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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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anf. Aber man fühlt sehr bald heraus, wo die Eitelkeit ein leeres, frivoles
Spiel mit der tragischen Maske treibt, und wo es die Tiefe eines kranken, aber
wahren Gefühls ist, die sich in sich selber verliert. Bei Lenau war die später
eintretende, äußerliche, schreckliche Bestätigung nicht nöthig, für die Wahrheit
seiner Schmerzen ein Zeugnis; abzulegen. Lenau hat nicht getändelt mit seinen
Zweifeln, er hat sich nicht Wohlgefallen in dem ironischen Bewußtsein von der
Verkehrtheit der Welt; er hat mit ernstem Ringen nach dein Halt gestrebt, der
ihn über den Wirbel seiner eignen Gedanken erheben sollte, aber seine Hand war
zu schwach, ihn zu fassen. Was ihm selber nicht gefrommt, können wir uns
aneignen:

Nicht meint das Lied auf Tode abzulenken
Den Haß von solchen, die uns heute kränken;
Doch vor den schwächer", spätgezeugtcn Kindern
Des Nachtgcists wird die scheue Furcht sich mindern,
Wenn ihn die Schrumvsgestalten der Despoten
Vergleicht mit Innocenz, dem großen Tobten,
Der doch der Menschheit Herz nicht still gezwungen,
Und den Gedanken nicht hinabgerungen.

Und worin liegt das Wesen jenes geistigen Kampfes, der alle Fibern unserer
Zeit ergreift, und sie in unruhiger, krankhafter Bewegung erhält? -- Was jene
Ketzer, die Albigenser, Savanarola n. s. w., in dunklen Ahnen erstrebten, was die
Lieblingsgestalt unserer deutschen Poesie, jener räthselhafte Schwarzkünstler, weil
er an der eigenen Kraft verzweifelte, in unheiligen Bunde suchte -- das ist
jetzt zu dein leitenden Problem geworden, von welchem nicht nur die hervorragen¬
den Denker und Dichter getroffen werden, das sich in den einfachsten Angelegen¬
heiten des Tages aufdrängt, das stärker oder schwächer in jedem Herzen vibrirt.

Das Problem liegt darin, die Ordnung der Welt, die man sonst im Himmel
suchte und an ihn knüpfte, in ihr selber wiederzufinden; die Postulate der reinen
Vernunft, wie es Kant ausdrückte, d. h. die Wahrheit jeuer überirdischen
Hoffnungen, ohne welche das Herz die Welt uicht begreift, und die doch der Ver¬
stand widerlegt, entbehren zu können; den Tempel des Glaubens, ohne den der
Sohn des Staubes sich als ein zweckloses Atom der Schöpfung verlieren muß,
als Werk der eigenen Hände aufzurichten.

Die Wissenschaft verfolgt das Ziel -- die Autonomie der Welt -- mit unab¬
lässiger Anstrengung, die niemals schmerzt, weil sie die Empfindung äußeren Spiel
läßt. DaS sittliche Leben im Großen und Ganzen strebt, schwankend und häufig
geirrt, häufig ermüdet, demselben Ziele nach; es ist mit seinen endlichen, einzelnen
Wünschen zu sehr beschäftigt, um den Verlust seines bisherigen Schwerpunktes in
einer Totalempsindung zu concentriren. Aber die Dichtung, der Krystall, in dem
alle Farben der Welt reflectiren, nimmt den ganzen, schreienden Kontrast in


anf. Aber man fühlt sehr bald heraus, wo die Eitelkeit ein leeres, frivoles
Spiel mit der tragischen Maske treibt, und wo es die Tiefe eines kranken, aber
wahren Gefühls ist, die sich in sich selber verliert. Bei Lenau war die später
eintretende, äußerliche, schreckliche Bestätigung nicht nöthig, für die Wahrheit
seiner Schmerzen ein Zeugnis; abzulegen. Lenau hat nicht getändelt mit seinen
Zweifeln, er hat sich nicht Wohlgefallen in dem ironischen Bewußtsein von der
Verkehrtheit der Welt; er hat mit ernstem Ringen nach dein Halt gestrebt, der
ihn über den Wirbel seiner eignen Gedanken erheben sollte, aber seine Hand war
zu schwach, ihn zu fassen. Was ihm selber nicht gefrommt, können wir uns
aneignen:

Nicht meint das Lied auf Tode abzulenken
Den Haß von solchen, die uns heute kränken;
Doch vor den schwächer», spätgezeugtcn Kindern
Des Nachtgcists wird die scheue Furcht sich mindern,
Wenn ihn die Schrumvsgestalten der Despoten
Vergleicht mit Innocenz, dem großen Tobten,
Der doch der Menschheit Herz nicht still gezwungen,
Und den Gedanken nicht hinabgerungen.

Und worin liegt das Wesen jenes geistigen Kampfes, der alle Fibern unserer
Zeit ergreift, und sie in unruhiger, krankhafter Bewegung erhält? — Was jene
Ketzer, die Albigenser, Savanarola n. s. w., in dunklen Ahnen erstrebten, was die
Lieblingsgestalt unserer deutschen Poesie, jener räthselhafte Schwarzkünstler, weil
er an der eigenen Kraft verzweifelte, in unheiligen Bunde suchte — das ist
jetzt zu dein leitenden Problem geworden, von welchem nicht nur die hervorragen¬
den Denker und Dichter getroffen werden, das sich in den einfachsten Angelegen¬
heiten des Tages aufdrängt, das stärker oder schwächer in jedem Herzen vibrirt.

Das Problem liegt darin, die Ordnung der Welt, die man sonst im Himmel
suchte und an ihn knüpfte, in ihr selber wiederzufinden; die Postulate der reinen
Vernunft, wie es Kant ausdrückte, d. h. die Wahrheit jeuer überirdischen
Hoffnungen, ohne welche das Herz die Welt uicht begreift, und die doch der Ver¬
stand widerlegt, entbehren zu können; den Tempel des Glaubens, ohne den der
Sohn des Staubes sich als ein zweckloses Atom der Schöpfung verlieren muß,
als Werk der eigenen Hände aufzurichten.

Die Wissenschaft verfolgt das Ziel — die Autonomie der Welt — mit unab¬
lässiger Anstrengung, die niemals schmerzt, weil sie die Empfindung äußeren Spiel
läßt. DaS sittliche Leben im Großen und Ganzen strebt, schwankend und häufig
geirrt, häufig ermüdet, demselben Ziele nach; es ist mit seinen endlichen, einzelnen
Wünschen zu sehr beschäftigt, um den Verlust seines bisherigen Schwerpunktes in
einer Totalempsindung zu concentriren. Aber die Dichtung, der Krystall, in dem
alle Farben der Welt reflectiren, nimmt den ganzen, schreienden Kontrast in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/391>, abgerufen am 01.09.2024.