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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Oestrichs Fürsten auf diesen Versuch zurückgekommen; sie haben aber nie die
Kraft entwickelt, ihn durchzuführen. Aber die künstliche Stagnation, in der Met¬
ternich die staatlichen Widersprüche zu bannen und zu verstecken wußte, kann nicht
lange dauern; wäre es möglich, so träte Oestreich aus der Reihe der Cultur-
staaten heraus. Die Verfassung des 6. März und die daraus resultireuden Schritte
sind der nothwendige Versuch des Staats, sich zu organisiren. Der Versuch ist
ungeschickt, roh, voll von Widersprüchen -- aber er ist nicht zu umgehen. Die
Grenzboten können sich rühmen, diesen Gesichtspunkt! von Anbeginn der Revolu¬
tion festgehalten zu haben. Von diesem aus sind auch die Vertreter deö legi¬
timen Rechts zu beurtheilen, sofern dieselben gegen den Neubau Oestreichs Oppo¬
sition macheu.

Paul von Somsfich, der Verfasser der oben angeregten Schrift, ist einer der
gediegensten derselben. Wir behalten uns die ausführliche Besprechung dieses
wichtigen Buches noch vor. Hier nur soviel, der Legitimist beweist zu viel oder
zu wenig. Zu viel: denn wäre es denkbar, daß Ungarn einen lebensfähigen
Staat bilden könnte, so müßte bei dem vorherrschenden und durch keine Gewalt
der Erde mehr zurückzudrängenden Streben unserer Staaten, durch Gewinnung
der nationalen Basis aus der künstlichen Form des Mittelalters in die natürliche
überzugehen, Ungarn früher oder später wieder zum Versuch der Unabhängigkeit
getrieben werden. Denn nur die mittelalterlichen, privatrechtlich in einander ver¬
wickelten Staatsverhältnisse ertrugen eine bedingte Souveränetät; jeder Staat,
der eine relative Freiheit zu behaupten im Staude ist, wird nach der vollen streben.
Zu wenig aber beweist er, wenn er mit der ungeschickten Weise der Durchführung
auch das Princip der Regierung widerlegt zu haben glaubt.

Somsfich steht weit höher, als unsere preußischen Legitimisten. Er bleibt bei
seiner Ncchtsdeductivn, obgleich sie ihm die Hauptsache ist, uicht stehe"; er sucht
mit den Allgen seiner Gegner um sich zu scheu, aus ihrem eigenen Interesse sich
zu orientiren. Er steht darum höher, weil sein Grundsatz eine viel solidere Basis
hat; denn er beruht auf den factischen Verhältnissen, während die Legitimität unsers
deutscheu Bundes u. s. w. nur noch in der Einbildung vorhanden ist.

Wenn aber uicht einmal eine einfache staatsrechtliche Frage durch jenes
Zauberwort, durch welches man den bösen Geist der Revolution zu bannen vermeint,
zu entscheiden ist, so ist das noch viel weniger denkbar bei denjenigen Bestrebungen,
die in der Politik sehr bald das abstracte Staatsrecht ganz aus dem Gesichtskreise
drängen werden: den Bestrcbrngen der eigentlichen Cultur. Eine legitimistische
Nationalökonomie und Handelspolitik -- der Gedanke ist zu absurd, als daß nicht
unsere romantischen Staatsknnstler schon darauf verfallen sein sollten. Den Hunger
durch das göttliche Recht der Könige zu heilen, den Socialismus dnrch den Ge¬
danken an die Obrigkeit von Gottes Gnaden zu beschworen -- den französischen
Legitimisten blieb es vorbehalten, auch diesen Hohn gegen die Menschheit auSznklügelu.


Oestrichs Fürsten auf diesen Versuch zurückgekommen; sie haben aber nie die
Kraft entwickelt, ihn durchzuführen. Aber die künstliche Stagnation, in der Met¬
ternich die staatlichen Widersprüche zu bannen und zu verstecken wußte, kann nicht
lange dauern; wäre es möglich, so träte Oestreich aus der Reihe der Cultur-
staaten heraus. Die Verfassung des 6. März und die daraus resultireuden Schritte
sind der nothwendige Versuch des Staats, sich zu organisiren. Der Versuch ist
ungeschickt, roh, voll von Widersprüchen — aber er ist nicht zu umgehen. Die
Grenzboten können sich rühmen, diesen Gesichtspunkt! von Anbeginn der Revolu¬
tion festgehalten zu haben. Von diesem aus sind auch die Vertreter deö legi¬
timen Rechts zu beurtheilen, sofern dieselben gegen den Neubau Oestreichs Oppo¬
sition macheu.

