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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Jedermann anerkannt werden. Ueberall ist die neue Naturwissenschaft mit ihren
Früchten eingedrungen, nur nicht in die Köpfe der Leute. Noch heute sind eine
Menge politischer und socialer Einrichtungen, ja sogar ein großer Theil unserer
Sprache und Ausdrucksweise, ans Ideen begründet, welche nnr damals Gel¬
tung haben konnten, als man uoch glaubte, die Erde sei eine bevorzugte Scheibe
Landes mit einem darüber gedeckten gläsernen Firmaments, an welchem einige
Sterne zu Bcleuchtuugszweckcn angebracht seien, und mit einer aparten, den
Gang der irdischen Dinge durch tagtägliche (zwar wohlwollende, aber ganz will¬
kürliche) Eingriffe zusammenhaltenden Vorsehung. Sogar uuter den sogenannten
Gebildeten haben Wenige einen klaren Begriff von der allgemeinen im Schöpf-
ungsakt herrschenden Gesetzlichkeit und von den Consequenzen, welche sie daraus
für das alltägliche Treiben und Denken ziehen müßten. Selbst unter den Ge¬
lehrten und Philosophen von Fach ist diese Bildung noch sehr sparsam zu finden
und hat häusig nur dazu geführt, die verneinende und umstürzende Seite des
Gegenstandes herauszukehren, die Gemüther durch ungestüme Angriffe ans ver¬
altete Dogmen zu schrecken, und die versöhnenden Momente der neuemdecktcu,
Alles mit harmonischer Gesetzlichkeit durchdringenden Weltordnung zu verhehlen.
So ist es gekommen, daß Viele unter den Gebildeten und Machthabeuden, so
sehr sie den .Werth und die Unumstößlichkeit der neuern Naturforschung aner¬
kennen, doch die Furcht hegen, durch deren Consequenzen einem allgemeinen Um¬
sturz entgegenzugehen, oder doch eine Menge liebgewordene Schätze des gemäch¬
lichen und religiösen Gefühls einzubüßen. Ein banges Vorgefühl, daß der ge¬
waltige Riß zwischen der alten und der neuen Weltanschauung nächstens klaffend
zu Tage treten und unter Frevel und Rohheiten die alten Heiligthümer begraben
werde, zieht seit langem durch die sinnende Menschheit.

Ans diesen Umständen erklärt sich hauptsächlich die allgemeine und freudige
Sensation, mit welcher in den letzten Jahren das wissenschaftliche Testament zweier
der berühmtesten Naturforscher ausgenommen wurde. Wir meinen den "Kos¬
mos" von Alexander von Humboldt, und "die letzten Tage eines
Naturforschers" von Humphry Davy.") Die gewaltige Einwirkung dieser
Schriften auf das Publicum der verschiedensten Völker beruhte nicht sowohl
auf dem darin aufgespeicherten reichen Material einzelner Naturkenntnisse; denn
diese sind anderwärts anch und vielleicht noch populärer dargestellt; sondern sie
lag darin, daß ein paar Greise, welche ihr ganzes langes Leben der speciellen



Kosmos. Entwurf einer Physischen Wcltveschrcibung. Von Alexander von
Humboldt. Zwei Bände. Stuttgart und Tübingen. 1847. Sir Humphry Davy's
tröstende Betrachtungen auf Reise", oder die letzten Tage eine? Naturforschers. Nach der
3. Ausgabe, von C. Fr. PH. von Martius. Zweite verh. Ausgabe. Nürnv. I83g. 8.--
Vergleiche auch: Denkwürdigkeiten aus den Leven Sir Humphry Davy'S, herausg.
von seinem Bruder John Davy. Deutsch von C. Neubert. Vier Bände. Leipzig, 1840.
Grcnzvoten. III. I8S0. . 43

Jedermann anerkannt werden. Ueberall ist die neue Naturwissenschaft mit ihren
Früchten eingedrungen, nur nicht in die Köpfe der Leute. Noch heute sind eine
Menge politischer und socialer Einrichtungen, ja sogar ein großer Theil unserer
Sprache und Ausdrucksweise, ans Ideen begründet, welche nnr damals Gel¬
tung haben konnten, als man uoch glaubte, die Erde sei eine bevorzugte Scheibe
Landes mit einem darüber gedeckten gläsernen Firmaments, an welchem einige
Sterne zu Bcleuchtuugszweckcn angebracht seien, und mit einer aparten, den
Gang der irdischen Dinge durch tagtägliche (zwar wohlwollende, aber ganz will¬
kürliche) Eingriffe zusammenhaltenden Vorsehung. Sogar uuter den sogenannten
Gebildeten haben Wenige einen klaren Begriff von der allgemeinen im Schöpf-
ungsakt herrschenden Gesetzlichkeit und von den Consequenzen, welche sie daraus
für das alltägliche Treiben und Denken ziehen müßten. Selbst unter den Ge¬
lehrten und Philosophen von Fach ist diese Bildung noch sehr sparsam zu finden
und hat häusig nur dazu geführt, die verneinende und umstürzende Seite des
Gegenstandes herauszukehren, die Gemüther durch ungestüme Angriffe ans ver¬
altete Dogmen zu schrecken, und die versöhnenden Momente der neuemdecktcu,
Alles mit harmonischer Gesetzlichkeit durchdringenden Weltordnung zu verhehlen.
So ist es gekommen, daß Viele unter den Gebildeten und Machthabeuden, so
sehr sie den .Werth und die Unumstößlichkeit der neuern Naturforschung aner¬
kennen, doch die Furcht hegen, durch deren Consequenzen einem allgemeinen Um¬
sturz entgegenzugehen, oder doch eine Menge liebgewordene Schätze des gemäch¬
lichen und religiösen Gefühls einzubüßen. Ein banges Vorgefühl, daß der ge¬
waltige Riß zwischen der alten und der neuen Weltanschauung nächstens klaffend
zu Tage treten und unter Frevel und Rohheiten die alten Heiligthümer begraben
werde, zieht seit langem durch die sinnende Menschheit.

