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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Zahl der Fordernden ist noch viel größer, und sie ist genöthigt, immer mehr Un¬
zufriedenheit als Zufriedenheit zu verursachen: diejenigen, welche draußen bleiben,
sind immer bereit, die Thore einzuschlagen, und oft öffnen im Innern der Festung
Unterbeamte, die höher steigen wollen, diese Thore den Belagerern.

Und ans wen kann, im Augenblicke der Gefahr, die Regierung rechnen? Man
stützt sich nur auf das, was Widerstand leistet, hat mit Recht ein sehr geistreicher
Mann gesagt; der Servilismus verleiht keine Aufopferungsfähigkeit.

Da das Leben uur im Centrum wohnt und alles Uebrige Werkzeug ist, so
haben die Feinde der Negierung immer die Hoffnung, sie zu stürzen, weil es für
sie hinreicht, den Maschinisten zu ergreifen und sich an seine Stelle zu setzen, um
die Thätigkeit der Maschine für sich zu benutzeu.

Frankreich erleidet seit 60 Jahren die Veränderungen nach allen Richtungen,
die ihm eine einzige Stadt, was sage ich, eine Handvoll Menschen in dieser ein¬
zigen Stadt auferlegt; man schreibt aus Paris an die ruhmvollste Nation Eu¬
ropa'S, sie müsse hente rufen: es lebe der König, morgen: es lebe die
Ligue, übermorgen einerlei was, und sie ruft oder läßt rufen. Niemals sah
man bei einer großen Nation eine solche Selbstverleugnung, eine so vollständige
Abwesenheit des Willens und der Würde; die Menschen sind , auf die Stufe des
Heloten hinabgestiegen, der dem Sieger gehorcht, er sei wer er wolle." --

So weit Naudot. --

Wir wollen durch die Bemerkungen, die wir daran zu knüpfen haben, den
Eindruck dieser beherzigenswerten Worte in keiner Weise schwächen. Wir wollen
nnr einem Vorurtheil entgegentreten, welches ans der Einsicht in die Uebel¬
stände der französischen Centralisation hervorgegangen, die Centralisation überhaupt
für ein Uebel anzusehen geeignet ist, und namentlich in seiner Anwendung auf
unser Vaterland jene Zersplitterung, die der eigentliche Grund unsers Elends ist,
zu einem Vorzug stempeln möchte.

Das Falsche dieses Vorurtheils liegt in zweierlei.

Einmal verwechselt man Centralisation der Regierung mit Centralisation der
Verwaltung. Sodann vergißt man, daß diese zweite Art der Centralisation, die
Ersetzung der autonomen Thätigkeit des Volks durch eine vom Volk getrennte
Verwaltung in einem fictiven Staatswesen, wie es die deutschen Kleinstaaten sammt
und sonders siud, eine noch viel gehässigere Form annimmt, als in einer mächtigen
Nation, deren Beamte wenigstens von der gleichen sittlichen Idee getragen werden.
Auf beide Pnnkte haben wir unsere Anfmerksamkeit zu richten.

Warum denken wir, wenn es sich um die Nachtheile der Centralisation, der
Sammlung aller Culturkräfte eines großen Reiches in einem gewaltigen Brenn¬
punkt handelt, nur an Frankreich? Warum nicht an England? -- Eben weil wir
jene büreaukratische Centralisation mit der gouvernementalen verwechseln. -- London
ist als Knotenpunkt Großbritanniens noch viel bedeutender als Paris; schon das


Grenzboten. IV. 1850. 83

Zahl der Fordernden ist noch viel größer, und sie ist genöthigt, immer mehr Un¬
zufriedenheit als Zufriedenheit zu verursachen: diejenigen, welche draußen bleiben,
sind immer bereit, die Thore einzuschlagen, und oft öffnen im Innern der Festung
Unterbeamte, die höher steigen wollen, diese Thore den Belagerern.

Und ans wen kann, im Augenblicke der Gefahr, die Regierung rechnen? Man
stützt sich nur auf das, was Widerstand leistet, hat mit Recht ein sehr geistreicher
Mann gesagt; der Servilismus verleiht keine Aufopferungsfähigkeit.

Da das Leben uur im Centrum wohnt und alles Uebrige Werkzeug ist, so
haben die Feinde der Negierung immer die Hoffnung, sie zu stürzen, weil es für
sie hinreicht, den Maschinisten zu ergreifen und sich an seine Stelle zu setzen, um
die Thätigkeit der Maschine für sich zu benutzeu.

Frankreich erleidet seit 60 Jahren die Veränderungen nach allen Richtungen,
die ihm eine einzige Stadt, was sage ich, eine Handvoll Menschen in dieser ein¬
zigen Stadt auferlegt; man schreibt aus Paris an die ruhmvollste Nation Eu¬
ropa'S, sie müsse hente rufen: es lebe der König, morgen: es lebe die
Ligue, übermorgen einerlei was, und sie ruft oder läßt rufen. Niemals sah
man bei einer großen Nation eine solche Selbstverleugnung, eine so vollständige
Abwesenheit des Willens und der Würde; die Menschen sind , auf die Stufe des
Heloten hinabgestiegen, der dem Sieger gehorcht, er sei wer er wolle." —

So weit Naudot. —

Wir wollen durch die Bemerkungen, die wir daran zu knüpfen haben, den
Eindruck dieser beherzigenswerten Worte in keiner Weise schwächen. Wir wollen
nnr einem Vorurtheil entgegentreten, welches ans der Einsicht in die Uebel¬
stände der französischen Centralisation hervorgegangen, die Centralisation überhaupt
für ein Uebel anzusehen geeignet ist, und namentlich in seiner Anwendung auf
unser Vaterland jene Zersplitterung, die der eigentliche Grund unsers Elends ist,
zu einem Vorzug stempeln möchte.

