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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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der seine Geschöpfe doch kennen muß, in sie verliebt ist und vollständig in sie auf¬
geht, das ist zu arg.

Daß in den hohem Regionen der Pariser Gesellschaft das Verbrechen seine
heimliche Zuflucht sucht, haben die (Äusos evlowo" der letzten Jahrzehnte gezeigt.
Die fromme Partei hat häufig die Romanschreiber dafür verantwortlich machen
wollen. Daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht, kann nicht bestritten
werden. Eigentlich steht aber Beides auf dem nämlichen Boden. Es ist der
Mangel an jedem eigentlichen Inhalt, an jedem Glauben, wie wir uns ausdrücken,
der jene fieberhaft", rasch und gewaltsam hinlebende Genußsucht, jene innere Hohl¬
heit und Eitelkeit des Charakters erzeugt, die neben ausschweifenden Chimäre",
neben dem krankhaften Haschen nach allem Positiven und Gegebenen hergeht, und
nur durch Eines gezügelt wird: die Schule des äußerlichen Ehrenpnnktes, das
wesentlichste sittliche Bildungsmomcnt des heutigen Frankreich, wie aller roma¬
nischen Volker.

Betrachten wir nämlich die eigentlichen Novellensignren Balzac'S, die Träger
der Begebenheiten, denen jene schönen Verbrecher als Folie dienen, so ist ihr
Grundtypus, auch wenn man sehr viel auf die nothwendige Passivität des eigent¬
lichen Nomanhclden abrechnet, die sich bei Göthe und Walter Scott, kurz überall
vorfindet, wo die moderne Poesie aus dem Dramatischen heraustritt, ein Mangel
an freier Selbstbestimmung und an eigner sittlicher Voraussetzung, der eigentlich
einen noch viel widerwärtigen Eindruck macht, als jenes ausgebildete Laster.
In der Regel kommen die jungen Leute (die Lucian de Nnbcmprü, die RaStinac)
nach Paris, um Glück zu machen; dieses Glück nimmt in der Regel die Gestalt
eines bedeutenden Vermögens an, mit dem man zugleich die Mittel zu allseitigem
Genuß erreicht; aber um dazu zu kommen, ist wieder Geld nöthig; z. B. man
will durch Liaison mit einer reichen Banquiersfran, oder durch Bekanntschaften im
Faubourg Se. Germain sich poussiren, dazu ist feine Wäsche nöthig, Handschuhe,
Equipage; man muß im Spiel verlieren können u. s. w. Balzac ist darin von
einem unermüdlichen Pragmatismus; er berechnet die Bedürfnisse eines seinen
Mannes bis auf Heller und Pfennig. Man sieht, daß es bei ihm nicht blos
abstracte Ideale sind, deren Darstellung er übernimmt. Nun aber mischt sich das
Alles, Spiel, Orgie", Bekanntschaft mit, Damen, die mau erst blos ausbeuten
will, wo dann aber auch ein HerzcuSbedürfuiß eintritt, Lüge, Betrug, Roth und
Großmuth, auf eine Weise in einander, daß man nichts mehr unterscheidet: das
Kerbholz ist das Einzige, was sichtbar bleibt.

Diese Ausmalung der finanziellen Verhältnisse im Detail geht noch weiter,
wenn man ans den eigentlichen Salons heraustritt. Die Bauquiergeschäfte und
die Geschicklichkeit im Specnlire" überwiegen alles andere Nomaninteresse. So
kann man aus Novellen, wie 1^, xronäem- öl Ig, Zvoaüonos' Äo (Zvsar virowau,
oder David Süchard sich eine vollständige Uebersicht des französischen Geschäfts-


der seine Geschöpfe doch kennen muß, in sie verliebt ist und vollständig in sie auf¬
geht, das ist zu arg.

Daß in den hohem Regionen der Pariser Gesellschaft das Verbrechen seine
heimliche Zuflucht sucht, haben die (Äusos evlowo» der letzten Jahrzehnte gezeigt.
Die fromme Partei hat häufig die Romanschreiber dafür verantwortlich machen
wollen. Daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht, kann nicht bestritten
werden. Eigentlich steht aber Beides auf dem nämlichen Boden. Es ist der
Mangel an jedem eigentlichen Inhalt, an jedem Glauben, wie wir uns ausdrücken,
der jene fieberhaft«, rasch und gewaltsam hinlebende Genußsucht, jene innere Hohl¬
heit und Eitelkeit des Charakters erzeugt, die neben ausschweifenden Chimäre»,
neben dem krankhaften Haschen nach allem Positiven und Gegebenen hergeht, und
nur durch Eines gezügelt wird: die Schule des äußerlichen Ehrenpnnktes, das
wesentlichste sittliche Bildungsmomcnt des heutigen Frankreich, wie aller roma¬
nischen Volker.

