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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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sehet und Gellert. Der reiche Zaubergärten der griechischen Poesie, der damals
eben den Deutschen in seiner wunderbaren Fülle erschlossen wurde, und selbst die
bunte, burleske. Adelswelt des Mittelalters, auf welche man seit langer Entfrem¬
dung zum erstenmal wieder seine Aufmerksamkeit richtete, mußte natürlich ein poe¬
tisches Gemüth mehr anziehen, als die leidige lutherische Theologie, welche damals
das ganze deutsche Leben erfüllte. Damals mußte der Deutsche ein Weltbürger
werden, weil er schicklicher Weise kein Deutscher sein konnte. Aber uns muthe
man nicht zu, was damals unvermeidlich war, noch heute uuter ganz veränderten
Umständen, als Vorbild zu verehren. Seitdem wir uus als Nation gefühlt haben,
müssen wir ans dieser romantischen Gräcität und diesem empfindsamen Mittelalter
heraus. Der Geist der neuen Zeit ist nicht eine blos chemische Verschmelzung
der griechischen und der gothischen Welt, wie es sich die Jenenser Kunstphilosophen
vorstellten, und wie es z. B. der Alarkos anstrebt, sondern etwas Neues. Eben¬
sowenig wie unser historischer Genuß am Faust verkümmert wird, wenn wir die
moderne Faustpoesie und die Zopfphilosopheu, welche Commentare dazu schreiben,
gering schätzen. -- Denn damals kam es darauf an, der in philisterhaften Ver-
hältnissen verkümmerten Welt große Perspectiven zu öffnen, starke energische
Empfindungen mit dem Schmeichellaut eiuer an Hellas gebildeten Sprache in
die Seele zu hauchen; es wäre aber schlimm, wenn mau fortfahren wollte, in
Fragmenten zu empfinden, zu denken, zu gestalten: Perspectiven haben wir genng,
mehr als genug, jetzt brauchen wir Form, ganze Gestalten, ein energisch sich
zusammendrängendes Schicksal.

Die Universalität jeues gebildeten, aber euergieloseu Humanismus kann uns
hente um so weniger zum Vorbild dienen, da sie in ihrem Cultus des Originelle",,
des Besondern, der in der Form der Willkür erscheinenden Freiheit in einer ein¬
seitigen Polemik gegen das unmittelbar vorhergehende Zeitalter der Aufklärung
befangen war. Freilich gingen Schiller und Göthe, weil ihre Bildung eine höhere
und freiere war, darin nicht so weit, als die Dilettantenschnle, die, vou ihnen an¬
geregt, die Meister bald hinter sich ließ; eine Schule, deren ungesunde Sprö߬
linge noch immer unter uus wuchern. Göthe und Schiller tändelten mit der Drei¬
einigkeit, deu Eleusinischen Mysterien, der Astrologie, der Jncarnation ze., weil
sich darau wenigstens eine kühnere Bildersprache knüpfen ließ, als der herrschende
Nationalismus und Pietismus es verstattete, aber es fiel ihnen nicht ein, ans
diesen Widersinn ihre Weltanschauung zu begründen, ein historisches Gemälde aus
Arabesken zusammenzusetzen. Aber weil in dem vorwaltenden materialistischen
Interesse die höchstem Anforderungen des Geistes und Herzens unbefriedigt blieben,
ließen sie sich in einen Idealismus treiben, der dein Wesen der Natur und der
Geschichte, also dem Ideal des wirklichen Menschen, fast ebenso entgegensteht,
als das Tranmwesen der Mystik.

Wenn gleichzeitig die Kantische Philosophie in dem sogenannten kategorischen


sehet und Gellert. Der reiche Zaubergärten der griechischen Poesie, der damals
eben den Deutschen in seiner wunderbaren Fülle erschlossen wurde, und selbst die
bunte, burleske. Adelswelt des Mittelalters, auf welche man seit langer Entfrem¬
dung zum erstenmal wieder seine Aufmerksamkeit richtete, mußte natürlich ein poe¬
tisches Gemüth mehr anziehen, als die leidige lutherische Theologie, welche damals
das ganze deutsche Leben erfüllte. Damals mußte der Deutsche ein Weltbürger
werden, weil er schicklicher Weise kein Deutscher sein konnte. Aber uns muthe
man nicht zu, was damals unvermeidlich war, noch heute uuter ganz veränderten
Umständen, als Vorbild zu verehren. Seitdem wir uus als Nation gefühlt haben,
müssen wir ans dieser romantischen Gräcität und diesem empfindsamen Mittelalter
heraus. Der Geist der neuen Zeit ist nicht eine blos chemische Verschmelzung
der griechischen und der gothischen Welt, wie es sich die Jenenser Kunstphilosophen
vorstellten, und wie es z. B. der Alarkos anstrebt, sondern etwas Neues. Eben¬
sowenig wie unser historischer Genuß am Faust verkümmert wird, wenn wir die
moderne Faustpoesie und die Zopfphilosopheu, welche Commentare dazu schreiben,
gering schätzen. — Denn damals kam es darauf an, der in philisterhaften Ver-
hältnissen verkümmerten Welt große Perspectiven zu öffnen, starke energische
Empfindungen mit dem Schmeichellaut eiuer an Hellas gebildeten Sprache in
die Seele zu hauchen; es wäre aber schlimm, wenn mau fortfahren wollte, in
Fragmenten zu empfinden, zu denken, zu gestalten: Perspectiven haben wir genng,
mehr als genug, jetzt brauchen wir Form, ganze Gestalten, ein energisch sich
zusammendrängendes Schicksal.

