Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

numerische Verhältniß der Einwohnerzahl dieser Stadt zu der Einwohnerzahl des
Reichs gibt darüber einen genügenden Aufschluß. -- In einem wohl organisieren
Staat ist es aber uicht nöthig, daß ein so gewaltiges Zusammendrängen aller
Kräfte des Volks in Einem Punkt den Lebenssaft ans den Gliedmaßen des staat¬
lichen Organismus absorbirt. -- Ich weiß kein besseres Bild als die alte Fabel
des Menenius Agrippa von dem Bauch und den Gliedern; Arm und Bein wird
nicht schwächer, wenn der Migen gut ist. -- Im Gegentheil ist, wie im Natur¬
reich, derjenige Organismus der höhere, der ein Centrum hat. Auch für das
Polypenleben der Verewigten Staaten kann man sagen: es ist der Ausgang ab¬
zuwarten.

Was in der ganzen Geschichte, was für die Culturentwickelung der Mensch¬
heit Großes geschehen ist, hat nur die Centralisation gethan. Im Alter¬
thum waren Athen, Alerandria, Rom, im Mittelalter Rom, Venedig, in der
neuen Zeit Paris und London die Träger des Fortschritts. Damit das Leben der
Menschheit groß und gewaltig pnlsire, muß es sich zusammenfassen. -- Freilich
hat alles Große seiue Schattenseiten. In großen Städten sammelt sich ein Pöbel,
der Ehrgeiz und die Genußsucht wird fieberhaft, die Laster werdeu kolossal, je mehr
der Horizont sich erweitert. -- Allein in der neuern Zeit werden die Uebelstände
der Centralisation durch zweierlei gemildert: dnrch die Bildung der Nationen und
dnrch die Erfindung des Nepräscntativsystemö. Im Alterthum wie im Mittelalter
war beides unbekannt. Die Culturstaaten bildeten sich dadurch, daß sie deu natürlichen
Organismus der Völker zerstörten; Alexandria und Rom waren politische Monstro¬
sitäten, und sie erhielten ihre Macht und ihren Einfluß nur durch einen uner¬
hörten, unmenschlichen Despotismus. In unserer Zeit ist das uicht mehr nöthig.
Die gemeinsame Nationalität gibt die sittliche Basis, ans der die Centralisation
sich erheben kann, ohne der Natur Trotz zu bieten, und das Repräsentativstem
macht einen rückwirkenden Einfluß der Provinzen auf die Staatsregierung möglich.
-- Das constitutionelle Königthum ist eine große Erfindung, denn es schafft dem
natürlichen Dasein die Form und das Bewußtsein, durch welche es sich zu den
geistigen Mächten erhebt. Freilich ohne eine solche natürliche Grundlage ist die
bloße Form eitel und wesenlos.

Diese nationale und politische Verdichtung ist der Idee des Weltbürgertums,
das die neue Philosophie predigt, keineswegs hinderlich; es ist vielmehr ohne sie
uicht zu deuten. Wir am wenigsten werden verkennen, wie unendlich die letzten
Friedensjahre die Menschheit gefördert haben. Die Macht der realen Interessen,
die in ihrer ungeheuren Ausdehnung die Mittel gefunden haben, sich zu begreifen,
hat, ebenso wie die erneuerte Politik, ihre angemessene Gestalt gefunden; die
Ausbildung des Maschinenwesens, der Communicationsnnttel -- Dampfschiffe,
Eisenbahnen, elektrische Telegraphen -- die wie ein Nervengeflecht bald den ganzen
Erdball durchziehen werden, fördern die Einigung der Menschheit mehr, als die


numerische Verhältniß der Einwohnerzahl dieser Stadt zu der Einwohnerzahl des
Reichs gibt darüber einen genügenden Aufschluß. — In einem wohl organisieren
Staat ist es aber uicht nöthig, daß ein so gewaltiges Zusammendrängen aller
Kräfte des Volks in Einem Punkt den Lebenssaft ans den Gliedmaßen des staat¬
lichen Organismus absorbirt. — Ich weiß kein besseres Bild als die alte Fabel
des Menenius Agrippa von dem Bauch und den Gliedern; Arm und Bein wird
nicht schwächer, wenn der Migen gut ist. — Im Gegentheil ist, wie im Natur¬
reich, derjenige Organismus der höhere, der ein Centrum hat. Auch für das
Polypenleben der Verewigten Staaten kann man sagen: es ist der Ausgang ab¬
zuwarten.