Das Falsche dieses Vorurtheils liegt in zweierlei.

Einmal verwechselt man Centralisation der Regierung mit Centralisation der
Verwaltung. Sodann vergißt man, daß diese zweite Art der Centralisation, die
Ersetzung der autonomen Thätigkeit des Volks durch eine vom Volk getrennte
Verwaltung in einem fictiven Staatswesen, wie es die deutschen Kleinstaaten sammt
und sonders siud, eine noch viel gehässigere Form annimmt, als in einer mächtigen
Nation, deren Beamte wenigstens von der gleichen sittlichen Idee getragen werden.
Auf beide Pnnkte haben wir unsere Anfmerksamkeit zu richten.

Warum denken wir, wenn es sich um die Nachtheile der Centralisation, der
Sammlung aller Culturkräfte eines großen Reiches in einem gewaltigen Brenn¬
punkt handelt, nur an Frankreich? Warum nicht an England? — Eben weil wir
jene büreaukratische Centralisation mit der gouvernementalen verwechseln. — London
ist als Knotenpunkt Großbritanniens noch viel bedeutender als Paris; schon das


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[0145] Zahl der Fordernden ist noch viel größer, und sie ist genöthigt, immer mehr Un¬ zufriedenheit als Zufriedenheit zu verursachen: diejenigen, welche draußen bleiben, sind immer bereit, die Thore einzuschlagen, und oft öffnen im Innern der Festung Unterbeamte, die höher steigen wollen, diese Thore den Belagerern. Und ans wen kann, im Augenblicke der Gefahr, die Regierung rechnen? Man stützt sich nur auf das, was Widerstand leistet, hat mit Recht ein sehr geistreicher Mann gesagt; der Servilismus verleiht keine Aufopferungsfähigkeit. Da das Leben uur im Centrum wohnt und alles Uebrige Werkzeug ist, so haben die Feinde der Negierung immer die Hoffnung, sie zu stürzen, weil es für sie hinreicht, den Maschinisten zu ergreifen und sich an seine Stelle zu setzen, um die Thätigkeit der Maschine für sich zu benutzeu. Frankreich erleidet seit 60 Jahren die Veränderungen nach allen Richtungen, die ihm eine einzige Stadt, was sage ich, eine Handvoll Menschen in dieser ein¬ zigen Stadt auferlegt; man schreibt aus Paris an die ruhmvollste Nation Eu¬ ropa'S, sie müsse hente rufen: es lebe der König, morgen: es lebe die Ligue, übermorgen einerlei was, und sie ruft oder läßt rufen. Niemals sah man bei einer großen Nation eine solche Selbstverleugnung, eine so vollständige Abwesenheit des Willens und der Würde; die Menschen sind , auf die Stufe des Heloten hinabgestiegen, der dem Sieger gehorcht, er sei wer er wolle." — So weit Naudot. — Wir wollen durch die Bemerkungen, die wir daran zu knüpfen haben, den Eindruck dieser beherzigenswerten Worte in keiner Weise schwächen. Wir wollen nnr einem Vorurtheil entgegentreten, welches ans der Einsicht in die Uebel¬ stände der französischen Centralisation hervorgegangen, die Centralisation überhaupt für ein Uebel anzusehen geeignet ist, und namentlich in seiner Anwendung auf unser Vaterland jene Zersplitterung, die der eigentliche Grund unsers Elends ist, zu einem Vorzug stempeln möchte. Das Falsche dieses Vorurtheils liegt in zweierlei. Einmal verwechselt man Centralisation der Regierung mit Centralisation der Verwaltung. Sodann vergißt man, daß diese zweite Art der Centralisation, die Ersetzung der autonomen Thätigkeit des Volks durch eine vom Volk getrennte Verwaltung in einem fictiven Staatswesen, wie es die deutschen Kleinstaaten sammt und sonders siud, eine noch viel gehässigere Form annimmt, als in einer mächtigen Nation, deren Beamte wenigstens von der gleichen sittlichen Idee getragen werden. Auf beide Pnnkte haben wir unsere Anfmerksamkeit zu richten. Warum denken wir, wenn es sich um die Nachtheile der Centralisation, der Sammlung aller Culturkräfte eines großen Reiches in einem gewaltigen Brenn¬ punkt handelt, nur an Frankreich? Warum nicht an England? — Eben weil wir jene büreaukratische Centralisation mit der gouvernementalen verwechseln. — London ist als Knotenpunkt Großbritanniens noch viel bedeutender als Paris; schon das Grenzboten. IV. 1850. 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/145>, abgerufen am 02.10.2024.