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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Dieses individuelle Leben durchzuführen, wird unsern deutschen Dichtern
durch einen Umstand erschwert, der bei Prechtler wieder recht auffällt. Wir stehen
mit unserer dramatischen Sprache und namentlich.unserm Vers genau ans dem
Standpunkt, wie die französische Tragödie in der Zeit, als Lessing ihrer allmäch¬
tigen Geltung entgegentrat. Unsere Empfindungsweise wie unser Denken ist ein
conveutionelles geworden, wir geben geprägte Münzen aus, die nicht mehr ge¬
wogen werden dürfen. Die Sirenenstiunnc des Schiller'schen Verses hat die
nachtheiligsten Wirkungen gehabt. Er hat das Gewöhnliche geadelt, das Gemeine
idealisirt; jetzt empfangen wir es in dieser Form ans zweiter Hand, ohne den
Reiz und die Berechtigung einer freien Individualität. Nur wenige Dichter --
ich kenne eigentlich nur Kleist -- haben sich einen eigenthümlichen Vers, eine
eigne poetische Sprache und Anschauung zu schassen gewußt; denn die Schule,
welche in der Restaurationszeit die Bühnen beherrschte, und an dem in deutsche
Romantik übersetzten sinnlichen Kling-Klang des Calderon'schen Theaters geschult
war -- die Werner, Müllner u. s. w. -- waren selbst dieser Convenienz gegen¬
über ein Rückschritt. Die östreichischen Dichter -- Grillparzer, Halm, unser
Prechtler -- haben sich, ganz wie Körner, an Schiller's Vorbild gehalten, sie
haben nur noch eine sentimentale Thränendrüse darüber gegossen. -- Aus dieser
fertigen, unfreien und darum unpoetischen Weise kommen wir nur durch dasselbe
Mittel heraus, welches Lessing bereits angewendet hat: unsere Tragiker müssen
wieder zur Prosa greifen. Man wendet ans die erhöhte Sprache der Tragödie
den Ausspruch jenes französischen Aristokraten an, der Abends immer seidene
Strümpfe trug, "weil mau sich mehr in Acht nimmt, in den Schmutz zu treten,"
aber der Vergleich paßt nicht. Im Gegentheil wird man sich wohl besinnen, in
schlichter Prosa jenes Zeitnngsgewäsch auf die Bühne zu bringen, welches den
eigentlichen Zuhält unserer "Haupt- und Staatsactionen" ausmacht: mit den
conventionellen Zierrathen des Schiller'schen Verses versehen, glaubt man es sich
eher gefallen lassen zu dürfen.

Ich meine nicht, daß die nnrhythmische Form die höchste und letzte des Dra¬
mas sein dürfe. Aber als Uebergangsstufe scheint sie mir nothwendig. Erst müssen
wir lernen, auch in der Sprache zu individualisiren, ehe wir an Idealität denken.

Diese Befreiung der Sprache wird auch auf die Charaktere und Situationen
einwirken. Mit der fertigen Sprache nehmen wir auch gern jene fertigen Costüme
und fertigen Anekdoten mit in den Kauf. So hat Prechtler seinen Liebhaber, ohne
allen Grund, blos aus Reminiscenz an Marquis Posa, dessen Sprache ihm vor¬
schwebte, in's Malteser-Costüm geworfen. So ist der Bösewicht des Stücks, der
eigentliche Faiseur der spanischen Jntrigue, der Adriennen angestiftet hat und
sie mit Drohungen und Dolchen verfolgt, sobald sie von ihrem Geschäft abgehen
will, ein bloßer Theaterpopanz, der nur da ist, um den Kindern Gräueln zu
macheu. Das ist um so mehr Schade, da Prechtler nicht ohne Talent ist; in


Dieses individuelle Leben durchzuführen, wird unsern deutschen Dichtern
durch einen Umstand erschwert, der bei Prechtler wieder recht auffällt. Wir stehen
mit unserer dramatischen Sprache und namentlich.unserm Vers genau ans dem
Standpunkt, wie die französische Tragödie in der Zeit, als Lessing ihrer allmäch¬
tigen Geltung entgegentrat. Unsere Empfindungsweise wie unser Denken ist ein
conveutionelles geworden, wir geben geprägte Münzen aus, die nicht mehr ge¬
wogen werden dürfen. Die Sirenenstiunnc des Schiller'schen Verses hat die
nachtheiligsten Wirkungen gehabt. Er hat das Gewöhnliche geadelt, das Gemeine
idealisirt; jetzt empfangen wir es in dieser Form ans zweiter Hand, ohne den
Reiz und die Berechtigung einer freien Individualität. Nur wenige Dichter —
ich kenne eigentlich nur Kleist — haben sich einen eigenthümlichen Vers, eine
eigne poetische Sprache und Anschauung zu schassen gewußt; denn die Schule,
welche in der Restaurationszeit die Bühnen beherrschte, und an dem in deutsche
Romantik übersetzten sinnlichen Kling-Klang des Calderon'schen Theaters geschult
war — die Werner, Müllner u. s. w. — waren selbst dieser Convenienz gegen¬
über ein Rückschritt. Die östreichischen Dichter — Grillparzer, Halm, unser
Prechtler — haben sich, ganz wie Körner, an Schiller's Vorbild gehalten, sie
haben nur noch eine sentimentale Thränendrüse darüber gegossen. — Aus dieser
fertigen, unfreien und darum unpoetischen Weise kommen wir nur durch dasselbe
Mittel heraus, welches Lessing bereits angewendet hat: unsere Tragiker müssen
wieder zur Prosa greifen. Man wendet ans die erhöhte Sprache der Tragödie
den Ausspruch jenes französischen Aristokraten an, der Abends immer seidene
Strümpfe trug, „weil mau sich mehr in Acht nimmt, in den Schmutz zu treten,"
aber der Vergleich paßt nicht. Im Gegentheil wird man sich wohl besinnen, in
schlichter Prosa jenes Zeitnngsgewäsch auf die Bühne zu bringen, welches den
eigentlichen Zuhält unserer „Haupt- und Staatsactionen" ausmacht: mit den
conventionellen Zierrathen des Schiller'schen Verses versehen, glaubt man es sich
eher gefallen lassen zu dürfen.

Ich meine nicht, daß die nnrhythmische Form die höchste und letzte des Dra¬
mas sein dürfe. Aber als Uebergangsstufe scheint sie mir nothwendig. Erst müssen
wir lernen, auch in der Sprache zu individualisiren, ehe wir an Idealität denken.

Diese Befreiung der Sprache wird auch auf die Charaktere und Situationen
einwirken. Mit der fertigen Sprache nehmen wir auch gern jene fertigen Costüme
und fertigen Anekdoten mit in den Kauf. So hat Prechtler seinen Liebhaber, ohne
allen Grund, blos aus Reminiscenz an Marquis Posa, dessen Sprache ihm vor¬
schwebte, in's Malteser-Costüm geworfen. So ist der Bösewicht des Stücks, der
eigentliche Faiseur der spanischen Jntrigue, der Adriennen angestiftet hat und
sie mit Drohungen und Dolchen verfolgt, sobald sie von ihrem Geschäft abgehen
will, ein bloßer Theaterpopanz, der nur da ist, um den Kindern Gräueln zu
macheu. Das ist um so mehr Schade, da Prechtler nicht ohne Talent ist; in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/514>, abgerufen am 01.09.2024.