Die Universalität jeues gebildeten, aber euergieloseu Humanismus kann uns
hente um so weniger zum Vorbild dienen, da sie in ihrem Cultus des Originelle«,,
des Besondern, der in der Form der Willkür erscheinenden Freiheit in einer ein¬
seitigen Polemik gegen das unmittelbar vorhergehende Zeitalter der Aufklärung
befangen war. Freilich gingen Schiller und Göthe, weil ihre Bildung eine höhere
und freiere war, darin nicht so weit, als die Dilettantenschnle, die, vou ihnen an¬
geregt, die Meister bald hinter sich ließ; eine Schule, deren ungesunde Sprö߬
linge noch immer unter uus wuchern. Göthe und Schiller tändelten mit der Drei¬
einigkeit, deu Eleusinischen Mysterien, der Astrologie, der Jncarnation ze., weil
sich darau wenigstens eine kühnere Bildersprache knüpfen ließ, als der herrschende
Nationalismus und Pietismus es verstattete, aber es fiel ihnen nicht ein, ans
diesen Widersinn ihre Weltanschauung zu begründen, ein historisches Gemälde aus
Arabesken zusammenzusetzen. Aber weil in dem vorwaltenden materialistischen
Interesse die höchstem Anforderungen des Geistes und Herzens unbefriedigt blieben,
ließen sie sich in einen Idealismus treiben, der dein Wesen der Natur und der
Geschichte, also dem Ideal des wirklichen Menschen, fast ebenso entgegensteht,
als das Tranmwesen der Mystik.

Wenn gleichzeitig die Kantische Philosophie in dem sogenannten kategorischen


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[0292] sehet und Gellert. Der reiche Zaubergärten der griechischen Poesie, der damals eben den Deutschen in seiner wunderbaren Fülle erschlossen wurde, und selbst die bunte, burleske. Adelswelt des Mittelalters, auf welche man seit langer Entfrem¬ dung zum erstenmal wieder seine Aufmerksamkeit richtete, mußte natürlich ein poe¬ tisches Gemüth mehr anziehen, als die leidige lutherische Theologie, welche damals das ganze deutsche Leben erfüllte. Damals mußte der Deutsche ein Weltbürger werden, weil er schicklicher Weise kein Deutscher sein konnte. Aber uns muthe man nicht zu, was damals unvermeidlich war, noch heute uuter ganz veränderten Umständen, als Vorbild zu verehren. Seitdem wir uus als Nation gefühlt haben, müssen wir ans dieser romantischen Gräcität und diesem empfindsamen Mittelalter heraus. Der Geist der neuen Zeit ist nicht eine blos chemische Verschmelzung der griechischen und der gothischen Welt, wie es sich die Jenenser Kunstphilosophen vorstellten, und wie es z. B. der Alarkos anstrebt, sondern etwas Neues. Eben¬ sowenig wie unser historischer Genuß am Faust verkümmert wird, wenn wir die moderne Faustpoesie und die Zopfphilosopheu, welche Commentare dazu schreiben, gering schätzen. — Denn damals kam es darauf an, der in philisterhaften Ver- hältnissen verkümmerten Welt große Perspectiven zu öffnen, starke energische Empfindungen mit dem Schmeichellaut eiuer an Hellas gebildeten Sprache in die Seele zu hauchen; es wäre aber schlimm, wenn mau fortfahren wollte, in Fragmenten zu empfinden, zu denken, zu gestalten: Perspectiven haben wir genng, mehr als genug, jetzt brauchen wir Form, ganze Gestalten, ein energisch sich zusammendrängendes Schicksal. Die Universalität jeues gebildeten, aber euergieloseu Humanismus kann uns hente um so weniger zum Vorbild dienen, da sie in ihrem Cultus des Originelle«,, des Besondern, der in der Form der Willkür erscheinenden Freiheit in einer ein¬ seitigen Polemik gegen das unmittelbar vorhergehende Zeitalter der Aufklärung befangen war. Freilich gingen Schiller und Göthe, weil ihre Bildung eine höhere und freiere war, darin nicht so weit, als die Dilettantenschnle, die, vou ihnen an¬ geregt, die Meister bald hinter sich ließ; eine Schule, deren ungesunde Sprö߬ linge noch immer unter uus wuchern. Göthe und Schiller tändelten mit der Drei¬ einigkeit, deu Eleusinischen Mysterien, der Astrologie, der Jncarnation ze., weil sich darau wenigstens eine kühnere Bildersprache knüpfen ließ, als der herrschende Nationalismus und Pietismus es verstattete, aber es fiel ihnen nicht ein, ans diesen Widersinn ihre Weltanschauung zu begründen, ein historisches Gemälde aus Arabesken zusammenzusetzen. Aber weil in dem vorwaltenden materialistischen Interesse die höchstem Anforderungen des Geistes und Herzens unbefriedigt blieben, ließen sie sich in einen Idealismus treiben, der dein Wesen der Natur und der Geschichte, also dem Ideal des wirklichen Menschen, fast ebenso entgegensteht, als das Tranmwesen der Mystik. Wenn gleichzeitig die Kantische Philosophie in dem sogenannten kategorischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/292>, abgerufen am 22.07.2024.