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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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ließen den von Natur zur Toleranz geneigten ungarischen Edelmann gerechter
gegen den Bürger und schonender gegen Juden und Bauer werden. Mit der
Stärkung des liberalen Princips unter dem ungarischen Adel kam das Streben,
den Bürger durch nähere Betheiligung an der Constitution zum Patrioten, den
Bauer durch Ablösung zum Staatsbürger zu macheu, und den Juden durch Ent¬
rechtung zum menschlichen Bewußtsein zu bringen. So entstanden seit 1790 die
Städte-, Bauern- und die Emancipationsfragen, letztere wurde besonders im
Reichstag 18?-', mit großem Eifer und schönem Erfolg verhandelt. Die Stände¬
tafel -- das Unterhaus -- trug mit großer Majorität auf völlige Gleichstellung
der Juden mit den übrigen nichtadeligen Einwohnern an, und obwohl dieser
Gesetzoorschlag von der Majorität der Magnatentafel zurückgewiesen wurde, so
erhielten doch die Juden in diesem Reichstag das Recht, in allen königlichen Frei¬
städter -- mit Ausnahme der Bergstädte -- auch außerhalb des Ghetto zu wohnen,
Handwerke frei auszuüben, Fabriken zu errichten, bürgerliche und Bauerugrüude
zu kaufen u. s. w. Diese Concessionen waren zwar sehr ungenügend, da bei der
damaligen Zügellosigkeit mancher Municipien besonders die städtischen Pfahlbürger
den Juden bei der Ausübung vou Handwerken und Erwerbung von Grundstücken
alle mögliche Hindernisse in deu Weg schoben; aber der moralische Eindruck, den
die zu ihren Gunsten gehaltenen Neichstagsreden der Oppositionsmäuuer auf die
Presse und die Denkungsweise des Volkes ausübten, so wie die Energie, welche
einzelne Beamten in Vertheidigung der den Juden ertheilten Rechte entwickelten,
waren von großer Rückwirkung auf die Einwohner deö Ghetto; die Juden fühlten
sich nicht mehr ganz fremd in einem Lande, in dem sich aus dem allein mächtigen
Herrenstande so viele Stimmen zu ihrem Vortheil erhoben; und da ihre Sagacität
bald herausfand, daß sie ihre Freunde in dem das Magoarenthum repräsentierenden
niedern Adel, ihre Feinde aber in dem mit der Regierung und auf Ordre der
Negierung handelnden Magnatenthum, und dem im eigenen Interesse eifernden
Spießbürgertum zu suchen hatten, so bildete sich schnell bei ihnen jene politische
Richtung aus, welche sie in neuester Zeit verfolgt haben, Liebe zu dem Lande,
welches sie als ihr Vaterland betrachten, mit fast gänzlichem Llufgeben Jerusalems^),
Liebe zu dem der Toleranz und den liberalen Ideen am meisten zugänglichen
Magyarenthume, Kampf gegen das Privilegium, es stehe unter dem Schutze
eiues schlichten Regenschirms, oder werde von einer gräflichen Carrosse getragen;



Noch heute ist das religiös-orthodoxe Element im ungarischen Judenthum stark ver¬
trete,:; doch habe ich aus dem Munde vieler streng orthodoxen Jude" die geläufige Ansicht aus-
sprechen gehört: daß zwar der Messias gewiß kommen werde und kommen müsse, und es sie
gewiß freuen würde, zu erleben, wie der Tempel Jehova'ö wieder erbaut und der Hohepriester
wieder eingesetzt wird; allein folgen mögen dem Messias die gedrückten Juden aus Polen,
Nußland, Böhmen, Mähren und der Türkei; ihnen, den ungarischen, werde Jehova ver¬
geben, wenn sie bei ihren Häusern, Schafen und Rindern in dem gesegneten Ungarn bleiben,
und ihre Opfer in baarem Gelde nach der heiligen Stadt senden.

