Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Haß gegen die Negierung, welche den liberalen Ideen ebenso wie dem neu adop-
tirten Vaterlande feindlich gegenübersteht.

Von 1840 bis 1848 blieb die Judenfrage sonderbarerweise gänzlich stehen.
Die liberale Partei hatte in dieser Zeit mit der nen restaurirten Regierungspartei
vollauf zu thun, und konnte weniger an Erobern als an Abwehren denken; aber
die liberale Presse, und besonders Kossuch in seinem ?esU Nirwp vertheidigte die
Juden gegen die Augriffe der Conservativen; Kossuth sprach oft in seiner Weise
ein kräftiges Wort für ihre Gleichstellung; Baron Eötvös schrieb eine eigene
Brochure für die Emancipation. Die Juden selbst konnten nur wenig für ihre
eigene Sache thun, da die Negierung in diesem Punkte unzugänglich war, und
sie genug Einsicht hatten, die liberale Partei, die es gewiß ehrlich mit ihnen
meinte, nicht zu drängen. Aber die Stockung, welche in ihrem politischen Leben
eintrat, machte sich auf religiösem Gebiete Luft, und die in Deutschland durch
Dr. Philipsohn's "Zeitung des Judenthums" und die dadurch angeregten Rabbiner-
versammluugen hervorgerufene Reformbewegung wurde auch diesseits der Karpathen
gefühlt, es regten sich in den Gemeinden, besonders unter der jüngern Geueration,
viele Elemente der socialen Reform und des religiösen Fortschritts. Die Be-
strebungen hatten in vielen Gemeinden, wie in Pesth, Preßburg, Gr. Kauizsa,
Arad u. A. schönen Erfolg, und manche Israelitische Schule in Ungarn, welche
mit deutschen Schulen dieses Grades wetteifern könnte, verdankt dieser Epoche
ihre Entstehung.

Dieser Action folgte aber schnell die Reaction, und das orthodoxe Nabbiner-
thum, welches bis dahin in einem friedlichen Zustande der Vegetation gelebt, und
sich höchstens in casuistischen Windmühlenkämpsen, in neuen Speiseverboten und
Genußbeschränkungen kundgegeben, rasselte jetzt mit seiner verrosteten Rüstung
und den Waffen ohne Schneide zum Krieg gegen die Epikorsim*). An der
Spitze dieser Krieger des Herrn stand der hochberühmte Moses Sopher zu Pre߬
burg, ein mehr listiger als fanatischer "Külü-Peter", der sich in allen ungarischen
Gemeinden einer großen Popularität, und bei fast allen Rabbinern des Landes
einer sichern Autorität erfreute, fo daß er für,den Landrabbiner Ungarns gelten
konnte, obwohl diese Würde in Ungarn gar nicht existirte. Dieser kluge Rabbi
hätte noch viel für den religiösen Stabilismns bei den Juden in Ungarn thun
können, wenn nicht das Heer der Orthodoxen selbst schon in zwei Lager getheilt
gewesen wäre. -- Die Judengemeinden in Ungarn sind nämlich von zwei Seiten
her gegründet und bevölkert worden: Deutschland lieferte sein Contingent für den
Nordwesten, Westen und Süden, Polen und Rußland für den Nordosten und
Osten Ungarns. Die deutsch-ungarischen Gemeinden an der Donau, Waag und



*) Epicurcier, -- so werden von den orthodoxen Juden alle Reformer und Anhänger des
Fortschritts genannt.

Haß gegen die Negierung, welche den liberalen Ideen ebenso wie dem neu adop-
tirten Vaterlande feindlich gegenübersteht.

Von 1840 bis 1848 blieb die Judenfrage sonderbarerweise gänzlich stehen.
Die liberale Partei hatte in dieser Zeit mit der nen restaurirten Regierungspartei
vollauf zu thun, und konnte weniger an Erobern als an Abwehren denken; aber
die liberale Presse, und besonders Kossuch in seinem ?esU Nirwp vertheidigte die
Juden gegen die Augriffe der Conservativen; Kossuth sprach oft in seiner Weise
ein kräftiges Wort für ihre Gleichstellung; Baron Eötvös schrieb eine eigene
Brochure für die Emancipation. Die Juden selbst konnten nur wenig für ihre
eigene Sache thun, da die Negierung in diesem Punkte unzugänglich war, und
sie genug Einsicht hatten, die liberale Partei, die es gewiß ehrlich mit ihnen
meinte, nicht zu drängen. Aber die Stockung, welche in ihrem politischen Leben
eintrat, machte sich auf religiösem Gebiete Luft, und die in Deutschland durch
Dr. Philipsohn's „Zeitung des Judenthums" und die dadurch angeregten Rabbiner-
versammluugen hervorgerufene Reformbewegung wurde auch diesseits der Karpathen
gefühlt, es regten sich in den Gemeinden, besonders unter der jüngern Geueration,
viele Elemente der socialen Reform und des religiösen Fortschritts. Die Be-
strebungen hatten in vielen Gemeinden, wie in Pesth, Preßburg, Gr. Kauizsa,
Arad u. A. schönen Erfolg, und manche Israelitische Schule in Ungarn, welche
mit deutschen Schulen dieses Grades wetteifern könnte, verdankt dieser Epoche
ihre Entstehung.

