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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Dörfer, um leinenes Zeug für ihre gebärende Genossin zu betteln, die Männer
und Kinder dagegen bleiben vor der Höhle versammelt und unterhalten ein glim¬
mendes Feuer. Mit ängstlicher Sorge wird bis nach vollbrachter Geburt das
Emporschlagen der Flamme verhindert. Sobald die Geburt geschehen, läßt man
das Feuer aufflackern und kräftigt es durch fettes Kienholz.

Nun erbaut man über dem Feuer ans drei hohen Stangen ein galgenartiges
Gerüst, häugt darau ein mehrere Pfand schweres Stück Fleisch und läßt es so
lange braten, bis sich die zweite oder Nachgeburt gelöst hat. Ist dies geschehen,
so reicht man der Wöchnerin das Stück Fleisch, damit sie sich dnrch den Genuß
desselben stärke, dagegen nimmt man mit einer gewissen Feierlichkeit die Nachgeburt
und hängt sie an dieselbe Stelle, an welcher das Fleisch geröstet worden. Man
läßt diese nnn an der Gluth völlig zusammentrocknen und begräbt sie, in weiße
Lappen sorgfältig eingewickelt, in einem hohlen Baume, zu dessen Innern nur
dnrch verdorrte Aeste entstandene Oeffnungen von oben führen. Diese Oeffnungen
werden dnrch spürte von Holz oder Lehm geschlossen und diese dnrch aufgeheftete
Baumschale verkappt. Dabei pflegt der ganze Stamm gegenwärtig zu sein und
den Act durch einen Gesang zu begleiten, der keinen bestimmten Text hat, oder
ihn vielmehr angenblicklich durch die Jmprovisationskraft jedes singenden erhält.
Lieder besitzen überhaupt die Zigeuner uicht, dagegen lieben sie ihre Rede im
Gesang vorzutragen. Bei bestimmten Handlungen singt Jeder seine Gedanken,
die sich natürlich wohl alle auf die Handlung beziehen und in einem allgemeinen
Begriffe sich vereinigen, gleichwohl aber in ihrem musikalischen Chorvortrage eine,
fürchterliche Komposition ergeben.

Der improvistrte Gesang ist auch eine Eigenthümlichkeit des polnischen
Bauern. Junge ^Personen siudet man stets damit beschäftigt, und gewöhnlich
begleitet der durch die Kehle verkündigte Gedanke die Arbeit der Hand. Meile
die Dirne, so singt sie von der schönen Weiße der Milch oder von der Milch¬
menge, die die Kuh zu geben sich verpflichtet fühlen solle; reicht sie dem Vieh
Futter, so singt sie vou der Süßigkeit des Futters oder vou dem Futtermangel
und der nothwendigen Pflicht des Thieres, bescheiden und genügsam zu sein.

Während die Zigennergesellschaft den oben beschriebenen Act ausführt, ist
der Gatte der Wöchnerin am Lager derselben beschäftigt. Sein erstes Geschäft
nach der Entbindung ist, das neugeborene Kind nackt, wie es zur Welt gekommen,
in frische Erde einzugraben. Der Zweck dieses Gebrauchs soll die schnelle Ver-
harschuug der Nabelschuurwuude sein. Eine Unterbindung siudet nie statt, da¬
gegen verschlingt man die Nabelschnur und zieht einen Knoten. Nachdem das
Kind eine kurze Zeit in der Erde campirt hat, wird es ungewaschen in die
erbettelten Lappen gewickelt und der Mutter übergeben.

Am Tage des zweiten Vollmondes ist es abermals ein Gegenstand, der das
Interesse des ganzen Stammes in Anspruch nimmt. Nachdem es von der Mutter


Dörfer, um leinenes Zeug für ihre gebärende Genossin zu betteln, die Männer
und Kinder dagegen bleiben vor der Höhle versammelt und unterhalten ein glim¬
mendes Feuer. Mit ängstlicher Sorge wird bis nach vollbrachter Geburt das
Emporschlagen der Flamme verhindert. Sobald die Geburt geschehen, läßt man
das Feuer aufflackern und kräftigt es durch fettes Kienholz.

Nun erbaut man über dem Feuer ans drei hohen Stangen ein galgenartiges
Gerüst, häugt darau ein mehrere Pfand schweres Stück Fleisch und läßt es so
lange braten, bis sich die zweite oder Nachgeburt gelöst hat. Ist dies geschehen,
so reicht man der Wöchnerin das Stück Fleisch, damit sie sich dnrch den Genuß
desselben stärke, dagegen nimmt man mit einer gewissen Feierlichkeit die Nachgeburt
und hängt sie an dieselbe Stelle, an welcher das Fleisch geröstet worden. Man
läßt diese nnn an der Gluth völlig zusammentrocknen und begräbt sie, in weiße
Lappen sorgfältig eingewickelt, in einem hohlen Baume, zu dessen Innern nur
dnrch verdorrte Aeste entstandene Oeffnungen von oben führen. Diese Oeffnungen
werden dnrch spürte von Holz oder Lehm geschlossen und diese dnrch aufgeheftete
Baumschale verkappt. Dabei pflegt der ganze Stamm gegenwärtig zu sein und
den Act durch einen Gesang zu begleiten, der keinen bestimmten Text hat, oder
ihn vielmehr angenblicklich durch die Jmprovisationskraft jedes singenden erhält.
Lieder besitzen überhaupt die Zigeuner uicht, dagegen lieben sie ihre Rede im
Gesang vorzutragen. Bei bestimmten Handlungen singt Jeder seine Gedanken,
die sich natürlich wohl alle auf die Handlung beziehen und in einem allgemeinen
Begriffe sich vereinigen, gleichwohl aber in ihrem musikalischen Chorvortrage eine,
fürchterliche Komposition ergeben.

