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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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gegossen. Wir mußten selbst ein Beispiel von der blinden Furie des Haufens
erleben. Vom Platz unter unsern Fenstern klang ein entsetzliches Gejohl herauf.
Alles stürzte an's Fenster, hinabzusehen. Ein Dutzend Personen riß sich um einen
Unglücklichen, der beschuldigt war, aus dem dritten Stock eines Hauses auf dem
Stockameisenplatz auf seiue eigene Compagnie (von der Garde) geschossen zu haben.
Es war, wie man später erfuhr, ein harmloser Schneider, der zufällig aus dem
bezeichneten Hause trat und uach seiner Wohnung flüchten wollte. Sein Laufen,
das doch sehr natürlich war, lenkte den Verdacht auf ihn und heftete die Ver¬
folger an seine Fersen. Athemlos vor Schreck konnte er kaum stottern, und das
galt für einen neuen Beweis seiner Schuld. Deu Hut hatte er auf der Flucht
verloren, sein Haar war zerrauft und blutig; es war empörend, den Wehrlosen
von allen Seiten angefallen zu sehen. Nur zwei in dem gauzen Haufen erbarmten
sich seiner und suchten, seinen Rücken deckend, ihn zum Ausreisten zu ermuntern.
Allem auch dazu schienen ihm Kraft und Muth ausgegangen; rathlos, sprachlos,
wankend, wälzte er die Augen flehend rechts und links, während ein Gardist mit
blankem Bayonnet, unter gräßlichen Verwünschungen, ihm wiederholt zu Leibe
ging, mit Noth abgewehrt von den beiden Samaritanern, die selbst Gefahr
liefen, überschrien und überwältigt zu werden. Der Anblick versetzte uns den
Athem, das Leben des Verfolgten hing an einem Haar. Endlich stürzte der
Volksredner Becher, dessen Wort ans der Straße galt, hinunter, die Rasenden
zu besänftigen. Inzwischen raffte sich der Verfolgte zu einem Fluchtversuch auf
und kam glücklich drei Schritte weit, als ein Arbeiter ihm nachsprang und, eine
mannshohe faustdicke Stauge mit beideu Armen schwingend, gerade nach seinem
Kopfe ausholte. "Crepir', schwarzgelbe Canaille!" brüllte er, die rohe Waffe
sauste nieder und zersprang auf dem Pflaster in Stücken, hart an den Fersen
des Opfers, welches sie kaum um zwei Zoll gefehlt hatte. Hinter dem Gehetzten
schloß sich die nächste Hausthüre.

Tiefe Stille folgte endlich dem terroristischen Auftritt, der keine volle Minute
gewährt hatte, obgleich diese Minute uus eine Ewigkeit schien. Noch gellte mir
das blntlechzende Geschrei in den Ohren, noch sah ich die hilfeflehenden Blicke
des armen Schneiders vor mir, rings an den Fenstern die regungslosen Zuschauer
den Ausdruck lähmender Feigheit oder stumpfer Gedankenlosigkeit in den erstarrten
Gesichtern, darüber den blauen Himmel, gleichgiltig niederlächelnd, als sei der¬
gleichen mitten in Wien eine Alltagöscene. -- " Wie schnell das Volk häßlich wird
im Rausch des Kampfes", sagte ich. -- "Bah!" entgegnete mein Freund, kalt¬
blütiger als ich; "zum Glück gab's mehr Geschrei als Prügel. So was pflegt
bei jeder Wirthshansschlägerei vorzukommen. Wir wollen sehen, wie die Revo¬
lution steht; gehen wir."

Das Wirthshaus war mit einem Mal wie ausgestorben, auch in deu nächsten
Gassen zeigte sich keine Seele. Erst ans dem Graben sanden wir einzelne be-


gegossen. Wir mußten selbst ein Beispiel von der blinden Furie des Haufens
erleben. Vom Platz unter unsern Fenstern klang ein entsetzliches Gejohl herauf.
Alles stürzte an's Fenster, hinabzusehen. Ein Dutzend Personen riß sich um einen
Unglücklichen, der beschuldigt war, aus dem dritten Stock eines Hauses auf dem
Stockameisenplatz auf seiue eigene Compagnie (von der Garde) geschossen zu haben.
Es war, wie man später erfuhr, ein harmloser Schneider, der zufällig aus dem
bezeichneten Hause trat und uach seiner Wohnung flüchten wollte. Sein Laufen,
das doch sehr natürlich war, lenkte den Verdacht auf ihn und heftete die Ver¬
folger an seine Fersen. Athemlos vor Schreck konnte er kaum stottern, und das
galt für einen neuen Beweis seiner Schuld. Deu Hut hatte er auf der Flucht
verloren, sein Haar war zerrauft und blutig; es war empörend, den Wehrlosen
von allen Seiten angefallen zu sehen. Nur zwei in dem gauzen Haufen erbarmten
sich seiner und suchten, seinen Rücken deckend, ihn zum Ausreisten zu ermuntern.
Allem auch dazu schienen ihm Kraft und Muth ausgegangen; rathlos, sprachlos,
wankend, wälzte er die Augen flehend rechts und links, während ein Gardist mit
blankem Bayonnet, unter gräßlichen Verwünschungen, ihm wiederholt zu Leibe
ging, mit Noth abgewehrt von den beiden Samaritanern, die selbst Gefahr
liefen, überschrien und überwältigt zu werden. Der Anblick versetzte uns den
Athem, das Leben des Verfolgten hing an einem Haar. Endlich stürzte der
Volksredner Becher, dessen Wort ans der Straße galt, hinunter, die Rasenden
zu besänftigen. Inzwischen raffte sich der Verfolgte zu einem Fluchtversuch auf
und kam glücklich drei Schritte weit, als ein Arbeiter ihm nachsprang und, eine
mannshohe faustdicke Stauge mit beideu Armen schwingend, gerade nach seinem
Kopfe ausholte. „Crepir', schwarzgelbe Canaille!" brüllte er, die rohe Waffe
sauste nieder und zersprang auf dem Pflaster in Stücken, hart an den Fersen
des Opfers, welches sie kaum um zwei Zoll gefehlt hatte. Hinter dem Gehetzten
schloß sich die nächste Hausthüre.

Tiefe Stille folgte endlich dem terroristischen Auftritt, der keine volle Minute
gewährt hatte, obgleich diese Minute uus eine Ewigkeit schien. Noch gellte mir
das blntlechzende Geschrei in den Ohren, noch sah ich die hilfeflehenden Blicke
des armen Schneiders vor mir, rings an den Fenstern die regungslosen Zuschauer
den Ausdruck lähmender Feigheit oder stumpfer Gedankenlosigkeit in den erstarrten
Gesichtern, darüber den blauen Himmel, gleichgiltig niederlächelnd, als sei der¬
gleichen mitten in Wien eine Alltagöscene. — „ Wie schnell das Volk häßlich wird
im Rausch des Kampfes", sagte ich. — „Bah!" entgegnete mein Freund, kalt¬
blütiger als ich; „zum Glück gab's mehr Geschrei als Prügel. So was pflegt
bei jeder Wirthshansschlägerei vorzukommen. Wir wollen sehen, wie die Revo¬
lution steht; gehen wir."

Das Wirthshaus war mit einem Mal wie ausgestorben, auch in deu nächsten
Gassen zeigte sich keine Seele. Erst ans dem Graben sanden wir einzelne be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/229>, abgerufen am 25.07.2024.