Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Musik entwindet sich dein fesselnden O moll und schreitet über zu dem seligen
Dur. Ein ächter clwrus mMious weben sich die 8 Chorstimmen zu den wun¬
derbarsten Verschlingungen und Combinationen, erst einzeln auftretend, dann im¬
mer mehr und mehr sich vereinigend, in immer eindringlichem und volleren
Klängen ausrufend:


Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!

Als er in seiner Steigerung zu dem Pnnkte gelangte, wo Chor und Orchester
im Zusammenwirken die höchste Freude des Himmels mit mächtigem, breitem und
würdigem Klänge anstönen sollen, bricht er ab und gibt denselben Text in einem
langen Allegro mit Wettgesang von zwei Chören und fngirter Arbeit wieder.
Man ist beim Anhören dieses Chores nur zu geneigt, zu glauben, der Componist
habe dem ganzen Werke einen brillanten Schlußchor hinzufügen wollen. Als ob
die Engel im Himmel nöthig hätten, so laut und geräuschvoll sich in Freudenö-
bezeugungen zu ergehen, wie wir armen Erdensöhne! Die Texteöworte wider¬
streben gänzlich dieser Auffassung, abgesehen davon, daß es überhaupt nicht mög¬
lich ist, ein und denselben Kunststoff auf entgegengesetzte Weise zu behandeln.
Noch ein anderer Vorwurf ist dem Allegro zu machen: die dnrch die weite Anlage
des gauzen Satzes hervorgebrachten häufigen Textwiederholungen einzelner Phra¬
sen. Wenn sie oft unpassend in andern Werken erscheinen, so thun sie dies dop¬
pelt bei den hier immer wiederkehrenden Worten: das Ewig-Weibliche zieht uns
hinan. Mit Gewißheit läßt sich behaupten, daß der nicht vollständige Erfolg
dieser so trefflichen Musik seinen Grund in dem Schlnßchor findet. Die voraus¬
gehenden Sätze siud ohne Ausnahme klar und voll der bedeutendsten Motive,
welche durch interessante und treffende Jnstrumentation gehoben werden. Der
langsame Satz des Schlußchores erhebt zur Andacht, das Allegro aber ermüdet
und es bleibt für dasselbe nnr ein lebhaftes Bedauern über die so freigebige Ver¬
schwendung so vieler Kunst und so vieler Kunstmittel.

Nächst dieser Musik treten unter den Kompositionen in der letzten Periode
am meisten hervor die zweite Sinfonie in (op. 61) und die Oper Genoveva,
deren Text vou ihm selbst nach Hebbel und Tieck zusammengestellt wurde. Die
zweite Sinfonie gehört schou dem Umfange nach unter die größten deutschen Or¬
chesterwerke, indem sie wenigstens eine eben so lange Zeit für ihre Ausführung
beausprucht, als Franz Schubert's große in 0in-, die uach Beethoven's I) moll
(Sinfonie mit Chören, Ur. 9) die in der Form am weitesten ausgedehnte
ist. Von der ersten (8-I.)ur) unterscheidet sich diese zweite wesentlich in ihrem
Charakter; in jeuer weht ein heitrer, frischer Frühlingsodem, es erklingt das selige
Jauchzen eines freien Jünglings, hier begegnen wir den Thaten des ernsten Man¬
nes, der Leid und Unglück schou getragen und sich erst nach großem Kampfe von
den beengenden Fesseln befreit hat. Von dieser Sinfonie an tragen alle Werte
Schumann's das Zeichen eines ernsten Mannes an ihrer Stirne. Der Sprung


Die Musik entwindet sich dein fesselnden O moll und schreitet über zu dem seligen
Dur. Ein ächter clwrus mMious weben sich die 8 Chorstimmen zu den wun¬
derbarsten Verschlingungen und Combinationen, erst einzeln auftretend, dann im¬
mer mehr und mehr sich vereinigend, in immer eindringlichem und volleren
Klängen ausrufend:


Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!

Als er in seiner Steigerung zu dem Pnnkte gelangte, wo Chor und Orchester
im Zusammenwirken die höchste Freude des Himmels mit mächtigem, breitem und
würdigem Klänge anstönen sollen, bricht er ab und gibt denselben Text in einem
langen Allegro mit Wettgesang von zwei Chören und fngirter Arbeit wieder.
Man ist beim Anhören dieses Chores nur zu geneigt, zu glauben, der Componist
habe dem ganzen Werke einen brillanten Schlußchor hinzufügen wollen. Als ob
die Engel im Himmel nöthig hätten, so laut und geräuschvoll sich in Freudenö-
bezeugungen zu ergehen, wie wir armen Erdensöhne! Die Texteöworte wider¬
streben gänzlich dieser Auffassung, abgesehen davon, daß es überhaupt nicht mög¬
lich ist, ein und denselben Kunststoff auf entgegengesetzte Weise zu behandeln.
Noch ein anderer Vorwurf ist dem Allegro zu machen: die dnrch die weite Anlage
des gauzen Satzes hervorgebrachten häufigen Textwiederholungen einzelner Phra¬
sen. Wenn sie oft unpassend in andern Werken erscheinen, so thun sie dies dop¬
pelt bei den hier immer wiederkehrenden Worten: das Ewig-Weibliche zieht uns
hinan. Mit Gewißheit läßt sich behaupten, daß der nicht vollständige Erfolg
dieser so trefflichen Musik seinen Grund in dem Schlnßchor findet. Die voraus¬
gehenden Sätze siud ohne Ausnahme klar und voll der bedeutendsten Motive,
welche durch interessante und treffende Jnstrumentation gehoben werden. Der
langsame Satz des Schlußchores erhebt zur Andacht, das Allegro aber ermüdet
und es bleibt für dasselbe nnr ein lebhaftes Bedauern über die so freigebige Ver¬
schwendung so vieler Kunst und so vieler Kunstmittel.

