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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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gesaug zweier schöner Jndividualitätew, die einander nicht verstehen, und die
daher auch in keine wirkliche Dialektik treten können. Göthe's Charaktere sind,
wie man ganz mit Recht bemerkt hat, weich und empfänglich; aber sie sind nicht
bildsam, daher auch nicht dramatisch. Sie sind in ihrer Art fertig, die Geschichte
kann sie zerstören, aber nicht in ihnen ein neues Leben hervorrufen. Die Götz,
Weißlingen, Egmont, Alba, Oranien, Faust, Tasso u. s. w. haben keine Geschichte,
keine dramatische Entwickelung, und Wilhelm Meister könnte Jahrhunderte lang
in Lehr- und Wanderjahren sich herumtreiben, tausend Gräfinnen und Komödianten
könnten an ihm arbeite", und er würde am Ende doch kein Anderer sein, als zu
Anfang. -- Der Mangel an Dialektik in jenem Dialog macht sich erst fühlbar,
wenn man ihn hört: mau empfindet dann recht lebhast, wie jene Maximen und
jene in ihrem Contrast sehr berechtigten individuellen Lebensrichtungen sich nur
antithetisch ergänzen, aber nicht dialektisch entwickeln. -- Göthe'S Charaktere haben
darum ohne Ausnahme den Anschein größerer Vollendung, und unsere Apostel
des kategorischen Imperativs können ohne große Mühe bei Schiller's bestimmbaren
und bildsamen Persönlichkeiten den Mangel an fertiger Reife nachweisen. Aber
diese Menschen sind darum nicht weniger geeignet, unsere Theilnahme anzuregen
und uus zu erschüttern. Freilich wird Wallenstein, weil seine äußere Stellung
wie seine innere Leidenschaft einen beständigen Conflict darstellen, in dem ganzen
Stück wie in jener Scene, bestimmt, und zwar bestimmt durch untergeordnete Na¬
turen. Aber das geschieht mit Macbeth, Othello, Brutus n. s. w. nicht minder,
wenn sie nur im Uebrigen Gelegenheit haben, sich als Helden zu zeigen.

Im Drama sollen die Helden bestimmt werden --anders als im Epos-- und durch
welchen äußerlichen, unbedeutenden Anlaß der innere Conflict seine Richtung bekommt,
ist gleichgültig, wenn wir mir die Notwendigkeit dieser Wechselwirkung übersehen.

Es ist bei der Darstellung historischer Ereignisse -- und damit komme ich
wieder ans den Punkt zurück, von dem ich ausgegangen war -- die Aufgabe des
Dichters, die historische"! Gegensätze, die in der Geschichtschreibung sich als Maximen
gegenüberstehen, in einen individuellen Proceß zu übersetzen. Dramatisches Leben,
oder Leben überhaupt, ist damit identisch. Der Dichter lost damit dies Räthsel,
das der abstracte Verstand aufgestellt hat, ohne es beantworten zu können , weil
er eben aus den Abstractionen nie Herausgehen kauu: die Einheit der Freiheit
und der Notwendigkeit. Wir sollen uns zugleich an dem innern Erguß der
Freiheit erfreuen, und doch empfinden, daß er genau so erfolgt, wie er erfolgen
muß. -- Uuter dieser Bedingung ist dem Dichter jeder Stoff erlaubt, und
Schiller hat von dieser Freiheit eiuen ausschweifenden Gebrauch gemacht, er hat
in der Negel Stoffe gewählt, vor denen sich jedem Andern das Haar sträuben
würde. Jeder Stoff, anch die Politik: nur muß man ihr, weil sie der drama¬
tischen Behandlung größere Schwierigkeiten entgegensetzt, darum nicht auch eine
größere Dignität beimessen wollen.


Grenzboten. III. 18S0. . 64

gesaug zweier schöner Jndividualitätew, die einander nicht verstehen, und die
daher auch in keine wirkliche Dialektik treten können. Göthe's Charaktere sind,
wie man ganz mit Recht bemerkt hat, weich und empfänglich; aber sie sind nicht
bildsam, daher auch nicht dramatisch. Sie sind in ihrer Art fertig, die Geschichte
kann sie zerstören, aber nicht in ihnen ein neues Leben hervorrufen. Die Götz,
Weißlingen, Egmont, Alba, Oranien, Faust, Tasso u. s. w. haben keine Geschichte,
keine dramatische Entwickelung, und Wilhelm Meister könnte Jahrhunderte lang
in Lehr- und Wanderjahren sich herumtreiben, tausend Gräfinnen und Komödianten
könnten an ihm arbeite», und er würde am Ende doch kein Anderer sein, als zu
Anfang. — Der Mangel an Dialektik in jenem Dialog macht sich erst fühlbar,
wenn man ihn hört: mau empfindet dann recht lebhast, wie jene Maximen und
jene in ihrem Contrast sehr berechtigten individuellen Lebensrichtungen sich nur
antithetisch ergänzen, aber nicht dialektisch entwickeln. — Göthe'S Charaktere haben
darum ohne Ausnahme den Anschein größerer Vollendung, und unsere Apostel
des kategorischen Imperativs können ohne große Mühe bei Schiller's bestimmbaren
und bildsamen Persönlichkeiten den Mangel an fertiger Reife nachweisen. Aber
diese Menschen sind darum nicht weniger geeignet, unsere Theilnahme anzuregen
und uus zu erschüttern. Freilich wird Wallenstein, weil seine äußere Stellung
wie seine innere Leidenschaft einen beständigen Conflict darstellen, in dem ganzen
Stück wie in jener Scene, bestimmt, und zwar bestimmt durch untergeordnete Na¬
turen. Aber das geschieht mit Macbeth, Othello, Brutus n. s. w. nicht minder,
wenn sie nur im Uebrigen Gelegenheit haben, sich als Helden zu zeigen.

Im Drama sollen die Helden bestimmt werden —anders als im Epos— und durch
welchen äußerlichen, unbedeutenden Anlaß der innere Conflict seine Richtung bekommt,
ist gleichgültig, wenn wir mir die Notwendigkeit dieser Wechselwirkung übersehen.

Es ist bei der Darstellung historischer Ereignisse — und damit komme ich
wieder ans den Punkt zurück, von dem ich ausgegangen war — die Aufgabe des
Dichters, die historische»! Gegensätze, die in der Geschichtschreibung sich als Maximen
gegenüberstehen, in einen individuellen Proceß zu übersetzen. Dramatisches Leben,
oder Leben überhaupt, ist damit identisch. Der Dichter lost damit dies Räthsel,
das der abstracte Verstand aufgestellt hat, ohne es beantworten zu können , weil
er eben aus den Abstractionen nie Herausgehen kauu: die Einheit der Freiheit
und der Notwendigkeit. Wir sollen uns zugleich an dem innern Erguß der
Freiheit erfreuen, und doch empfinden, daß er genau so erfolgt, wie er erfolgen
muß. — Uuter dieser Bedingung ist dem Dichter jeder Stoff erlaubt, und
Schiller hat von dieser Freiheit eiuen ausschweifenden Gebrauch gemacht, er hat
in der Negel Stoffe gewählt, vor denen sich jedem Andern das Haar sträuben
würde. Jeder Stoff, anch die Politik: nur muß man ihr, weil sie der drama¬
tischen Behandlung größere Schwierigkeiten entgegensetzt, darum nicht auch eine
größere Dignität beimessen wollen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/513>, abgerufen am 01.09.2024.