Dieser Action folgte aber schnell die Reaction, und das orthodoxe Nabbiner-
thum, welches bis dahin in einem friedlichen Zustande der Vegetation gelebt, und
sich höchstens in casuistischen Windmühlenkämpsen, in neuen Speiseverboten und
Genußbeschränkungen kundgegeben, rasselte jetzt mit seiner verrosteten Rüstung
und den Waffen ohne Schneide zum Krieg gegen die Epikorsim*). An der
Spitze dieser Krieger des Herrn stand der hochberühmte Moses Sopher zu Pre߬
burg, ein mehr listiger als fanatischer „Külü-Peter", der sich in allen ungarischen
Gemeinden einer großen Popularität, und bei fast allen Rabbinern des Landes
einer sichern Autorität erfreute, fo daß er für,den Landrabbiner Ungarns gelten
konnte, obwohl diese Würde in Ungarn gar nicht existirte. Dieser kluge Rabbi
hätte noch viel für den religiösen Stabilismns bei den Juden in Ungarn thun
können, wenn nicht das Heer der Orthodoxen selbst schon in zwei Lager getheilt
gewesen wäre. — Die Judengemeinden in Ungarn sind nämlich von zwei Seiten
her gegründet und bevölkert worden: Deutschland lieferte sein Contingent für den
Nordwesten, Westen und Süden, Polen und Rußland für den Nordosten und
Osten Ungarns. Die deutsch-ungarischen Gemeinden an der Donau, Waag und