Was in der ganzen Geschichte, was für die Culturentwickelung der Mensch¬
heit Großes geschehen ist, hat nur die Centralisation gethan. Im Alter¬
thum waren Athen, Alerandria, Rom, im Mittelalter Rom, Venedig, in der
neuen Zeit Paris und London die Träger des Fortschritts. Damit das Leben der
Menschheit groß und gewaltig pnlsire, muß es sich zusammenfassen. — Freilich
hat alles Große seiue Schattenseiten. In großen Städten sammelt sich ein Pöbel,
der Ehrgeiz und die Genußsucht wird fieberhaft, die Laster werdeu kolossal, je mehr
der Horizont sich erweitert. — Allein in der neuern Zeit werden die Uebelstände
der Centralisation durch zweierlei gemildert: dnrch die Bildung der Nationen und
dnrch die Erfindung des Nepräscntativsystemö. Im Alterthum wie im Mittelalter
war beides unbekannt. Die Culturstaaten bildeten sich dadurch, daß sie deu natürlichen
Organismus der Völker zerstörten; Alexandria und Rom waren politische Monstro¬
sitäten, und sie erhielten ihre Macht und ihren Einfluß nur durch einen uner¬
hörten, unmenschlichen Despotismus. In unserer Zeit ist das uicht mehr nöthig.
Die gemeinsame Nationalität gibt die sittliche Basis, ans der die Centralisation
sich erheben kann, ohne der Natur Trotz zu bieten, und das Repräsentativstem
macht einen rückwirkenden Einfluß der Provinzen auf die Staatsregierung möglich.
— Das constitutionelle Königthum ist eine große Erfindung, denn es schafft dem
natürlichen Dasein die Form und das Bewußtsein, durch welche es sich zu den
geistigen Mächten erhebt. Freilich ohne eine solche natürliche Grundlage ist die
bloße Form eitel und wesenlos.

