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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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elastische Schwungkraft des Geistes gesteigert zu sehen. Für Wahrheit und
Schönheit der scenischen Darstellung liegt in solcher Rhetorik der Leidenschaft
eine große Schwierigkeit. Zu Corneille's und Voltaire's Zeiten wurde das voll
den Frauzosen uoch nicht empfunden, der Vortrag ans der Bühne war vorzugs¬
weise declamirend, die naive Freude an dem Klange der prächtigen Phrasen war
noch herrschend, und dankbar wurde anerkannt, wenn der Schauspieler mit Fein¬
heit und Haltung durch den Strom der Worte ein tiefes menschliches Gefühl
durchleuchten ließ. Als aber das moderne Leben der französischen Tragödie sein
Recht verlangte, und seit der französischen Revolution und durch Talma von dem
Schauspieler ein scharfes und detaillirtes Charakteristren der Leidenschaft gefordert
wurde, mußte der Künstler des reales ir-in^is in ein eigenthümliches Verhält¬
nis^ zu dem Text der Rolle treten, die er lebendig zu machen hatte. In den
Worten war sehr wenig von den tausend Uebergängen und Nuancen des Ge¬
fühls enthalten, welches der Schauspieler in seiner Situation ausführlich darstel¬
len wollte, ja im Gegeutheil, ein getreues und sorgfältiges Spiel uach den
Worten machte leidenschaftliches und hochtragisches Detail oft unmöglich. Und so
kam es, daß der französische Tragöde sein Spiel viel mehr von den Dichterworten
trennte, als bei uns für möglich und erlaubt gelten würde, daß er alle die Em¬
pfindungen, Gefühlsausbrüche und leidenschaftlichen Zuckungen der Seele, welche
im Text oft nicht angedeutet waren, selbst mit erstaunlicher Freiheit lstnznschuf. Die
Verse wurden dann die Musik, deren unwiderstehliche Melodie ihn und sein Publicum
in einen gewissen heiligen Rausch versetzte; in dieser erhöhte" Stimmung schuf
er mit souverainer Kraft den Inhalt der Scene, schleuderte hier ganze Reihen
von Versen mit unendlicher Volubilität der Zunge von sich, steckte dort auf einer
epigrammatischen Spitze die volle Gluth eines Ungeheuern Gefühls auf, und ver¬
wandelte so die sententivsc Rede in eine Scene voll leidenschaftlicher Bewegung,
welche durch mauches Detail des Spiels, die schnellen Uebergänge, das starke
Auftragen der Farbe und durch das Accompagnement des Alexandriners allerdings
an das Melodrama erinnert. Es ist unnöthig, auszuführen, daß eine solche
Behandlung der französischen Tragödie nur einer genialen Künstlerkraft möglich
ist, daß es ferner ein gefährlicher Uebelstand ist, wenn eine Kunstform so bestellt
ist, daß sie uur durch die Wagnisse des Genie's zu etwas Großem sür uns wer¬
den kann; und daß endlich auch das größte Genie auf solchem Wege, wo es
ganz allein durch Wagnisse zu siegen hat, zuletzt in Virtuosenthum und Manier
enden muß.

Was hier gesagt wurde, soll die Bemerkungen über Rachel und ihr Spiel
vertreten, welche dies Blatt jetzt, wo die Helden des UiLirlre trmr^us über die deut¬
schen Bretter schreitet, seinen Freunden schuldig war. Ueber Rachel selbst ist
seit ihrem Auftreten so viel von Deutschen und Franzosen geschrieben worden,
daß kaum etwas Neues über sie zu sagen ist. Das Beste, was von unsern Deutschen


elastische Schwungkraft des Geistes gesteigert zu sehen. Für Wahrheit und
Schönheit der scenischen Darstellung liegt in solcher Rhetorik der Leidenschaft
eine große Schwierigkeit. Zu Corneille's und Voltaire's Zeiten wurde das voll
den Frauzosen uoch nicht empfunden, der Vortrag ans der Bühne war vorzugs¬
weise declamirend, die naive Freude an dem Klange der prächtigen Phrasen war
noch herrschend, und dankbar wurde anerkannt, wenn der Schauspieler mit Fein¬
heit und Haltung durch den Strom der Worte ein tiefes menschliches Gefühl
durchleuchten ließ. Als aber das moderne Leben der französischen Tragödie sein
Recht verlangte, und seit der französischen Revolution und durch Talma von dem
Schauspieler ein scharfes und detaillirtes Charakteristren der Leidenschaft gefordert
wurde, mußte der Künstler des reales ir-in^is in ein eigenthümliches Verhält¬
nis^ zu dem Text der Rolle treten, die er lebendig zu machen hatte. In den
Worten war sehr wenig von den tausend Uebergängen und Nuancen des Ge¬
fühls enthalten, welches der Schauspieler in seiner Situation ausführlich darstel¬
len wollte, ja im Gegeutheil, ein getreues und sorgfältiges Spiel uach den
Worten machte leidenschaftliches und hochtragisches Detail oft unmöglich. Und so
kam es, daß der französische Tragöde sein Spiel viel mehr von den Dichterworten
trennte, als bei uns für möglich und erlaubt gelten würde, daß er alle die Em¬
pfindungen, Gefühlsausbrüche und leidenschaftlichen Zuckungen der Seele, welche
im Text oft nicht angedeutet waren, selbst mit erstaunlicher Freiheit lstnznschuf. Die
Verse wurden dann die Musik, deren unwiderstehliche Melodie ihn und sein Publicum
in einen gewissen heiligen Rausch versetzte; in dieser erhöhte» Stimmung schuf
er mit souverainer Kraft den Inhalt der Scene, schleuderte hier ganze Reihen
von Versen mit unendlicher Volubilität der Zunge von sich, steckte dort auf einer
epigrammatischen Spitze die volle Gluth eines Ungeheuern Gefühls auf, und ver¬
wandelte so die sententivsc Rede in eine Scene voll leidenschaftlicher Bewegung,
welche durch mauches Detail des Spiels, die schnellen Uebergänge, das starke
Auftragen der Farbe und durch das Accompagnement des Alexandriners allerdings
an das Melodrama erinnert. Es ist unnöthig, auszuführen, daß eine solche
Behandlung der französischen Tragödie nur einer genialen Künstlerkraft möglich
ist, daß es ferner ein gefährlicher Uebelstand ist, wenn eine Kunstform so bestellt
ist, daß sie uur durch die Wagnisse des Genie's zu etwas Großem sür uns wer¬
den kann; und daß endlich auch das größte Genie auf solchem Wege, wo es
ganz allein durch Wagnisse zu siegen hat, zuletzt in Virtuosenthum und Manier
enden muß.