Der improvistrte Gesang ist auch eine Eigenthümlichkeit des polnischen
Bauern. Junge ^Personen siudet man stets damit beschäftigt, und gewöhnlich
begleitet der durch die Kehle verkündigte Gedanke die Arbeit der Hand. Meile
die Dirne, so singt sie von der schönen Weiße der Milch oder von der Milch¬
menge, die die Kuh zu geben sich verpflichtet fühlen solle; reicht sie dem Vieh
Futter, so singt sie vou der Süßigkeit des Futters oder vou dem Futtermangel
und der nothwendigen Pflicht des Thieres, bescheiden und genügsam zu sein.

Während die Zigennergesellschaft den oben beschriebenen Act ausführt, ist
der Gatte der Wöchnerin am Lager derselben beschäftigt. Sein erstes Geschäft
nach der Entbindung ist, das neugeborene Kind nackt, wie es zur Welt gekommen,
in frische Erde einzugraben. Der Zweck dieses Gebrauchs soll die schnelle Ver-
harschuug der Nabelschuurwuude sein. Eine Unterbindung siudet nie statt, da¬
gegen verschlingt man die Nabelschnur und zieht einen Knoten. Nachdem das
Kind eine kurze Zeit in der Erde campirt hat, wird es ungewaschen in die
erbettelten Lappen gewickelt und der Mutter übergeben.

Am Tage des zweiten Vollmondes ist es abermals ein Gegenstand, der das
Interesse des ganzen Stammes in Anspruch nimmt. Nachdem es von der Mutter


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[0133] Dörfer, um leinenes Zeug für ihre gebärende Genossin zu betteln, die Männer und Kinder dagegen bleiben vor der Höhle versammelt und unterhalten ein glim¬ mendes Feuer. Mit ängstlicher Sorge wird bis nach vollbrachter Geburt das Emporschlagen der Flamme verhindert. Sobald die Geburt geschehen, läßt man das Feuer aufflackern und kräftigt es durch fettes Kienholz. Nun erbaut man über dem Feuer ans drei hohen Stangen ein galgenartiges Gerüst, häugt darau ein mehrere Pfand schweres Stück Fleisch und läßt es so lange braten, bis sich die zweite oder Nachgeburt gelöst hat. Ist dies geschehen, so reicht man der Wöchnerin das Stück Fleisch, damit sie sich dnrch den Genuß desselben stärke, dagegen nimmt man mit einer gewissen Feierlichkeit die Nachgeburt und hängt sie an dieselbe Stelle, an welcher das Fleisch geröstet worden. Man läßt diese nnn an der Gluth völlig zusammentrocknen und begräbt sie, in weiße Lappen sorgfältig eingewickelt, in einem hohlen Baume, zu dessen Innern nur dnrch verdorrte Aeste entstandene Oeffnungen von oben führen. Diese Oeffnungen werden dnrch spürte von Holz oder Lehm geschlossen und diese dnrch aufgeheftete Baumschale verkappt. Dabei pflegt der ganze Stamm gegenwärtig zu sein und den Act durch einen Gesang zu begleiten, der keinen bestimmten Text hat, oder ihn vielmehr angenblicklich durch die Jmprovisationskraft jedes singenden erhält. Lieder besitzen überhaupt die Zigeuner uicht, dagegen lieben sie ihre Rede im Gesang vorzutragen. Bei bestimmten Handlungen singt Jeder seine Gedanken, die sich natürlich wohl alle auf die Handlung beziehen und in einem allgemeinen Begriffe sich vereinigen, gleichwohl aber in ihrem musikalischen Chorvortrage eine, fürchterliche Komposition ergeben. Der improvistrte Gesang ist auch eine Eigenthümlichkeit des polnischen Bauern. Junge ^Personen siudet man stets damit beschäftigt, und gewöhnlich begleitet der durch die Kehle verkündigte Gedanke die Arbeit der Hand. Meile die Dirne, so singt sie von der schönen Weiße der Milch oder von der Milch¬ menge, die die Kuh zu geben sich verpflichtet fühlen solle; reicht sie dem Vieh Futter, so singt sie vou der Süßigkeit des Futters oder vou dem Futtermangel und der nothwendigen Pflicht des Thieres, bescheiden und genügsam zu sein. Während die Zigennergesellschaft den oben beschriebenen Act ausführt, ist der Gatte der Wöchnerin am Lager derselben beschäftigt. Sein erstes Geschäft nach der Entbindung ist, das neugeborene Kind nackt, wie es zur Welt gekommen, in frische Erde einzugraben. Der Zweck dieses Gebrauchs soll die schnelle Ver- harschuug der Nabelschuurwuude sein. Eine Unterbindung siudet nie statt, da¬ gegen verschlingt man die Nabelschnur und zieht einen Knoten. Nachdem das Kind eine kurze Zeit in der Erde campirt hat, wird es ungewaschen in die erbettelten Lappen gewickelt und der Mutter übergeben. Am Tage des zweiten Vollmondes ist es abermals ein Gegenstand, der das Interesse des ganzen Stammes in Anspruch nimmt. Nachdem es von der Mutter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/133>, abgerufen am 25.08.2024.