ließen den von Natur zur Toleranz geneigten ungarischen Edelmann gerechter
gegen den Bürger und schonender gegen Juden und Bauer werden. Mit der
Stärkung des liberalen Princips unter dem ungarischen Adel kam das Streben,
den Bürger durch nähere Betheiligung an der Constitution zum Patrioten, den
Bauer durch Ablösung zum Staatsbürger zu macheu, und den Juden durch Ent¬
rechtung zum menschlichen Bewußtsein zu bringen. So entstanden seit 1790 die
Städte-, Bauern- und die Emancipationsfragen, letztere wurde besonders im
Reichstag 18?-', mit großem Eifer und schönem Erfolg verhandelt. Die Stände¬
tafel — das Unterhaus — trug mit großer Majorität auf völlige Gleichstellung
der Juden mit den übrigen nichtadeligen Einwohnern an, und obwohl dieser
Gesetzoorschlag von der Majorität der Magnatentafel zurückgewiesen wurde, so
erhielten doch die Juden in diesem Reichstag das Recht, in allen königlichen Frei¬
städter — mit Ausnahme der Bergstädte — auch außerhalb des Ghetto zu wohnen,
Handwerke frei auszuüben, Fabriken zu errichten, bürgerliche und Bauerugrüude
zu kaufen u. s. w. Diese Concessionen waren zwar sehr ungenügend, da bei der
damaligen Zügellosigkeit mancher Municipien besonders die städtischen Pfahlbürger
den Juden bei der Ausübung vou Handwerken und Erwerbung von Grundstücken
alle mögliche Hindernisse in deu Weg schoben; aber der moralische Eindruck, den
die zu ihren Gunsten gehaltenen Neichstagsreden der Oppositionsmäuuer auf die
Presse und die Denkungsweise des Volkes ausübten, so wie die Energie, welche
einzelne Beamten in Vertheidigung der den Juden ertheilten Rechte entwickelten,
waren von großer Rückwirkung auf die Einwohner deö Ghetto; die Juden fühlten
sich nicht mehr ganz fremd in einem Lande, in dem sich aus dem allein mächtigen
Herrenstande so viele Stimmen zu ihrem Vortheil erhoben; und da ihre Sagacität
bald herausfand, daß sie ihre Freunde in dem das Magoarenthum repräsentierenden
niedern Adel, ihre Feinde aber in dem mit der Regierung und auf Ordre der
Negierung handelnden Magnatenthum, und dem im eigenen Interesse eifernden
Spießbürgertum zu suchen hatten, so bildete sich schnell bei ihnen jene politische
Richtung aus, welche sie in neuester Zeit verfolgt haben, Liebe zu dem Lande,
welches sie als ihr Vaterland betrachten, mit fast gänzlichem Llufgeben Jerusalems^),
Liebe zu dem der Toleranz und den liberalen Ideen am meisten zugänglichen
Magyarenthume, Kampf gegen das Privilegium, es stehe unter dem Schutze
eiues schlichten Regenschirms, oder werde von einer gräflichen Carrosse getragen;



Noch heute ist das religiös-orthodoxe Element im ungarischen Judenthum stark ver¬
trete,:; doch habe ich aus dem Munde vieler streng orthodoxen Jude» die geläufige Ansicht aus-
sprechen gehört: daß zwar der Messias gewiß kommen werde und kommen müsse, und es sie
gewiß freuen würde, zu erleben, wie der Tempel Jehova'ö wieder erbaut und der Hohepriester
wieder eingesetzt wird; allein folgen mögen dem Messias die gedrückten Juden aus Polen,
Nußland, Böhmen, Mähren und der Türkei; ihnen, den ungarischen, werde Jehova ver¬
geben, wenn sie bei ihren Häusern, Schafen und Rindern in dem gesegneten Ungarn bleiben,
und ihre Opfer in baarem Gelde nach der heiligen Stadt senden.