Was hier gesagt wurde, soll die Bemerkungen über Rachel und ihr Spiel
vertreten, welche dies Blatt jetzt, wo die Helden des UiLirlre trmr^us über die deut¬
schen Bretter schreitet, seinen Freunden schuldig war. Ueber Rachel selbst ist
seit ihrem Auftreten so viel von Deutschen und Franzosen geschrieben worden,
daß kaum etwas Neues über sie zu sagen ist. Das Beste, was von unsern Deutschen


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[0420] elastische Schwungkraft des Geistes gesteigert zu sehen. Für Wahrheit und Schönheit der scenischen Darstellung liegt in solcher Rhetorik der Leidenschaft eine große Schwierigkeit. Zu Corneille's und Voltaire's Zeiten wurde das voll den Frauzosen uoch nicht empfunden, der Vortrag ans der Bühne war vorzugs¬ weise declamirend, die naive Freude an dem Klange der prächtigen Phrasen war noch herrschend, und dankbar wurde anerkannt, wenn der Schauspieler mit Fein¬ heit und Haltung durch den Strom der Worte ein tiefes menschliches Gefühl durchleuchten ließ. Als aber das moderne Leben der französischen Tragödie sein Recht verlangte, und seit der französischen Revolution und durch Talma von dem Schauspieler ein scharfes und detaillirtes Charakteristren der Leidenschaft gefordert wurde, mußte der Künstler des reales ir-in^is in ein eigenthümliches Verhält¬ nis^ zu dem Text der Rolle treten, die er lebendig zu machen hatte. In den Worten war sehr wenig von den tausend Uebergängen und Nuancen des Ge¬ fühls enthalten, welches der Schauspieler in seiner Situation ausführlich darstel¬ len wollte, ja im Gegeutheil, ein getreues und sorgfältiges Spiel uach den Worten machte leidenschaftliches und hochtragisches Detail oft unmöglich. Und so kam es, daß der französische Tragöde sein Spiel viel mehr von den Dichterworten trennte, als bei uns für möglich und erlaubt gelten würde, daß er alle die Em¬ pfindungen, Gefühlsausbrüche und leidenschaftlichen Zuckungen der Seele, welche im Text oft nicht angedeutet waren, selbst mit erstaunlicher Freiheit lstnznschuf. Die Verse wurden dann die Musik, deren unwiderstehliche Melodie ihn und sein Publicum in einen gewissen heiligen Rausch versetzte; in dieser erhöhte» Stimmung schuf er mit souverainer Kraft den Inhalt der Scene, schleuderte hier ganze Reihen von Versen mit unendlicher Volubilität der Zunge von sich, steckte dort auf einer epigrammatischen Spitze die volle Gluth eines Ungeheuern Gefühls auf, und ver¬ wandelte so die sententivsc Rede in eine Scene voll leidenschaftlicher Bewegung, welche durch mauches Detail des Spiels, die schnellen Uebergänge, das starke Auftragen der Farbe und durch das Accompagnement des Alexandriners allerdings an das Melodrama erinnert. Es ist unnöthig, auszuführen, daß eine solche Behandlung der französischen Tragödie nur einer genialen Künstlerkraft möglich ist, daß es ferner ein gefährlicher Uebelstand ist, wenn eine Kunstform so bestellt ist, daß sie uur durch die Wagnisse des Genie's zu etwas Großem sür uns wer¬ den kann; und daß endlich auch das größte Genie auf solchem Wege, wo es ganz allein durch Wagnisse zu siegen hat, zuletzt in Virtuosenthum und Manier enden muß. Was hier gesagt wurde, soll die Bemerkungen über Rachel und ihr Spiel vertreten, welche dies Blatt jetzt, wo die Helden des UiLirlre trmr^us über die deut¬ schen Bretter schreitet, seinen Freunden schuldig war. Ueber Rachel selbst ist seit ihrem Auftreten so viel von Deutschen und Franzosen geschrieben worden, daß kaum etwas Neues über sie zu sagen ist. Das Beste, was von unsern Deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/420>, abgerufen am 27.07.2024.