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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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erwählt, Fatimen zu erlösen. Er selbst kann es nicht vollbringen, denn er ist
kein Mensch. Aber wenigstens hat er den Rubin tief aus der Erde, wo er verscharrt
lag, ausgegraben, und ihn einem Goldschmied in Bagdad überliefert. Dieser hat die
seltsame Idee, sich für taub zu halten, weil er es vergessen hat, daß ihm Baum¬
wolle in deu Ohren steckt; er hat sie einmal bei einem heftigen Zahnschmerz sich
eingepfropft. Eines schönen Morgens entdeckt er das Hinderniß seines Gehörs,
und eilt ans die Straße, um sich zu überzeugen, daß er wirklich nicht taub ist.
Der Erste, den er trifft, ist der junge Nssad, der zum ersten Male in die Residenz
kommt, und sich von seinem Erstaunen über die unerhörte Pracht noch gar nicht
erholen kauu. Der Goldschmied versteht, was er sagt, und ist darüber so entzückt,
daß er ihm seine Juwelen zeigt. Sie lassen ihn alle kalt, nnr bei dem Anblick
des Rubins ergreift ihn eine so unerhörte Lust, daß er ihn an sich reißt, nach
dem Juwelier, der dagegen reclamirt, sticht, und so sich darüber uicht verwundern
kann, als der Kadi, vor welchen man ihn führt, ihn zum Hängen verurtheilt.
Aber in dem Augenblick, wo man den Strick um seinen Hals zuziehen will, faßt
ihn jeuer wohlthätige Geist bei der Hand, und entschwinde mit ihm dnrch die Lüfte.

Aber damit sind seine Prüfungen nicht zu Ende. Zwar hat er jenen trost¬
reichen Augenblick, in welchem ihm die Prinzessin erscheint, aber gleich darauf
geräth er auf der Straße aufs neue in Händel, wird wieder vom Kadi eingefangen,
und kann diesmal seinem Schicksal nicht entgehen, obgleich es durch einen Jn-
cidenzfall zum zweiten Male aufgeschoben wurde. Der Kauf selber bricht ihm den
Stab, und man will ihm vor seiner Hinrichtung deu Edelstein abnehmen. Das
kauu er uicht dulden, lieber wirft er ihn in's Wasser. So hat er erfüllt, was
ihm vorgeschrieben war; Fatime tritt aus dem Wasser hervor, und da der Kauf
ihr Vater ist, und ihrem Retter seine Krone versprochen hatte, so schließt das
Stück mit Assad'ö Erhebung auf deu höchsten Thron des Orients, was ihm schon
in seiner Jugend einmal geträumt hatte. --

Wenn ein anderer Dichter diesen Stoff behandelt hätte, so würde man sich
nicht weiter die Mühe geben, nach einer tiefern Bedeutung zu forschen. Aber
bei Hebbel, der eine neue Weltanschauung verspricht, und der jede Anwendung
der Kunst untersagt, wo uicht ein Problem vorliegt -- ein Bruch im sittlichen
Wesen ^ und eine neue Idee, die ihn versöhnt -- stört uns fortwährend der Ge¬
danke: was wird das alles zu bedeuten haben? Wir eilen ungeduldig von einer
Scene zu der andern, um doch endlich zu erfahren, welch tieferes Lebenörärhsel
hinter diesen MaStenscher^en sich verstecken wird, und fühlen uns im höchsten
Grade enttäuscht lind verstimmt, wenn wir am Ende uns bekennen müssen, das
Geheimniß des Stücks bestehe eben darin, daß keines darin ist.

Es ist dieser Umschlag in's entgegengesetzte Extrem nichts Neues. Wenn
man mit den allerhöchsten, unmöglichen Jntentionen an die Kunst geht, so ge¬
schieht es wohl, daß man zuletzt die höchste Intention darin findet, keine Juden-


erwählt, Fatimen zu erlösen. Er selbst kann es nicht vollbringen, denn er ist
kein Mensch. Aber wenigstens hat er den Rubin tief aus der Erde, wo er verscharrt
lag, ausgegraben, und ihn einem Goldschmied in Bagdad überliefert. Dieser hat die
seltsame Idee, sich für taub zu halten, weil er es vergessen hat, daß ihm Baum¬
wolle in deu Ohren steckt; er hat sie einmal bei einem heftigen Zahnschmerz sich
eingepfropft. Eines schönen Morgens entdeckt er das Hinderniß seines Gehörs,
und eilt ans die Straße, um sich zu überzeugen, daß er wirklich nicht taub ist.
Der Erste, den er trifft, ist der junge Nssad, der zum ersten Male in die Residenz
kommt, und sich von seinem Erstaunen über die unerhörte Pracht noch gar nicht
erholen kauu. Der Goldschmied versteht, was er sagt, und ist darüber so entzückt,
daß er ihm seine Juwelen zeigt. Sie lassen ihn alle kalt, nnr bei dem Anblick
des Rubins ergreift ihn eine so unerhörte Lust, daß er ihn an sich reißt, nach
dem Juwelier, der dagegen reclamirt, sticht, und so sich darüber uicht verwundern
kann, als der Kadi, vor welchen man ihn führt, ihn zum Hängen verurtheilt.
Aber in dem Augenblick, wo man den Strick um seinen Hals zuziehen will, faßt
ihn jeuer wohlthätige Geist bei der Hand, und entschwinde mit ihm dnrch die Lüfte.

Aber damit sind seine Prüfungen nicht zu Ende. Zwar hat er jenen trost¬
reichen Augenblick, in welchem ihm die Prinzessin erscheint, aber gleich darauf
geräth er auf der Straße aufs neue in Händel, wird wieder vom Kadi eingefangen,
und kann diesmal seinem Schicksal nicht entgehen, obgleich es durch einen Jn-
cidenzfall zum zweiten Male aufgeschoben wurde. Der Kauf selber bricht ihm den
Stab, und man will ihm vor seiner Hinrichtung deu Edelstein abnehmen. Das
kauu er uicht dulden, lieber wirft er ihn in's Wasser. So hat er erfüllt, was
ihm vorgeschrieben war; Fatime tritt aus dem Wasser hervor, und da der Kauf
ihr Vater ist, und ihrem Retter seine Krone versprochen hatte, so schließt das
Stück mit Assad'ö Erhebung auf deu höchsten Thron des Orients, was ihm schon
in seiner Jugend einmal geträumt hatte. —

Wenn ein anderer Dichter diesen Stoff behandelt hätte, so würde man sich
nicht weiter die Mühe geben, nach einer tiefern Bedeutung zu forschen. Aber
bei Hebbel, der eine neue Weltanschauung verspricht, und der jede Anwendung
der Kunst untersagt, wo uicht ein Problem vorliegt — ein Bruch im sittlichen
Wesen ^ und eine neue Idee, die ihn versöhnt — stört uns fortwährend der Ge¬
danke: was wird das alles zu bedeuten haben? Wir eilen ungeduldig von einer
Scene zu der andern, um doch endlich zu erfahren, welch tieferes Lebenörärhsel
hinter diesen MaStenscher^en sich verstecken wird, und fühlen uns im höchsten
Grade enttäuscht lind verstimmt, wenn wir am Ende uns bekennen müssen, das
Geheimniß des Stücks bestehe eben darin, daß keines darin ist.

Es ist dieser Umschlag in's entgegengesetzte Extrem nichts Neues. Wenn
man mit den allerhöchsten, unmöglichen Jntentionen an die Kunst geht, so ge¬
schieht es wohl, daß man zuletzt die höchste Intention darin findet, keine Juden-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/258>, abgerufen am 22.07.2024.