Ans diesen Umständen erklärt sich hauptsächlich die allgemeine und freudige
Sensation, mit welcher in den letzten Jahren das wissenschaftliche Testament zweier
der berühmtesten Naturforscher ausgenommen wurde. Wir meinen den „Kos¬
mos" von Alexander von Humboldt, und „die letzten Tage eines
Naturforschers" von Humphry Davy.") Die gewaltige Einwirkung dieser
Schriften auf das Publicum der verschiedensten Völker beruhte nicht sowohl
auf dem darin aufgespeicherten reichen Material einzelner Naturkenntnisse; denn
diese sind anderwärts anch und vielleicht noch populärer dargestellt; sondern sie
lag darin, daß ein paar Greise, welche ihr ganzes langes Leben der speciellen



Kosmos. Entwurf einer Physischen Wcltveschrcibung. Von Alexander von
Humboldt. Zwei Bände. Stuttgart und Tübingen. 1847. Sir Humphry Davy's
tröstende Betrachtungen auf Reise», oder die letzten Tage eine? Naturforschers. Nach der
3. Ausgabe, von C. Fr. PH. von Martius. Zweite verh. Ausgabe. Nürnv. I83g. 8.—
Vergleiche auch: Denkwürdigkeiten aus den Leven Sir Humphry Davy'S, herausg.
von seinem Bruder John Davy. Deutsch von C. Neubert. Vier Bände. Leipzig, 1840.
Grcnzvoten. III. I8S0. . 43
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[0345] Jedermann anerkannt werden. Ueberall ist die neue Naturwissenschaft mit ihren Früchten eingedrungen, nur nicht in die Köpfe der Leute. Noch heute sind eine Menge politischer und socialer Einrichtungen, ja sogar ein großer Theil unserer Sprache und Ausdrucksweise, ans Ideen begründet, welche nnr damals Gel¬ tung haben konnten, als man uoch glaubte, die Erde sei eine bevorzugte Scheibe Landes mit einem darüber gedeckten gläsernen Firmaments, an welchem einige Sterne zu Bcleuchtuugszweckcn angebracht seien, und mit einer aparten, den Gang der irdischen Dinge durch tagtägliche (zwar wohlwollende, aber ganz will¬ kürliche) Eingriffe zusammenhaltenden Vorsehung. Sogar uuter den sogenannten Gebildeten haben Wenige einen klaren Begriff von der allgemeinen im Schöpf- ungsakt herrschenden Gesetzlichkeit und von den Consequenzen, welche sie daraus für das alltägliche Treiben und Denken ziehen müßten. Selbst unter den Ge¬ lehrten und Philosophen von Fach ist diese Bildung noch sehr sparsam zu finden und hat häusig nur dazu geführt, die verneinende und umstürzende Seite des Gegenstandes herauszukehren, die Gemüther durch ungestüme Angriffe ans ver¬ altete Dogmen zu schrecken, und die versöhnenden Momente der neuemdecktcu, Alles mit harmonischer Gesetzlichkeit durchdringenden Weltordnung zu verhehlen. So ist es gekommen, daß Viele unter den Gebildeten und Machthabeuden, so sehr sie den .Werth und die Unumstößlichkeit der neuern Naturforschung aner¬ kennen, doch die Furcht hegen, durch deren Consequenzen einem allgemeinen Um¬ sturz entgegenzugehen, oder doch eine Menge liebgewordene Schätze des gemäch¬ lichen und religiösen Gefühls einzubüßen. Ein banges Vorgefühl, daß der ge¬ waltige Riß zwischen der alten und der neuen Weltanschauung nächstens klaffend zu Tage treten und unter Frevel und Rohheiten die alten Heiligthümer begraben werde, zieht seit langem durch die sinnende Menschheit. Ans diesen Umständen erklärt sich hauptsächlich die allgemeine und freudige Sensation, mit welcher in den letzten Jahren das wissenschaftliche Testament zweier der berühmtesten Naturforscher ausgenommen wurde. Wir meinen den „Kos¬ mos" von Alexander von Humboldt, und „die letzten Tage eines Naturforschers" von Humphry Davy.") Die gewaltige Einwirkung dieser Schriften auf das Publicum der verschiedensten Völker beruhte nicht sowohl auf dem darin aufgespeicherten reichen Material einzelner Naturkenntnisse; denn diese sind anderwärts anch und vielleicht noch populärer dargestellt; sondern sie lag darin, daß ein paar Greise, welche ihr ganzes langes Leben der speciellen Kosmos. Entwurf einer Physischen Wcltveschrcibung. Von Alexander von Humboldt. Zwei Bände. Stuttgart und Tübingen. 1847. Sir Humphry Davy's tröstende Betrachtungen auf Reise», oder die letzten Tage eine? Naturforschers. Nach der 3. Ausgabe, von C. Fr. PH. von Martius. Zweite verh. Ausgabe. Nürnv. I83g. 8.— Vergleiche auch: Denkwürdigkeiten aus den Leven Sir Humphry Davy'S, herausg. von seinem Bruder John Davy. Deutsch von C. Neubert. Vier Bände. Leipzig, 1840. Grcnzvoten. III. I8S0. . 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/345>, abgerufen am 27.07.2024.