Nächst dieser Musik treten unter den Kompositionen in der letzten Periode
am meisten hervor die zweite Sinfonie in (op. 61) und die Oper Genoveva,
deren Text vou ihm selbst nach Hebbel und Tieck zusammengestellt wurde. Die
zweite Sinfonie gehört schou dem Umfange nach unter die größten deutschen Or¬
chesterwerke, indem sie wenigstens eine eben so lange Zeit für ihre Ausführung
beausprucht, als Franz Schubert's große in 0in-, die uach Beethoven's I) moll
(Sinfonie mit Chören, Ur. 9) die in der Form am weitesten ausgedehnte
ist. Von der ersten (8-I.)ur) unterscheidet sich diese zweite wesentlich in ihrem
Charakter; in jeuer weht ein heitrer, frischer Frühlingsodem, es erklingt das selige
Jauchzen eines freien Jünglings, hier begegnen wir den Thaten des ernsten Man¬
nes, der Leid und Unglück schou getragen und sich erst nach großem Kampfe von
den beengenden Fesseln befreit hat. Von dieser Sinfonie an tragen alle Werte
Schumann's das Zeichen eines ernsten Mannes an ihrer Stirne. Der Sprung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92301"/>
            <p xml:id="ID_10" prev="#ID_9"> Die Musik entwindet sich dein fesselnden O moll und schreitet über zu dem seligen<lb/>
Dur. Ein ächter clwrus mMious weben sich die 8 Chorstimmen zu den wun¬<lb/>
derbarsten Verschlingungen und Combinationen, erst einzeln auftretend, dann im¬<lb/>
mer mehr und mehr sich vereinigend, in immer eindringlichem und volleren<lb/>
Klängen ausrufend:</p><lb/>
            <quote> Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_11"> Als er in seiner Steigerung zu dem Pnnkte gelangte, wo Chor und Orchester<lb/>
im Zusammenwirken die höchste Freude des Himmels mit mächtigem, breitem und<lb/>
würdigem Klänge anstönen sollen, bricht er ab und gibt denselben Text in einem<lb/>
langen Allegro mit Wettgesang von zwei Chören und fngirter Arbeit wieder.<lb/>
Man ist beim Anhören dieses Chores nur zu geneigt, zu glauben, der Componist<lb/>
habe dem ganzen Werke einen brillanten Schlußchor hinzufügen wollen. Als ob<lb/>
die Engel im Himmel nöthig hätten, so laut und geräuschvoll sich in Freudenö-<lb/>
bezeugungen zu ergehen, wie wir armen Erdensöhne! Die Texteöworte wider¬<lb/>
streben gänzlich dieser Auffassung, abgesehen davon, daß es überhaupt nicht mög¬<lb/>
lich ist, ein und denselben Kunststoff auf entgegengesetzte Weise zu behandeln.<lb/>
Noch ein anderer Vorwurf ist dem Allegro zu machen: die dnrch die weite Anlage<lb/>
des gauzen Satzes hervorgebrachten häufigen Textwiederholungen einzelner Phra¬<lb/>
sen. Wenn sie oft unpassend in andern Werken erscheinen, so thun sie dies dop¬<lb/>
pelt bei den hier immer wiederkehrenden Worten: das Ewig-Weibliche zieht uns<lb/>
hinan. Mit Gewißheit läßt sich behaupten, daß der nicht vollständige Erfolg<lb/>
dieser so trefflichen Musik seinen Grund in dem Schlnßchor findet. Die voraus¬<lb/>
gehenden Sätze siud ohne Ausnahme klar und voll der bedeutendsten Motive,<lb/>
welche durch interessante und treffende Jnstrumentation gehoben werden. Der<lb/>
langsame Satz des Schlußchores erhebt zur Andacht, das Allegro aber ermüdet<lb/>
und es bleibt für dasselbe nnr ein lebhaftes Bedauern über die so freigebige Ver¬<lb/>
schwendung so vieler Kunst und so vieler Kunstmittel.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_12" next="#ID_13"> Nächst dieser Musik treten unter den Kompositionen in der letzten Periode<lb/>
am meisten hervor die zweite Sinfonie in (op. 61) und die Oper Genoveva,<lb/>
deren Text vou ihm selbst nach Hebbel und Tieck zusammengestellt wurde. Die<lb/>
zweite Sinfonie gehört schou dem Umfange nach unter die größten deutschen Or¬<lb/>
chesterwerke, indem sie wenigstens eine eben so lange Zeit für ihre Ausführung<lb/>
beausprucht, als Franz Schubert's große in 0in-, die uach Beethoven's I) moll<lb/>