Diese nationale und politische Verdichtung ist der Idee des Weltbürgertums,
das die neue Philosophie predigt, keineswegs hinderlich; es ist vielmehr ohne sie
uicht zu deuten. Wir am wenigsten werden verkennen, wie unendlich die letzten
Friedensjahre die Menschheit gefördert haben. Die Macht der realen Interessen,
die in ihrer ungeheuren Ausdehnung die Mittel gefunden haben, sich zu begreifen,
hat, ebenso wie die erneuerte Politik, ihre angemessene Gestalt gefunden; die
Ausbildung des Maschinenwesens, der Communicationsnnttel — Dampfschiffe,
Eisenbahnen, elektrische Telegraphen — die wie ein Nervengeflecht bald den ganzen
Erdball durchziehen werden, fördern die Einigung der Menschheit mehr, als die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92435"/>
          <p xml:id="ID_479" prev="#ID_478"> numerische Verhältniß der Einwohnerzahl dieser Stadt zu der Einwohnerzahl des<lb/>
Reichs gibt darüber einen genügenden Aufschluß. &#x2014; In einem wohl organisieren<lb/>
Staat ist es aber uicht nöthig, daß ein so gewaltiges Zusammendrängen aller<lb/>
Kräfte des Volks in Einem Punkt den Lebenssaft ans den Gliedmaßen des staat¬<lb/>
lichen Organismus absorbirt. &#x2014; Ich weiß kein besseres Bild als die alte Fabel<lb/>
des Menenius Agrippa von dem Bauch und den Gliedern; Arm und Bein wird<lb/>
nicht schwächer, wenn der Migen gut ist. &#x2014; Im Gegentheil ist, wie im Natur¬<lb/>
reich, derjenige Organismus der höhere, der ein Centrum hat. Auch für das<lb/>
Polypenleben der Verewigten Staaten kann man sagen: es ist der Ausgang ab¬<lb/>
zuwarten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_480"> Was in der ganzen Geschichte, was für die Culturentwickelung der Mensch¬<lb/>
heit Großes geschehen ist, hat nur die Centralisation gethan. Im Alter¬<lb/>
thum waren Athen, Alerandria, Rom, im Mittelalter Rom, Venedig, in der<lb/>
neuen Zeit Paris und London die Träger des Fortschritts. Damit das Leben der<lb/>
Menschheit groß und gewaltig pnlsire, muß es sich zusammenfassen. &#x2014; Freilich<lb/>
hat alles Große seiue Schattenseiten. In großen Städten sammelt sich ein Pöbel,<lb/>
der Ehrgeiz und die Genußsucht wird fieberhaft, die Laster werdeu kolossal, je mehr<lb/>
der Horizont sich erweitert. &#x2014; Allein in der neuern Zeit werden die Uebelstände<lb/>
der Centralisation durch zweierlei gemildert: dnrch die Bildung der Nationen und<lb/>
dnrch die Erfindung des Nepräscntativsystemö. Im Alterthum wie im Mittelalter<lb/>
war beides unbekannt. Die Culturstaaten bildeten sich dadurch, daß sie deu natürlichen<lb/>
Organismus der Völker zerstörten; Alexandria und Rom waren politische Monstro¬<lb/>
sitäten, und sie erhielten ihre Macht und ihren Einfluß nur durch einen uner¬<lb/>
hörten, unmenschlichen Despotismus. In unserer Zeit ist das uicht mehr nöthig.<lb/>
Die gemeinsame Nationalität gibt die sittliche Basis, ans der die Centralisation<lb/>
sich erheben kann, ohne der Natur Trotz zu bieten, und das Repräsentativstem<lb/>
macht einen rückwirkenden Einfluß der Provinzen auf die Staatsregierung möglich.<lb/>
&#x2014; Das constitutionelle Königthum ist eine große Erfindung, denn es schafft dem<lb/>
natürlichen Dasein die Form und das Bewußtsein, durch welche es sich zu den<lb/>
geistigen Mächten erhebt. Freilich ohne eine solche natürliche Grundlage ist die<lb/>
bloße Form eitel und wesenlos.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_481" next="#ID_482"> Diese nationale und politische Verdichtung ist der Idee des Weltbürgertums,<lb/>
das die neue Philosophie predigt, keineswegs hinderlich; es ist vielmehr ohne sie<lb/>
uicht zu deuten. Wir am wenigsten werden verkennen, wie unendlich die letzten<lb/>
Friedensjahre die Menschheit gefördert haben. Die Macht der realen Interessen,<lb/>
die in ihrer ungeheuren Ausdehnung die Mittel gefunden haben, sich zu begreifen,<lb/>
hat, ebenso wie die erneuerte Politik, ihre angemessene Gestalt gefunden; die<lb/>
Ausbildung des Maschinenwesens, der Communicationsnnttel &#x2014; Dampfschiffe,<lb/>
Eisenbahnen, elektrische Telegraphen &#x2014; die wie ein Nervengeflecht bald den ganzen<lb/>
Erdball durchziehen werden, fördern die Einigung der Menschheit mehr, als die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0146] numerische Verhältniß der Einwohnerzahl dieser Stadt zu der Einwohnerzahl des Reichs gibt darüber einen genügenden Aufschluß. — In einem wohl organisieren Staat ist es aber uicht nöthig, daß ein so gewaltiges Zusammendrängen aller Kräfte des Volks in Einem Punkt den Lebenssaft ans den Gliedmaßen des staat¬ lichen Organismus absorbirt. — Ich weiß kein besseres Bild als die alte Fabel des Menenius Agrippa von dem Bauch und den Gliedern; Arm und Bein wird nicht schwächer, wenn der Migen gut ist. — Im Gegentheil ist, wie im Natur¬ reich, derjenige Organismus der höhere, der ein Centrum hat. Auch für das Polypenleben der Verewigten Staaten kann man sagen: es ist der Ausgang ab¬ zuwarten. Was in der ganzen Geschichte, was für die Culturentwickelung der Mensch¬ heit Großes geschehen ist, hat nur die Centralisation gethan. Im Alter¬ thum waren Athen, Alerandria, Rom, im Mittelalter Rom, Venedig, in der neuen Zeit Paris und London die Träger des Fortschritts. Damit das Leben der Menschheit groß und gewaltig pnlsire, muß es sich zusammenfassen. — Freilich hat alles Große seiue Schattenseiten. In großen Städten sammelt sich ein Pöbel, der Ehrgeiz und die Genußsucht wird fieberhaft, die Laster werdeu kolossal, je mehr der Horizont sich erweitert. — Allein in der neuern Zeit werden die Uebelstände der Centralisation durch zweierlei gemildert: dnrch die Bildung der Nationen und dnrch die Erfindung des Nepräscntativsystemö. Im Alterthum wie im Mittelalter war beides unbekannt. Die Culturstaaten bildeten sich dadurch, daß sie deu natürlichen Organismus der Völker zerstörten; Alexandria und Rom waren politische Monstro¬ sitäten, und sie erhielten ihre Macht und ihren Einfluß nur durch einen uner¬ hörten, unmenschlichen Despotismus. In unserer Zeit ist das uicht mehr nöthig. Die gemeinsame Nationalität gibt die sittliche Basis, ans der die Centralisation sich erheben kann, ohne der Natur Trotz zu bieten, und das Repräsentativstem macht einen rückwirkenden Einfluß der Provinzen auf die Staatsregierung möglich. — Das constitutionelle Königthum ist eine große Erfindung, denn es schafft dem natürlichen Dasein die Form und das Bewußtsein, durch welche es sich zu den geistigen Mächten erhebt. Freilich ohne eine solche natürliche Grundlage ist die bloße Form eitel und wesenlos. Diese nationale und politische Verdichtung ist der Idee des Weltbürgertums, das die neue Philosophie predigt, keineswegs hinderlich; es ist vielmehr ohne sie uicht zu deuten. Wir am wenigsten werden verkennen, wie unendlich die letzten Friedensjahre die Menschheit gefördert haben. Die Macht der realen Interessen, die in ihrer ungeheuren Ausdehnung die Mittel gefunden haben, sich zu begreifen, hat, ebenso wie die erneuerte Politik, ihre angemessene Gestalt gefunden; die Ausbildung des Maschinenwesens, der Communicationsnnttel — Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen — die wie ein Nervengeflecht bald den ganzen Erdball durchziehen werden, fördern die Einigung der Menschheit mehr, als die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/146
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/146>, abgerufen am 25.08.2024.