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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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(z. B. in Moliöre's Geizigen) dadurch, daß sie gezwungener ist, daß der verbin¬
dende Faden der Fabel fehlt, und daß der Spaß durch eine gravitätische Leichen¬
bittermiene verkümmert wird. -- Wir können aber diese Art, Gestalten zu con-
cipiren, in all seinen Werken verfolgen. -- So ist "Herr Haidvogel" eine
Sammlung von Variationen über das Thema: liederlicher Lump mit einigen
Anklängen an die Misanthropie Nepomuk Schlägel's, von dem im "Trauerspiel von
Sicilien" eine zweite Auflage erscheint, Herr Gregorio, der in dem kurzen Raum,
den er einnimmt, unter andern folgende Geständnisse einer schönen Seele von sich
gibt: "Es mißfällt mir keineswegs, daß sich ein Anderer in dem Augenblick er¬
hängt, wo ich mein Mädchen an mich drücke;" -- "Hei, wenn es mir gefällt,
die ganze Ernte im Halm zu kaufen und sie steheu zu lassen für's Wild und sür
die Vögel: kümmert's wen?" -- "Ich will in meinem siebenzigsten Jahr das
schönste Mädchen noch zur Fran. Ich will's! Ist das genug?" (Shylock) --
"Wär' ich blind, so kauft' ich mir die besten Bilder aus und hinge sie in einem
Saal herum, den außer mir kein Mensch betreten dürste; und wär' ich taub, so
setzt' ich die Kapelle aus allen großen Virtuosen zusammen, die mir täglich spielen
müßte, mir ganz allein und keinem Andern mehr; denn hätte Raphael nur sür
mich gemalt und Palestrina nnr für mich gesetzt, ja nicht einmal für mich, das
wär' doch putzig; und wenn ich all das Zeug verbrennen ließe, die heiligen Fa¬
milien und Messen, so wär's vorbei mit der Unsterblichkeit! Da ich uur alt bin,
nehm' ich eine Frau." -- Diese löblichen Grundsätze sind nur um ihrer selbst
willen da, sie tragen zur Entwickelung der Handlung nicht wesentlich bei. --
Auch die nlisauthropisch-epigrannnatische Denk- und Empfindungsweise des Meister
Anton in Maria Magdalena geht nach derselben Richtung, obgleich hier, durch
Einmischung anderer Momente (sittliches und Ehrgefühl, so wie ein Nest ursprüng¬
licher Gutmüthigkeit) und durch Einwirkung großer Schicksale wenigstens dem An¬
schein nach eine größere Lebensfähigkeit hervorgebracht wird, obgleich man bei
genauerem Zusehn doch den Automaten entdeckt. -- Ich übergehe die zahlreichen
Conceptionen ähnlicher Art (obgleich ich dabei die Frage uicht unterdrücken
kann, ob ich mit der Ansicht meiner frühem Recension so Unrecht hatte, daß eine
poetische Anschauung, die sich beständig in dergleichen Häßlichkeiten bewegt, nicht
gesund sein könne), und mache nur noch auf das Forcirte der Empfindung auf¬
merksam, das sich nothwendig aus eiuer derartigem Charakterbildung ergibt.
Z. B. einer der Räuber im Trauerspiel vou Sicilien, zu dem sein Vater einmal
sagte: "Kauf nur den Segen ab, verdammter Bube, damit ich mich einmal be¬
trügen kann, sonst gebe ich Dir meinen Fluch umsonst," und der, Dank seiner
Erziehung, sobald er von einem recht edlen Menschen hört, sogleich bemerkt:
"Den untern Tisch zu saufen und dann vor eine Kirchenthür zu legen, das müßte
eine Götterwollnst sein! Ich mochte ihn im Katzenjammer sehn, besonders wenn
es just Charfreitag wäre!" -- Ist das Natur? -- Es ist Renommage! Und


(z. B. in Moliöre's Geizigen) dadurch, daß sie gezwungener ist, daß der verbin¬
dende Faden der Fabel fehlt, und daß der Spaß durch eine gravitätische Leichen¬
bittermiene verkümmert wird. — Wir können aber diese Art, Gestalten zu con-
cipiren, in all seinen Werken verfolgen. — So ist „Herr Haidvogel" eine
Sammlung von Variationen über das Thema: liederlicher Lump mit einigen
Anklängen an die Misanthropie Nepomuk Schlägel's, von dem im „Trauerspiel von
Sicilien" eine zweite Auflage erscheint, Herr Gregorio, der in dem kurzen Raum,
den er einnimmt, unter andern folgende Geständnisse einer schönen Seele von sich
gibt: „Es mißfällt mir keineswegs, daß sich ein Anderer in dem Augenblick er¬
hängt, wo ich mein Mädchen an mich drücke;" — „Hei, wenn es mir gefällt,
die ganze Ernte im Halm zu kaufen und sie steheu zu lassen für's Wild und sür
die Vögel: kümmert's wen?" — „Ich will in meinem siebenzigsten Jahr das
schönste Mädchen noch zur Fran. Ich will's! Ist das genug?" (Shylock) —
„Wär' ich blind, so kauft' ich mir die besten Bilder aus und hinge sie in einem
Saal herum, den außer mir kein Mensch betreten dürste; und wär' ich taub, so
setzt' ich die Kapelle aus allen großen Virtuosen zusammen, die mir täglich spielen
müßte, mir ganz allein und keinem Andern mehr; denn hätte Raphael nur sür
mich gemalt und Palestrina nnr für mich gesetzt, ja nicht einmal für mich, das
wär' doch putzig; und wenn ich all das Zeug verbrennen ließe, die heiligen Fa¬
milien und Messen, so wär's vorbei mit der Unsterblichkeit! Da ich uur alt bin,
nehm' ich eine Frau." — Diese löblichen Grundsätze sind nur um ihrer selbst
willen da, sie tragen zur Entwickelung der Handlung nicht wesentlich bei. —
Auch die nlisauthropisch-epigrannnatische Denk- und Empfindungsweise des Meister
Anton in Maria Magdalena geht nach derselben Richtung, obgleich hier, durch
Einmischung anderer Momente (sittliches und Ehrgefühl, so wie ein Nest ursprüng¬
licher Gutmüthigkeit) und durch Einwirkung großer Schicksale wenigstens dem An¬
schein nach eine größere Lebensfähigkeit hervorgebracht wird, obgleich man bei
genauerem Zusehn doch den Automaten entdeckt. — Ich übergehe die zahlreichen
Conceptionen ähnlicher Art (obgleich ich dabei die Frage uicht unterdrücken
kann, ob ich mit der Ansicht meiner frühem Recension so Unrecht hatte, daß eine
poetische Anschauung, die sich beständig in dergleichen Häßlichkeiten bewegt, nicht
gesund sein könne), und mache nur noch auf das Forcirte der Empfindung auf¬
merksam, das sich nothwendig aus eiuer derartigem Charakterbildung ergibt.
Z. B. einer der Räuber im Trauerspiel vou Sicilien, zu dem sein Vater einmal
sagte: „Kauf nur den Segen ab, verdammter Bube, damit ich mich einmal be¬
trügen kann, sonst gebe ich Dir meinen Fluch umsonst," und der, Dank seiner
Erziehung, sobald er von einem recht edlen Menschen hört, sogleich bemerkt:
„Den untern Tisch zu saufen und dann vor eine Kirchenthür zu legen, das müßte
eine Götterwollnst sein! Ich mochte ihn im Katzenjammer sehn, besonders wenn
es just Charfreitag wäre!" — Ist das Natur? — Es ist Renommage! Und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/213>, abgerufen am 23.07.2024.