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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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schön, wünschenswert!), selten genug, daß ich eine Wissenschaft preise, die dazu
führt. In der Nähe betrachtet liegt die Verzweiflung ans dem Grnnde des
Lebens eines Jeden; sie ist das tägliche Brod der meisten Seelen, nur gestehen
sie es nicht. Sie verhüllen und schmücken sie, sie bekränzen sie mit Blumen; sie
ist darum uicht weniger da, denn die Verzweiflung ist die Wahrheit ohne Jesus
Christus. Mau muß diese Wirklichkeit kennen lernen; die Philosophie zwingt uus
dazu." -- (p. 19.) Woher zuweilen das schwermüthige Gefühl beim Nuschanen
der Natur? -- "Weil wir zwischeu ihr und uns eine Verschiedenheit der Stim¬
mung bemerken, die eiuen Mißton hervorbringt. Wir können uns nicht bis zu
ihr erheben, und wenn sie sich so bezaubernd und ruhig zeigt, so ruft uus eine
innere Stimme zu, daß wir wie ein Flecken in dem Gemälde stehen. .. Dagegen
wenn graue Wolkell u. s. w., sollte man da nicht sagen, daß unsere Traurigkeit
(ti'i8tes8s, als immanente Eigenschaft des Menschen) aus uus heraustöut, um sich
über die Natur zu verbreiten?" -- (p. 163): "Unaufhörlich das Ideal verfolgen
und an ungestillten Durste sterben, das ist das Höchste, wohin die menschliche
Sittlichkeit gelangen kann." -- Noch im Zustand des Scepticismus erläutert Vau-
dreuil seinem Freunde (p. 190): "Damit ein glänzender Sieg das Böse ans
immer überwinde, muß eine neue Thatsache kommen, unermeßlich wie die erste,
tiefgreifeud in ihren Folgen, von Gott selbst ansfließend. Um solche Ergebnisse
hervorzubringen, genügen nicht die dnrch die kalte Vernunft oder dnrch die finstere
Verzweiflung ewiger Philosophen erzeugten Träumereien; es genügen nicht die
Zuckungen eiuer furchtsamen Andacht, noch die ohnmächtige, wiederholte Rene der
auserwählten Seelen: es bedarf eines allumfassenden Heilmittels für ein allum¬
fassendes Uebel. . . . Sollte dieses Heilmittel uicht vorhanden sein?
Sollte Gott nichts dem Falle, dem tiefen Falle entgegengesetzt haben? Wenn
der Mensch gewaltsamer Weise ans den Bahnen der Natur herausgetreten ist, um
sich in den Abgrund zu stürzen, warum sollte uicht Gott auch aus ihnen heraus¬
treten, um sein Geschöpf wieder aufzurichten?" -- Endlich das Werden der Be¬
kehrung (p. 186): "Er war ruhig, obgleich bewegt und betrübt. Er fühlte
undeutlich, sein Elend zu erkennen und zu beklagen, sei ein erster Schritt zum
Guten. Er glaubte nicht an die Wiedererhebung, er hatte auch keinen Grund,
daran zu glauben, und doch fanden sich in seinem Herzen Empfindungen, die sich
nnr aus der Hoffnung erklären lassen. -- Der Name Gottes erweckte in ihm
unaussprechliche Regungen. ... Er ahnte die unbegreifliche Liebe Gottes, und
im voraus empfand er dafür eine Art Dankbarkeit, welche sich in Freude zu ver¬
wandeln begehrte." --

Das ist eine Auffassung, wie wir sie bei Montaigne und Pascal gemalt
wiederfinden. Ich könnte lange Stellen abschreiben. Ich muß dabei bemerken,
daß es in unserm Roman keineswegs bloße Reminiscenzen sind; jene Gedanken,


schön, wünschenswert!), selten genug, daß ich eine Wissenschaft preise, die dazu
führt. In der Nähe betrachtet liegt die Verzweiflung ans dem Grnnde des
Lebens eines Jeden; sie ist das tägliche Brod der meisten Seelen, nur gestehen
sie es nicht. Sie verhüllen und schmücken sie, sie bekränzen sie mit Blumen; sie
ist darum uicht weniger da, denn die Verzweiflung ist die Wahrheit ohne Jesus
Christus. Mau muß diese Wirklichkeit kennen lernen; die Philosophie zwingt uus
dazu." — (p. 19.) Woher zuweilen das schwermüthige Gefühl beim Nuschanen
der Natur? — „Weil wir zwischeu ihr und uns eine Verschiedenheit der Stim¬
mung bemerken, die eiuen Mißton hervorbringt. Wir können uns nicht bis zu
ihr erheben, und wenn sie sich so bezaubernd und ruhig zeigt, so ruft uus eine
innere Stimme zu, daß wir wie ein Flecken in dem Gemälde stehen. .. Dagegen
wenn graue Wolkell u. s. w., sollte man da nicht sagen, daß unsere Traurigkeit
(ti'i8tes8s, als immanente Eigenschaft des Menschen) aus uus heraustöut, um sich
über die Natur zu verbreiten?" — (p. 163): „Unaufhörlich das Ideal verfolgen
und an ungestillten Durste sterben, das ist das Höchste, wohin die menschliche
Sittlichkeit gelangen kann." — Noch im Zustand des Scepticismus erläutert Vau-
dreuil seinem Freunde (p. 190): „Damit ein glänzender Sieg das Böse ans
immer überwinde, muß eine neue Thatsache kommen, unermeßlich wie die erste,
tiefgreifeud in ihren Folgen, von Gott selbst ansfließend. Um solche Ergebnisse
hervorzubringen, genügen nicht die dnrch die kalte Vernunft oder dnrch die finstere
Verzweiflung ewiger Philosophen erzeugten Träumereien; es genügen nicht die
Zuckungen eiuer furchtsamen Andacht, noch die ohnmächtige, wiederholte Rene der
auserwählten Seelen: es bedarf eines allumfassenden Heilmittels für ein allum¬
fassendes Uebel. . . . Sollte dieses Heilmittel uicht vorhanden sein?
Sollte Gott nichts dem Falle, dem tiefen Falle entgegengesetzt haben? Wenn
der Mensch gewaltsamer Weise ans den Bahnen der Natur herausgetreten ist, um
sich in den Abgrund zu stürzen, warum sollte uicht Gott auch aus ihnen heraus¬
treten, um sein Geschöpf wieder aufzurichten?" — Endlich das Werden der Be¬
kehrung (p. 186): „Er war ruhig, obgleich bewegt und betrübt. Er fühlte
undeutlich, sein Elend zu erkennen und zu beklagen, sei ein erster Schritt zum
Guten. Er glaubte nicht an die Wiedererhebung, er hatte auch keinen Grund,
daran zu glauben, und doch fanden sich in seinem Herzen Empfindungen, die sich
nnr aus der Hoffnung erklären lassen. — Der Name Gottes erweckte in ihm
unaussprechliche Regungen. ... Er ahnte die unbegreifliche Liebe Gottes, und
im voraus empfand er dafür eine Art Dankbarkeit, welche sich in Freude zu ver¬
wandeln begehrte." —

Das ist eine Auffassung, wie wir sie bei Montaigne und Pascal gemalt
wiederfinden. Ich könnte lange Stellen abschreiben. Ich muß dabei bemerken,
daß es in unserm Roman keineswegs bloße Reminiscenzen sind; jene Gedanken,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/21>, abgerufen am 22.07.2024.