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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Die Zigeuner im Königreich Polen.
Eine Nelseskizze.

Außer Spanien und den Douaufürsteuthümern möchte es schwerlich in Europa
ein Land geben, welches so von Gesindel erfüllt ist, als das gegenwärtige König¬
reich Polen. Nach einem Berichte der Obwodfchaftscommissariate befanden sich
im Jahre 1841 nicht weniger als 1887 Nationalzigenner im Lande. Man unter¬
scheidet nämlich zwei Classen, die Nationalzigeuner, welche als Zigeuner geboren
siud, und das liederliche Volk, welches die Lebensart der Zigeuner nachahmt und
sich deren Privilegien anmaßt; dieses pflegt man auch "polnische Zigeuner" zu
nennen. Wer die Lebensverhältnisse und Geschäftsweise der Zigeuner kennt, weiß,
was es zu bedeuten hat, wenn sich auf einem Flächenraum von kaum 3300 Q.M.
fast 2000 solche Leute aushalten.

Im gauzen russischen Gebiete ist es Gewohnheit oder Pflicht der russischen
Gouverneure, die Wege, welche ein Glied der kaiserlichen Familie zu betreten
beabsichtigt, vou "verdächtigen und bettelhafteu Meuscheu" zu reinigen. Ist es
Gewohnheit, so hat sie ihren Grund in dem Bestreben der Gouverneure, den
höchsten Personen die ihnen anvertrauten Gebiete in dem Vortheilhaftesten Zu¬
stande erscheinen zu lassen; ist dieser Act dagegen ein vou oben herabkommender
Befehl, so ist er eine absichtliche Selbsttäuschung, dergleichen nur in Rußland
vorkommen kauu. Und fast scheint ein höchster Befehl zu Grunde zu liegeu, wenn
ans folgendem Vorkommniß ein Schluß gezogen werden darf. Als nämlich der
Kaiser Nicolaus bei seiner vorletzten Anwesenheit in Warschau die Citadelle be¬
suchte, siel ihm ein sonderbares Geräusch in einem großen Schuppen, der sich
wenig entfernt in der äußersten Ecke des Wallcarrvs befand, auf. Er begab sich
kürzesten Weges uach diesem Schuppen und verlangte, daß er geöffnet werde.
Allein weder der General Abramowicz, noch der Intendant besaß den Schlüssel;
sie waren in arger Verlegenheit. Da meinte der Intendant, daß es vielleicht
mit einer mündlichen Auskunft abgemacht sein dürfte, und versicherte der Majestät,


Grcnzvoten. IV. 1850. 81
Die Zigeuner im Königreich Polen.
Eine Nelseskizze.

Außer Spanien und den Douaufürsteuthümern möchte es schwerlich in Europa
ein Land geben, welches so von Gesindel erfüllt ist, als das gegenwärtige König¬
reich Polen. Nach einem Berichte der Obwodfchaftscommissariate befanden sich
im Jahre 1841 nicht weniger als 1887 Nationalzigenner im Lande. Man unter¬
scheidet nämlich zwei Classen, die Nationalzigeuner, welche als Zigeuner geboren
siud, und das liederliche Volk, welches die Lebensart der Zigeuner nachahmt und
sich deren Privilegien anmaßt; dieses pflegt man auch „polnische Zigeuner" zu
nennen. Wer die Lebensverhältnisse und Geschäftsweise der Zigeuner kennt, weiß,
was es zu bedeuten hat, wenn sich auf einem Flächenraum von kaum 3300 Q.M.
fast 2000 solche Leute aushalten.

Im gauzen russischen Gebiete ist es Gewohnheit oder Pflicht der russischen
Gouverneure, die Wege, welche ein Glied der kaiserlichen Familie zu betreten
beabsichtigt, vou „verdächtigen und bettelhafteu Meuscheu" zu reinigen. Ist es
Gewohnheit, so hat sie ihren Grund in dem Bestreben der Gouverneure, den
höchsten Personen die ihnen anvertrauten Gebiete in dem Vortheilhaftesten Zu¬
stande erscheinen zu lassen; ist dieser Act dagegen ein vou oben herabkommender
Befehl, so ist er eine absichtliche Selbsttäuschung, dergleichen nur in Rußland
vorkommen kauu. Und fast scheint ein höchster Befehl zu Grunde zu liegeu, wenn
ans folgendem Vorkommniß ein Schluß gezogen werden darf. Als nämlich der
Kaiser Nicolaus bei seiner vorletzten Anwesenheit in Warschau die Citadelle be¬
suchte, siel ihm ein sonderbares Geräusch in einem großen Schuppen, der sich
wenig entfernt in der äußersten Ecke des Wallcarrvs befand, auf. Er begab sich
kürzesten Weges uach diesem Schuppen und verlangte, daß er geöffnet werde.
Allein weder der General Abramowicz, noch der Intendant besaß den Schlüssel;
sie waren in arger Verlegenheit. Da meinte der Intendant, daß es vielleicht
mit einer mündlichen Auskunft abgemacht sein dürfte, und versicherte der Majestät,


Grcnzvoten. IV. 1850. 81
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[0129] Die Zigeuner im Königreich Polen. Eine Nelseskizze. Außer Spanien und den Douaufürsteuthümern möchte es schwerlich in Europa ein Land geben, welches so von Gesindel erfüllt ist, als das gegenwärtige König¬ reich Polen. Nach einem Berichte der Obwodfchaftscommissariate befanden sich im Jahre 1841 nicht weniger als 1887 Nationalzigenner im Lande. Man unter¬ scheidet nämlich zwei Classen, die Nationalzigeuner, welche als Zigeuner geboren siud, und das liederliche Volk, welches die Lebensart der Zigeuner nachahmt und sich deren Privilegien anmaßt; dieses pflegt man auch „polnische Zigeuner" zu nennen. Wer die Lebensverhältnisse und Geschäftsweise der Zigeuner kennt, weiß, was es zu bedeuten hat, wenn sich auf einem Flächenraum von kaum 3300 Q.M. fast 2000 solche Leute aushalten. Im gauzen russischen Gebiete ist es Gewohnheit oder Pflicht der russischen Gouverneure, die Wege, welche ein Glied der kaiserlichen Familie zu betreten beabsichtigt, vou „verdächtigen und bettelhafteu Meuscheu" zu reinigen. Ist es Gewohnheit, so hat sie ihren Grund in dem Bestreben der Gouverneure, den höchsten Personen die ihnen anvertrauten Gebiete in dem Vortheilhaftesten Zu¬ stande erscheinen zu lassen; ist dieser Act dagegen ein vou oben herabkommender Befehl, so ist er eine absichtliche Selbsttäuschung, dergleichen nur in Rußland vorkommen kauu. Und fast scheint ein höchster Befehl zu Grunde zu liegeu, wenn ans folgendem Vorkommniß ein Schluß gezogen werden darf. Als nämlich der Kaiser Nicolaus bei seiner vorletzten Anwesenheit in Warschau die Citadelle be¬ suchte, siel ihm ein sonderbares Geräusch in einem großen Schuppen, der sich wenig entfernt in der äußersten Ecke des Wallcarrvs befand, auf. Er begab sich kürzesten Weges uach diesem Schuppen und verlangte, daß er geöffnet werde. Allein weder der General Abramowicz, noch der Intendant besaß den Schlüssel; sie waren in arger Verlegenheit. Da meinte der Intendant, daß es vielleicht mit einer mündlichen Auskunft abgemacht sein dürfte, und versicherte der Majestät, Grcnzvoten. IV. 1850. 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/129>, abgerufen am 24.08.2024.