(Sinfonie mit Chören, Ur. 9) die in der Form am weitesten ausgedehnte<lb/>
ist. Von der ersten (8-I.)ur) unterscheidet sich diese zweite wesentlich in ihrem<lb/>
Charakter; in jeuer weht ein heitrer, frischer Frühlingsodem, es erklingt das selige<lb/>
Jauchzen eines freien Jünglings, hier begegnen wir den Thaten des ernsten Man¬<lb/>
nes, der Leid und Unglück schou getragen und sich erst nach großem Kampfe von<lb/>
den beengenden Fesseln befreit hat. Von dieser Sinfonie an tragen alle Werte<lb/>
Schumann's das Zeichen eines ernsten Mannes an ihrer Stirne.  Der Sprung</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] Die Musik entwindet sich dein fesselnden O moll und schreitet über zu dem seligen Dur. Ein ächter clwrus mMious weben sich die 8 Chorstimmen zu den wun¬ derbarsten Verschlingungen und Combinationen, erst einzeln auftretend, dann im¬ mer mehr und mehr sich vereinigend, in immer eindringlichem und volleren Klängen ausrufend: Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan! Als er in seiner Steigerung zu dem Pnnkte gelangte, wo Chor und Orchester im Zusammenwirken die höchste Freude des Himmels mit mächtigem, breitem und würdigem Klänge anstönen sollen, bricht er ab und gibt denselben Text in einem langen Allegro mit Wettgesang von zwei Chören und fngirter Arbeit wieder. Man ist beim Anhören dieses Chores nur zu geneigt, zu glauben, der Componist habe dem ganzen Werke einen brillanten Schlußchor hinzufügen wollen. Als ob die Engel im Himmel nöthig hätten, so laut und geräuschvoll sich in Freudenö- bezeugungen zu ergehen, wie wir armen Erdensöhne! Die Texteöworte wider¬ streben gänzlich dieser Auffassung, abgesehen davon, daß es überhaupt nicht mög¬ lich ist, ein und denselben Kunststoff auf entgegengesetzte Weise zu behandeln. Noch ein anderer Vorwurf ist dem Allegro zu machen: die dnrch die weite Anlage des gauzen Satzes hervorgebrachten häufigen Textwiederholungen einzelner Phra¬ sen. Wenn sie oft unpassend in andern Werken erscheinen, so thun sie dies dop¬ pelt bei den hier immer wiederkehrenden Worten: das Ewig-Weibliche zieht uns hinan. Mit Gewißheit läßt sich behaupten, daß der nicht vollständige Erfolg dieser so trefflichen Musik seinen Grund in dem Schlnßchor findet. Die voraus¬ gehenden Sätze siud ohne Ausnahme klar und voll der bedeutendsten Motive, welche durch interessante und treffende Jnstrumentation gehoben werden. Der langsame Satz des Schlußchores erhebt zur Andacht, das Allegro aber ermüdet und es bleibt für dasselbe nnr ein lebhaftes Bedauern über die so freigebige Ver¬ schwendung so vieler Kunst und so vieler Kunstmittel. Nächst dieser Musik treten unter den Kompositionen in der letzten Periode am meisten hervor die zweite Sinfonie in (op. 61) und die Oper Genoveva, deren Text vou ihm selbst nach Hebbel und Tieck zusammengestellt wurde. Die zweite Sinfonie gehört schou dem Umfange nach unter die größten deutschen Or¬ chesterwerke, indem sie wenigstens eine eben so lange Zeit für ihre Ausführung beausprucht, als Franz Schubert's große in 0in-, die uach Beethoven's I) moll (Sinfonie mit Chören, Ur. 9) die in der Form am weitesten ausgedehnte ist. Von der ersten (8-I.)ur) unterscheidet sich diese zweite wesentlich in ihrem Charakter; in jeuer weht ein heitrer, frischer Frühlingsodem, es erklingt das selige Jauchzen eines freien Jünglings, hier begegnen wir den Thaten des ernsten Man¬ nes, der Leid und Unglück schou getragen und sich erst nach großem Kampfe von den beengenden Fesseln befreit hat. Von dieser Sinfonie an tragen alle Werte Schumann's das Zeichen eines ernsten Mannes an ihrer Stirne. Der Sprung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/12
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/12>, abgerufen am 22.07.2024.