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[0181] ließen den von Natur zur Toleranz geneigten ungarischen Edelmann gerechter gegen den Bürger und schonender gegen Juden und Bauer werden. Mit der Stärkung des liberalen Princips unter dem ungarischen Adel kam das Streben, den Bürger durch nähere Betheiligung an der Constitution zum Patrioten, den Bauer durch Ablösung zum Staatsbürger zu macheu, und den Juden durch Ent¬ rechtung zum menschlichen Bewußtsein zu bringen. So entstanden seit 1790 die Städte-, Bauern- und die Emancipationsfragen, letztere wurde besonders im Reichstag 18?-', mit großem Eifer und schönem Erfolg verhandelt. Die Stände¬ tafel — das Unterhaus — trug mit großer Majorität auf völlige Gleichstellung der Juden mit den übrigen nichtadeligen Einwohnern an, und obwohl dieser Gesetzoorschlag von der Majorität der Magnatentafel zurückgewiesen wurde, so erhielten doch die Juden in diesem Reichstag das Recht, in allen königlichen Frei¬ städter — mit Ausnahme der Bergstädte — auch außerhalb des Ghetto zu wohnen, Handwerke frei auszuüben, Fabriken zu errichten, bürgerliche und Bauerugrüude zu kaufen u. s. w. Diese Concessionen waren zwar sehr ungenügend, da bei der damaligen Zügellosigkeit mancher Municipien besonders die städtischen Pfahlbürger den Juden bei der Ausübung vou Handwerken und Erwerbung von Grundstücken alle mögliche Hindernisse in deu Weg schoben; aber der moralische Eindruck, den die zu ihren Gunsten gehaltenen Neichstagsreden der Oppositionsmäuuer auf die Presse und die Denkungsweise des Volkes ausübten, so wie die Energie, welche einzelne Beamten in Vertheidigung der den Juden ertheilten Rechte entwickelten, waren von großer Rückwirkung auf die Einwohner deö Ghetto; die Juden fühlten sich nicht mehr ganz fremd in einem Lande, in dem sich aus dem allein mächtigen Herrenstande so viele Stimmen zu ihrem Vortheil erhoben; und da ihre Sagacität bald herausfand, daß sie ihre Freunde in dem das Magoarenthum repräsentierenden niedern Adel, ihre Feinde aber in dem mit der Regierung und auf Ordre der Negierung handelnden Magnatenthum, und dem im eigenen Interesse eifernden Spießbürgertum zu suchen hatten, so bildete sich schnell bei ihnen jene politische Richtung aus, welche sie in neuester Zeit verfolgt haben, Liebe zu dem Lande, welches sie als ihr Vaterland betrachten, mit fast gänzlichem Llufgeben Jerusalems^), Liebe zu dem der Toleranz und den liberalen Ideen am meisten zugänglichen Magyarenthume, Kampf gegen das Privilegium, es stehe unter dem Schutze eiues schlichten Regenschirms, oder werde von einer gräflichen Carrosse getragen; Noch heute ist das religiös-orthodoxe Element im ungarischen Judenthum stark ver¬ trete,:; doch habe ich aus dem Munde vieler streng orthodoxen Jude» die geläufige Ansicht aus- sprechen gehört: daß zwar der Messias gewiß kommen werde und kommen müsse, und es sie gewiß freuen würde, zu erleben, wie der Tempel Jehova'ö wieder erbaut und der Hohepriester wieder eingesetzt wird; allein folgen mögen dem Messias die gedrückten Juden aus Polen, Nußland, Böhmen, Mähren und der Türkei; ihnen, den ungarischen, werde Jehova ver¬ geben, wenn sie bei ihren Häusern, Schafen und Rindern in dem gesegneten Ungarn bleiben, und ihre Opfer in baarem Gelde nach der heiligen Stadt senden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/181>, abgerufen am 22.07.2024.