths, denn in diesen bürgerlichen Dingen ist seine Gesinnung
ziemlich fest und gesund, soudern die bei einem recht verstockten „gefunden Men¬
schenverstand " fast immer vorkommende Neigung, der Abwechselung wegen einmal
über die Schnur zu hauen.

Auf unsere ästhetische Kritik hat Börne fast ebenso nachtheilig gewirkt, als
auf unsere politische Empfindung, und zwar aus denselben Gründen. Die Kritik
hat die Aufgabe, durch gründliche Verarbeitung des gegebenen Stoffs die Prin¬
cipien hervortreten zu lassen, und umgekehrt, die Principien ans die Gegenstände
anzuwenden. Börne's Kritik macht sich weder ernsthaft mit den Gegenständen zu
thun, noch geht sie von Principiell ans; sie ist trotz mancher, nicht zu verkennen¬
den Verdienste im Einzelnen, als Ganzes betrachtet, ein Spiel der subjectiven
Eitelkeit. Zwar ist sie mit so viel Talent geschrieben, daß wir noch heute diese
Sammlung von Recensionen über ziemlich gleichgültige Bücher nicht ohne Interesse
lesen. Es ist ein anmuthiges Geplauder, das uns besticht, wenn es uns anch
nicht belehrt. Am liebenswürdigsten, wenn es nur Geplauder ist und gar keinen
Inhalt hat, wie der Aufsatz über Henriette Sonntag, mit dem er in Frankfurt
seinen Ruf begründete. Aber je größer der Erfolg dieses unverkennbaren Talents
war, desto mehr hat es seine Nachfolger verführt, buhlerische Künste zu treiben.
Die Entartung unserer Kritik in inhaltsloses Feuilleton-Geplauder ist um so nach--
theiliger, da eine ernste, consequente, von ihrem Gegenstand und ihren Principien
wahrhaft erfüllte Kritik allein im Stande ist, unsere Literatur aus der babyloni¬
^. 8. schen Verwirrung zu führen, in der sie jetzt befangen ist.




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[0336] irgend der Stoff es zuläßt, auch jene paradoxe Genialität, die durch scharfe Betonung irgend eiuer Seite dem Bilde ein vollständig verändertes Ansehen gibt. Das Maxünum in dieser Art ist die bekannte Kritik über Hamlet, die damit schließt, daß der König eine noble und würdige Person wird. Diese Neigung, die sittlichen Begriffe umzukehren, theilt Börne mit Heine, der auch lieber „unge¬ heure, colossale" Laster haben wollte, als die unästhetische Moral; der für das russische Reich schwärmte, weil es ihm imponirte, der einer Agrippina und Lucretia Borgia, weil sie sich eines wohlgeformten Beins erfreuten, alle die unschuldigen Kleinig¬ keiten, wie Giftmischerei, nachzusehen geneigt war. Bei Börne ist das nicht Frivolität des Gemüths, denn in diesen bürgerlichen Dingen ist seine Gesinnung ziemlich fest und gesund, soudern die bei einem recht verstockten „gefunden Men¬ schenverstand " fast immer vorkommende Neigung, der Abwechselung wegen einmal über die Schnur zu hauen. Auf unsere ästhetische Kritik hat Börne fast ebenso nachtheilig gewirkt, als auf unsere politische Empfindung, und zwar aus denselben Gründen. Die Kritik hat die Aufgabe, durch gründliche Verarbeitung des gegebenen Stoffs die Prin¬ cipien hervortreten zu lassen, und umgekehrt, die Principien ans die Gegenstände anzuwenden. Börne's Kritik macht sich weder ernsthaft mit den Gegenständen zu thun, noch geht sie von Principiell ans; sie ist trotz mancher, nicht zu verkennen¬ den Verdienste im Einzelnen, als Ganzes betrachtet, ein Spiel der subjectiven Eitelkeit. Zwar ist sie mit so viel Talent geschrieben, daß wir noch heute diese Sammlung von Recensionen über ziemlich gleichgültige Bücher nicht ohne Interesse lesen. Es ist ein anmuthiges Geplauder, das uns besticht, wenn es uns anch nicht belehrt. Am liebenswürdigsten, wenn es nur Geplauder ist und gar keinen Inhalt hat, wie der Aufsatz über Henriette Sonntag, mit dem er in Frankfurt seinen Ruf begründete. Aber je größer der Erfolg dieses unverkennbaren Talents war, desto mehr hat es seine Nachfolger verführt, buhlerische Künste zu treiben. Die Entartung unserer Kritik in inhaltsloses Feuilleton-Geplauder ist um so nach-- theiliger, da eine ernste, consequente, von ihrem Gegenstand und ihren Principien wahrhaft erfüllte Kritik allein im Stande ist, unsere Literatur aus der babyloni¬ ^. 8. schen Verwirrung zu führen, in der sie jetzt befangen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/336>, abgerufen am 22.07.2024.