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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Aber der Jude war bisher in seiner bürgerlichen Stellung stets so sehr mit
seiner Religion verbunden, daß er selbst zur Zeit der größten politischen Aufre¬
gung, wo anderwärts die Kirche ganz in deu Hintergrund trat, seine religiösen
Verhältnisse uicht vergessen konnte, und so entstand gleich nach den Märztagen
eine bedeutende religiöse Bewegung unter den ungarischen Juden, besonders aber
uuter den Juden Pesths.

In jener Zeit der großen Anforderungen machte sich nämlich unter der jü¬
dischen Bevölkerung Pesths der Wunsch geltend: die Vorsteher der Gemeinde
möchten sür^ihre langjährige Verwaltung Rechnung ablegen, und die Angelegen¬
heiten der Gemeinde möchten für die Zukunft durch einen von der Gesammtbe-
völkerung gewählten Nepräsentativkörper geführt werden. Die Vorsteher sahen
sich gezwungen, momentan nachzugeben, und ließen nach einem improvisirten
Wahlmodus ein Comite aus allen Classen der jüdischen Bevölkerung Pesths zu¬
sammenberufen, welchem die Aufgabe wurde, ein Statut für die künftige Verwal-
tnngöart der Gemeinde auszuarbeiten. In diesem Comite kamen anch die kund¬
gewordenen Wünsche wegen religiöser Reformen zur Sprache, und diese Frage
wurde einer Section übergeben, die auch uuter dem Vorsitz des Nabbinatscandi-
daten und damaligen Redacteurs des "Ungarischen Jsraeliten", J.E.Einhorn, einen
Entwurf ausarbeitete und dem Comite vorlegte. Nun aber wußte man nicht, was mit
diesem Entwurf anzufangen. Die Orthodoxen wollten ihn gerade dem Rabbiner
der Gemeinde, L. Schwab, übergeben, der zwar ihnen selbst zu viel Reformer ist,
von dem sie aber wußten, daß er bei seiner allbekannten und unverzeihlicher
Trägheit das Ganze wenigstens hinausschieben werde, und ihnen war es nur
darum zu thun: Zeit zu gewinnen. Die Eutschiedeusten wollten die Reformen
sogleich vom Comite ausführen lassen, was aber nicht wohl anging, da das
Comite eigentlich kein kirchliches war, und sein Mandat nur der Verwaltung
der Gemeinde galt. Die Mittelpartei wollte durch deu Vorstand die Regierung
um die Berufung einer ans Laien und Rabbinern zusammengesetzten Synode an¬
gehen lassen, um dieser Synode deu Entwurf vorzulegen. Allein die Vorsteher,
die weder religiöse noch Verwaltnngsreformen wollten, brachten es in den bald
darauf gefolgten politischen Wirren dahin, daß das ganze Comite zu wirken auf¬
hörte; und uur die entschiedensten Reformer traten zu einer Privatgesellschaft
zusammen, setzten sich ans dein Stegreif einige Glaubenssätze sest, schieden aus,
was ihnen am Judenthum unbequem war, und schickten den von ihnen erwähl¬
ten jungen Seelsorger Einhorn nach Berlin, um sich dort bei dem Rabbiner
Holdheim das Muster zu einer in Pesth zu errichtenden Neformgenossenschaft zu
holen. Diese Gesellschaft zählte mehrere reiche Familien, und einige Doctoren
der Medicin -- die bei allen Reformen im ungarischen Judenthum eine bedeu¬
tende Rolle spielen -- in ihrer Mitte, und in kurzer Zeit hatte die Genossen¬
schaft ein eigenes Bethaus im Valero'schen Gebäude mit Orgel und Choralgesang,


Grenzvoten. IV. 1850. 88

Aber der Jude war bisher in seiner bürgerlichen Stellung stets so sehr mit
seiner Religion verbunden, daß er selbst zur Zeit der größten politischen Aufre¬
gung, wo anderwärts die Kirche ganz in deu Hintergrund trat, seine religiösen
Verhältnisse uicht vergessen konnte, und so entstand gleich nach den Märztagen
eine bedeutende religiöse Bewegung unter den ungarischen Juden, besonders aber
uuter den Juden Pesths.

In jener Zeit der großen Anforderungen machte sich nämlich unter der jü¬
dischen Bevölkerung Pesths der Wunsch geltend: die Vorsteher der Gemeinde
möchten sür^ihre langjährige Verwaltung Rechnung ablegen, und die Angelegen¬
heiten der Gemeinde möchten für die Zukunft durch einen von der Gesammtbe-
völkerung gewählten Nepräsentativkörper geführt werden. Die Vorsteher sahen
sich gezwungen, momentan nachzugeben, und ließen nach einem improvisirten
Wahlmodus ein Comite aus allen Classen der jüdischen Bevölkerung Pesths zu¬
sammenberufen, welchem die Aufgabe wurde, ein Statut für die künftige Verwal-
tnngöart der Gemeinde auszuarbeiten. In diesem Comite kamen anch die kund¬
gewordenen Wünsche wegen religiöser Reformen zur Sprache, und diese Frage
wurde einer Section übergeben, die auch uuter dem Vorsitz des Nabbinatscandi-
daten und damaligen Redacteurs des „Ungarischen Jsraeliten", J.E.Einhorn, einen
Entwurf ausarbeitete und dem Comite vorlegte. Nun aber wußte man nicht, was mit
diesem Entwurf anzufangen. Die Orthodoxen wollten ihn gerade dem Rabbiner
der Gemeinde, L. Schwab, übergeben, der zwar ihnen selbst zu viel Reformer ist,
von dem sie aber wußten, daß er bei seiner allbekannten und unverzeihlicher
Trägheit das Ganze wenigstens hinausschieben werde, und ihnen war es nur
darum zu thun: Zeit zu gewinnen. Die Eutschiedeusten wollten die Reformen
sogleich vom Comite ausführen lassen, was aber nicht wohl anging, da das
Comite eigentlich kein kirchliches war, und sein Mandat nur der Verwaltung
der Gemeinde galt. Die Mittelpartei wollte durch deu Vorstand die Regierung
um die Berufung einer ans Laien und Rabbinern zusammengesetzten Synode an¬
gehen lassen, um dieser Synode deu Entwurf vorzulegen. Allein die Vorsteher,
die weder religiöse noch Verwaltnngsreformen wollten, brachten es in den bald
darauf gefolgten politischen Wirren dahin, daß das ganze Comite zu wirken auf¬
hörte; und uur die entschiedensten Reformer traten zu einer Privatgesellschaft
zusammen, setzten sich ans dein Stegreif einige Glaubenssätze sest, schieden aus,
was ihnen am Judenthum unbequem war, und schickten den von ihnen erwähl¬
ten jungen Seelsorger Einhorn nach Berlin, um sich dort bei dem Rabbiner
Holdheim das Muster zu einer in Pesth zu errichtenden Neformgenossenschaft zu
holen. Diese Gesellschaft zählte mehrere reiche Familien, und einige Doctoren
der Medicin — die bei allen Reformen im ungarischen Judenthum eine bedeu¬
tende Rolle spielen — in ihrer Mitte, und in kurzer Zeit hatte die Genossen¬
schaft ein eigenes Bethaus im Valero'schen Gebäude mit Orgel und Choralgesang,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/185>, abgerufen am 22.07.2024.