*) Epicurcier, — so werden von den orthodoxen Juden alle Reformer und Anhänger des
Fortschritts genannt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92471"/>
          <p xml:id="ID_594" prev="#ID_593"> Haß gegen die Negierung, welche den liberalen Ideen ebenso wie dem neu adop-<lb/>
tirten Vaterlande feindlich gegenübersteht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_595"> Von 1840 bis 1848 blieb die Judenfrage sonderbarerweise gänzlich stehen.<lb/>
Die liberale Partei hatte in dieser Zeit mit der nen restaurirten Regierungspartei<lb/>
vollauf zu thun, und konnte weniger an Erobern als an Abwehren denken; aber<lb/>
die liberale Presse, und besonders Kossuch in seinem ?esU Nirwp vertheidigte die<lb/>
Juden gegen die Augriffe der Conservativen; Kossuth sprach oft in seiner Weise<lb/>
ein kräftiges Wort für ihre Gleichstellung; Baron Eötvös schrieb eine eigene<lb/>
Brochure für die Emancipation. Die Juden selbst konnten nur wenig für ihre<lb/>
eigene Sache thun, da die Negierung in diesem Punkte unzugänglich war, und<lb/>
sie genug Einsicht hatten, die liberale Partei, die es gewiß ehrlich mit ihnen<lb/>
meinte, nicht zu drängen. Aber die Stockung, welche in ihrem politischen Leben<lb/>
eintrat, machte sich auf religiösem Gebiete Luft, und die in Deutschland durch<lb/>
Dr. Philipsohn's &#x201E;Zeitung des Judenthums" und die dadurch angeregten Rabbiner-<lb/>
versammluugen hervorgerufene Reformbewegung wurde auch diesseits der Karpathen<lb/>
gefühlt, es regten sich in den Gemeinden, besonders unter der jüngern Geueration,<lb/>
viele Elemente der socialen Reform und des religiösen Fortschritts. Die Be-<lb/>
strebungen hatten in vielen Gemeinden, wie in Pesth, Preßburg, Gr. Kauizsa,<lb/>
Arad u. A. schönen Erfolg, und manche Israelitische Schule in Ungarn, welche<lb/>
mit deutschen Schulen dieses Grades wetteifern könnte, verdankt dieser Epoche<lb/>
ihre Entstehung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_596" next="#ID_597"> Dieser Action folgte aber schnell die Reaction, und das orthodoxe Nabbiner-<lb/>
thum, welches bis dahin in einem friedlichen Zustande der Vegetation gelebt, und<lb/>
sich höchstens in casuistischen Windmühlenkämpsen, in neuen Speiseverboten und<lb/>
Genußbeschränkungen kundgegeben, rasselte jetzt mit seiner verrosteten Rüstung<lb/>
und den Waffen ohne Schneide zum Krieg gegen die Epikorsim*). An der<lb/>
Spitze dieser Krieger des Herrn stand der hochberühmte Moses Sopher zu Pre߬<lb/>
burg, ein mehr listiger als fanatischer &#x201E;Külü-Peter", der sich in allen ungarischen<lb/>
Gemeinden einer großen Popularität, und bei fast allen Rabbinern des Landes<lb/>
einer sichern Autorität erfreute, fo daß er für,den Landrabbiner Ungarns gelten<lb/>
konnte, obwohl diese Würde in Ungarn gar nicht existirte. Dieser kluge Rabbi<lb/>
hätte noch viel für den religiösen Stabilismns bei den Juden in Ungarn thun<lb/>
können, wenn nicht das Heer der Orthodoxen selbst schon in zwei Lager getheilt<lb/>
gewesen wäre. &#x2014; Die Judengemeinden in Ungarn sind nämlich von zwei Seiten<lb/>
her gegründet und bevölkert worden: Deutschland lieferte sein Contingent für den<lb/>
Nordwesten, Westen und Süden, Polen und Rußland für den Nordosten und<lb/>
Osten Ungarns. Die deutsch-ungarischen Gemeinden an der Donau, Waag und</p><lb/>
          <note xml:id="FID_18" place="foot"> *) Epicurcier, &#x2014; so werden von den orthodoxen Juden alle Reformer und Anhänger des<lb/>
Fortschritts genannt.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0182] Haß gegen die Negierung, welche den liberalen Ideen ebenso wie dem neu adop- tirten Vaterlande feindlich gegenübersteht. Von 1840 bis 1848 blieb die Judenfrage sonderbarerweise gänzlich stehen. Die liberale Partei hatte in dieser Zeit mit der nen restaurirten Regierungspartei vollauf zu thun, und konnte weniger an Erobern als an Abwehren denken; aber die liberale Presse, und besonders Kossuch in seinem ?esU Nirwp vertheidigte die Juden gegen die Augriffe der Conservativen; Kossuth sprach oft in seiner Weise ein kräftiges Wort für ihre Gleichstellung; Baron Eötvös schrieb eine eigene Brochure für die Emancipation. Die Juden selbst konnten nur wenig für ihre eigene Sache thun, da die Negierung in diesem Punkte unzugänglich war, und sie genug Einsicht hatten, die liberale Partei, die es gewiß ehrlich mit ihnen meinte, nicht zu drängen. Aber die Stockung, welche in ihrem politischen Leben eintrat, machte sich auf religiösem Gebiete Luft, und die in Deutschland durch Dr. Philipsohn's „Zeitung des Judenthums" und die dadurch angeregten Rabbiner- versammluugen hervorgerufene Reformbewegung wurde auch diesseits der Karpathen gefühlt, es regten sich in den Gemeinden, besonders unter der jüngern Geueration, viele Elemente der socialen Reform und des religiösen Fortschritts. Die Be- strebungen hatten in vielen Gemeinden, wie in Pesth, Preßburg, Gr. Kauizsa, Arad u. A. schönen Erfolg, und manche Israelitische Schule in Ungarn, welche mit deutschen Schulen dieses Grades wetteifern könnte, verdankt dieser Epoche ihre Entstehung. Dieser Action folgte aber schnell die Reaction, und das orthodoxe Nabbiner- thum, welches bis dahin in einem friedlichen Zustande der Vegetation gelebt, und sich höchstens in casuistischen Windmühlenkämpsen, in neuen Speiseverboten und Genußbeschränkungen kundgegeben, rasselte jetzt mit seiner verrosteten Rüstung und den Waffen ohne Schneide zum Krieg gegen die Epikorsim*). An der Spitze dieser Krieger des Herrn stand der hochberühmte Moses Sopher zu Pre߬ burg, ein mehr listiger als fanatischer „Külü-Peter", der sich in allen ungarischen Gemeinden einer großen Popularität, und bei fast allen Rabbinern des Landes einer sichern Autorität erfreute, fo daß er für,den Landrabbiner Ungarns gelten konnte, obwohl diese Würde in Ungarn gar nicht existirte. Dieser kluge Rabbi hätte noch viel für den religiösen Stabilismns bei den Juden in Ungarn thun können, wenn nicht das Heer der Orthodoxen selbst schon in zwei Lager getheilt gewesen wäre. — Die Judengemeinden in Ungarn sind nämlich von zwei Seiten her gegründet und bevölkert worden: Deutschland lieferte sein Contingent für den Nordwesten, Westen und Süden, Polen und Rußland für den Nordosten und Osten Ungarns. Die deutsch-ungarischen Gemeinden an der Donau, Waag und *) Epicurcier, — so werden von den orthodoxen Juden alle Reformer und Anhänger des Fortschritts genannt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/182
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/182>, abgerufen am 22.07.2024.