Betrachten wir nämlich die eigentlichen Novellensignren Balzac'S, die Träger
der Begebenheiten, denen jene schönen Verbrecher als Folie dienen, so ist ihr
Grundtypus, auch wenn man sehr viel auf die nothwendige Passivität des eigent¬
lichen Nomanhclden abrechnet, die sich bei Göthe und Walter Scott, kurz überall
vorfindet, wo die moderne Poesie aus dem Dramatischen heraustritt, ein Mangel
an freier Selbstbestimmung und an eigner sittlicher Voraussetzung, der eigentlich
einen noch viel widerwärtigen Eindruck macht, als jenes ausgebildete Laster.
In der Regel kommen die jungen Leute (die Lucian de Nnbcmprü, die RaStinac)
nach Paris, um Glück zu machen; dieses Glück nimmt in der Regel die Gestalt
eines bedeutenden Vermögens an, mit dem man zugleich die Mittel zu allseitigem
Genuß erreicht; aber um dazu zu kommen, ist wieder Geld nöthig; z. B. man
will durch Liaison mit einer reichen Banquiersfran, oder durch Bekanntschaften im
Faubourg Se. Germain sich poussiren, dazu ist feine Wäsche nöthig, Handschuhe,
Equipage; man muß im Spiel verlieren können u. s. w. Balzac ist darin von
einem unermüdlichen Pragmatismus; er berechnet die Bedürfnisse eines seinen
Mannes bis auf Heller und Pfennig. Man sieht, daß es bei ihm nicht blos
abstracte Ideale sind, deren Darstellung er übernimmt. Nun aber mischt sich das
Alles, Spiel, Orgie», Bekanntschaft mit, Damen, die mau erst blos ausbeuten
will, wo dann aber auch ein HerzcuSbedürfuiß eintritt, Lüge, Betrug, Roth und
Großmuth, auf eine Weise in einander, daß man nichts mehr unterscheidet: das
Kerbholz ist das Einzige, was sichtbar bleibt.

Diese Ausmalung der finanziellen Verhältnisse im Detail geht noch weiter,
wenn man ans den eigentlichen Salons heraustritt. Die Bauquiergeschäfte und
die Geschicklichkeit im Specnlire» überwiegen alles andere Nomaninteresse. So
kann man aus Novellen, wie 1^, xronäem- öl Ig, Zvoaüonos' Äo (Zvsar virowau,
oder David Süchard sich eine vollständige Uebersicht des französischen Geschäfts-


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[0436] der seine Geschöpfe doch kennen muß, in sie verliebt ist und vollständig in sie auf¬ geht, das ist zu arg. Daß in den hohem Regionen der Pariser Gesellschaft das Verbrechen seine heimliche Zuflucht sucht, haben die (Äusos evlowo» der letzten Jahrzehnte gezeigt. Die fromme Partei hat häufig die Romanschreiber dafür verantwortlich machen wollen. Daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht, kann nicht bestritten werden. Eigentlich steht aber Beides auf dem nämlichen Boden. Es ist der Mangel an jedem eigentlichen Inhalt, an jedem Glauben, wie wir uns ausdrücken, der jene fieberhaft«, rasch und gewaltsam hinlebende Genußsucht, jene innere Hohl¬ heit und Eitelkeit des Charakters erzeugt, die neben ausschweifenden Chimäre», neben dem krankhaften Haschen nach allem Positiven und Gegebenen hergeht, und nur durch Eines gezügelt wird: die Schule des äußerlichen Ehrenpnnktes, das wesentlichste sittliche Bildungsmomcnt des heutigen Frankreich, wie aller roma¬ nischen Volker. Betrachten wir nämlich die eigentlichen Novellensignren Balzac'S, die Träger der Begebenheiten, denen jene schönen Verbrecher als Folie dienen, so ist ihr Grundtypus, auch wenn man sehr viel auf die nothwendige Passivität des eigent¬ lichen Nomanhclden abrechnet, die sich bei Göthe und Walter Scott, kurz überall vorfindet, wo die moderne Poesie aus dem Dramatischen heraustritt, ein Mangel an freier Selbstbestimmung und an eigner sittlicher Voraussetzung, der eigentlich einen noch viel widerwärtigen Eindruck macht, als jenes ausgebildete Laster. In der Regel kommen die jungen Leute (die Lucian de Nnbcmprü, die RaStinac) nach Paris, um Glück zu machen; dieses Glück nimmt in der Regel die Gestalt eines bedeutenden Vermögens an, mit dem man zugleich die Mittel zu allseitigem Genuß erreicht; aber um dazu zu kommen, ist wieder Geld nöthig; z. B. man will durch Liaison mit einer reichen Banquiersfran, oder durch Bekanntschaften im Faubourg Se. Germain sich poussiren, dazu ist feine Wäsche nöthig, Handschuhe, Equipage; man muß im Spiel verlieren können u. s. w. Balzac ist darin von einem unermüdlichen Pragmatismus; er berechnet die Bedürfnisse eines seinen Mannes bis auf Heller und Pfennig. Man sieht, daß es bei ihm nicht blos abstracte Ideale sind, deren Darstellung er übernimmt. Nun aber mischt sich das Alles, Spiel, Orgie», Bekanntschaft mit, Damen, die mau erst blos ausbeuten will, wo dann aber auch ein HerzcuSbedürfuiß eintritt, Lüge, Betrug, Roth und Großmuth, auf eine Weise in einander, daß man nichts mehr unterscheidet: das Kerbholz ist das Einzige, was sichtbar bleibt. Diese Ausmalung der finanziellen Verhältnisse im Detail geht noch weiter, wenn man ans den eigentlichen Salons heraustritt. Die Bauquiergeschäfte und die Geschicklichkeit im Specnlire» überwiegen alles andere Nomaninteresse. So kann man aus Novellen, wie 1^, xronäem- öl Ig, Zvoaüonos' Äo (Zvsar virowau, oder David Süchard sich eine vollständige Uebersicht des französischen Geschäfts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/436>, abgerufen am 27.07.2024.