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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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selten Fäulniß, der wahrhaftig kein ideales Moment ist, hat demnach keine Be¬
rechnung in der Kunst. In seinem voreiligen titanischen Streben, der Prophet
einer neuen Zeit zu sein, geschieht es ihm, daß er nicht einmal seine eigne ver¬
steht, wie Meister Anton, und statt welterschütterude Fragen zu lösen oder anch
nnr zu stellen, sich mit individuellen Krankheitsgeschichten beschäftigt.

Allerdings sind die Anforderungen, die er an den Dichter stellt, ebenso
übertrieben als ungenau. Wenn er neben Sophokles und Shakespeare allenfalls
nur Goethe als dramatischen Dichter gelten läßt, von den übrigen mit der grö߬
ten Verachtung spricht, und andeutet, in seinen Werken solle nun eine neue Phase
der Kunst aufgehe", so ist mau uicht wenig überrascht, wenn er statt des Brodes
der Welt nur Steine vorsetzt -- freilich Diamanten und Rubinen. Es ist mit
jener Anforderung, das Drama solle eine "Weltanschauung" geben, nicht viel zu
machen. Dieses leidige Wort, bei welchem man sich ungefähr so viel oder, so
wenig denken kann, als bei dem Ausdruck "Volkssouveränetät," ist seit dem Faust
durch unsere halbphilosophischen Kuustkritiker so im Katechismus festgesetzt, daß
ein Drama, welches uicht eine Weltanschauung enthält, d. h. nicht alö rebus
omnidu8 et huidusäum ullis handelt, gar nicht mehr angesehen wird. Die
Schüler Goethe's und Hegel's sollten doch allmälig gelernt haben, daß "nur in
der Beschränkung sich der Meister zeigt," und daß das Endliche höher steht als
das (blos) Unendliche. Das angeblich Unendliche, welches natürlich nicht wirklich
dargestellt werden kann, verflüchtigt sich in Symbole und Allegorien, d. h. in
Anspielungen, zuletzt geradezu in Rebus, die zu errathen für einen leidlich ge¬
sunden Menschenverstand zu langweilig ist.

Jene großen Dichter, denen wir in der That eine "Weltanschauung" ver¬
danken, haben für sehr endliche Zwecke, für bestimmte Feste, bestimmte Bühnen,
bestimmte Schauspieler geschrieben. In der großen Seele eines Sophokles und
Shakespeare, in deren weichen und wohlgestimmten Saiten alle Töne des Zeit¬
alters nachzitterten -- eines Zeitalters, das nicht, wie Hebbel meint, die Geburts-
wehen eiuer neuen Zeit ausdrückt -- der Untergang des Griechenthums im
Alexandrinischen, des Römerthums im Zeitalter der Völkerwanderung hat kein
Theater hervorgebracht -- vielmehr in einem mächtigen Gesammtbild eine vollen¬
dete Entwickelungsperiode der > Menschheit zusammendrängt -- erstanden jene
Gebilde, die späteren Jahrtausenden nicht nur die Vergangenheit wiederherstellt,
sondern als Ausfluß der ewig gleichen Menschheit die Ideale eines edleren Seins
versinnlichen. Der moderne Dichter dagegen, der sich hinsetzt mit der Absicht,
eine Weltanschauung zu schaffen, und der mit ängstlicher Reflexion den Schein einer
Warte über die Zeit hinaus herzustellen sucht, wird nicht einmal den beschränkten
Forderungen der endlichen Kunst gerecht werden.

Weil er, trotz seiner Verachtung gegen die Anekdote -- den endlichen Stoff ---
die Anekdote doch nicht vermeiden kann, wird er ihr eine Idealität aufkünsteln


selten Fäulniß, der wahrhaftig kein ideales Moment ist, hat demnach keine Be¬
rechnung in der Kunst. In seinem voreiligen titanischen Streben, der Prophet
einer neuen Zeit zu sein, geschieht es ihm, daß er nicht einmal seine eigne ver¬
steht, wie Meister Anton, und statt welterschütterude Fragen zu lösen oder anch
nnr zu stellen, sich mit individuellen Krankheitsgeschichten beschäftigt.

Allerdings sind die Anforderungen, die er an den Dichter stellt, ebenso
übertrieben als ungenau. Wenn er neben Sophokles und Shakespeare allenfalls
nur Goethe als dramatischen Dichter gelten läßt, von den übrigen mit der grö߬
ten Verachtung spricht, und andeutet, in seinen Werken solle nun eine neue Phase
der Kunst aufgehe», so ist mau uicht wenig überrascht, wenn er statt des Brodes
der Welt nur Steine vorsetzt — freilich Diamanten und Rubinen. Es ist mit
jener Anforderung, das Drama solle eine „Weltanschauung" geben, nicht viel zu
machen. Dieses leidige Wort, bei welchem man sich ungefähr so viel oder, so
wenig denken kann, als bei dem Ausdruck „Volkssouveränetät," ist seit dem Faust
durch unsere halbphilosophischen Kuustkritiker so im Katechismus festgesetzt, daß
ein Drama, welches uicht eine Weltanschauung enthält, d. h. nicht alö rebus
omnidu8 et huidusäum ullis handelt, gar nicht mehr angesehen wird. Die
Schüler Goethe's und Hegel's sollten doch allmälig gelernt haben, daß „nur in
der Beschränkung sich der Meister zeigt," und daß das Endliche höher steht als
das (blos) Unendliche. Das angeblich Unendliche, welches natürlich nicht wirklich
dargestellt werden kann, verflüchtigt sich in Symbole und Allegorien, d. h. in
Anspielungen, zuletzt geradezu in Rebus, die zu errathen für einen leidlich ge¬
sunden Menschenverstand zu langweilig ist.

Jene großen Dichter, denen wir in der That eine „Weltanschauung" ver¬
danken, haben für sehr endliche Zwecke, für bestimmte Feste, bestimmte Bühnen,
bestimmte Schauspieler geschrieben. In der großen Seele eines Sophokles und
Shakespeare, in deren weichen und wohlgestimmten Saiten alle Töne des Zeit¬
alters nachzitterten — eines Zeitalters, das nicht, wie Hebbel meint, die Geburts-
wehen eiuer neuen Zeit ausdrückt — der Untergang des Griechenthums im
Alexandrinischen, des Römerthums im Zeitalter der Völkerwanderung hat kein
Theater hervorgebracht — vielmehr in einem mächtigen Gesammtbild eine vollen¬
dete Entwickelungsperiode der > Menschheit zusammendrängt — erstanden jene
Gebilde, die späteren Jahrtausenden nicht nur die Vergangenheit wiederherstellt,
sondern als Ausfluß der ewig gleichen Menschheit die Ideale eines edleren Seins
versinnlichen. Der moderne Dichter dagegen, der sich hinsetzt mit der Absicht,
eine Weltanschauung zu schaffen, und der mit ängstlicher Reflexion den Schein einer
Warte über die Zeit hinaus herzustellen sucht, wird nicht einmal den beschränkten
Forderungen der endlichen Kunst gerecht werden.

Weil er, trotz seiner Verachtung gegen die Anekdote — den endlichen Stoff -—
die Anekdote doch nicht vermeiden kann, wird er ihr eine Idealität aufkünsteln


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/220>, abgerufen am 24.07.2024.