Paul von Somsfich, der Verfasser der oben angeregten Schrift, ist einer der
gediegensten derselben. Wir behalten uns die ausführliche Besprechung dieses
wichtigen Buches noch vor. Hier nur soviel, der Legitimist beweist zu viel oder
zu wenig. Zu viel: denn wäre es denkbar, daß Ungarn einen lebensfähigen
Staat bilden könnte, so müßte bei dem vorherrschenden und durch keine Gewalt
der Erde mehr zurückzudrängenden Streben unserer Staaten, durch Gewinnung
der nationalen Basis aus der künstlichen Form des Mittelalters in die natürliche
überzugehen, Ungarn früher oder später wieder zum Versuch der Unabhängigkeit
getrieben werden. Denn nur die mittelalterlichen, privatrechtlich in einander ver¬
wickelten Staatsverhältnisse ertrugen eine bedingte Souveränetät; jeder Staat,
der eine relative Freiheit zu behaupten im Staude ist, wird nach der vollen streben.
Zu wenig aber beweist er, wenn er mit der ungeschickten Weise der Durchführung
auch das Princip der Regierung widerlegt zu haben glaubt.

Somsfich steht weit höher, als unsere preußischen Legitimisten. Er bleibt bei
seiner Ncchtsdeductivn, obgleich sie ihm die Hauptsache ist, uicht stehe»; er sucht
mit den Allgen seiner Gegner um sich zu scheu, aus ihrem eigenen Interesse sich
zu orientiren. Er steht darum höher, weil sein Grundsatz eine viel solidere Basis
hat; denn er beruht auf den factischen Verhältnissen, während die Legitimität unsers
deutscheu Bundes u. s. w. nur noch in der Einbildung vorhanden ist.

Wenn aber uicht einmal eine einfache staatsrechtliche Frage durch jenes
Zauberwort, durch welches man den bösen Geist der Revolution zu bannen vermeint,
zu entscheiden ist, so ist das noch viel weniger denkbar bei denjenigen Bestrebungen,
die in der Politik sehr bald das abstracte Staatsrecht ganz aus dem Gesichtskreise
drängen werden: den Bestrcbrngen der eigentlichen Cultur. Eine legitimistische
Nationalökonomie und Handelspolitik — der Gedanke ist zu absurd, als daß nicht
unsere romantischen Staatsknnstler schon darauf verfallen sein sollten. Den Hunger
durch das göttliche Recht der Könige zu heilen, den Socialismus dnrch den Ge¬
danken an die Obrigkeit von Gottes Gnaden zu beschworen — den französischen
Legitimisten blieb es vorbehalten, auch diesen Hohn gegen die Menschheit auSznklügelu.


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[0343] Oestrichs Fürsten auf diesen Versuch zurückgekommen; sie haben aber nie die Kraft entwickelt, ihn durchzuführen. Aber die künstliche Stagnation, in der Met¬ ternich die staatlichen Widersprüche zu bannen und zu verstecken wußte, kann nicht lange dauern; wäre es möglich, so träte Oestreich aus der Reihe der Cultur- staaten heraus. Die Verfassung des 6. März und die daraus resultireuden Schritte sind der nothwendige Versuch des Staats, sich zu organisiren. Der Versuch ist ungeschickt, roh, voll von Widersprüchen — aber er ist nicht zu umgehen. Die Grenzboten können sich rühmen, diesen Gesichtspunkt! von Anbeginn der Revolu¬ tion festgehalten zu haben. Von diesem aus sind auch die Vertreter deö legi¬ timen Rechts zu beurtheilen, sofern dieselben gegen den Neubau Oestreichs Oppo¬ sition macheu. Paul von Somsfich, der Verfasser der oben angeregten Schrift, ist einer der gediegensten derselben. Wir behalten uns die ausführliche Besprechung dieses wichtigen Buches noch vor. Hier nur soviel, der Legitimist beweist zu viel oder zu wenig. Zu viel: denn wäre es denkbar, daß Ungarn einen lebensfähigen Staat bilden könnte, so müßte bei dem vorherrschenden und durch keine Gewalt der Erde mehr zurückzudrängenden Streben unserer Staaten, durch Gewinnung der nationalen Basis aus der künstlichen Form des Mittelalters in die natürliche überzugehen, Ungarn früher oder später wieder zum Versuch der Unabhängigkeit getrieben werden. Denn nur die mittelalterlichen, privatrechtlich in einander ver¬ wickelten Staatsverhältnisse ertrugen eine bedingte Souveränetät; jeder Staat, der eine relative Freiheit zu behaupten im Staude ist, wird nach der vollen streben. Zu wenig aber beweist er, wenn er mit der ungeschickten Weise der Durchführung auch das Princip der Regierung widerlegt zu haben glaubt. Somsfich steht weit höher, als unsere preußischen Legitimisten. Er bleibt bei seiner Ncchtsdeductivn, obgleich sie ihm die Hauptsache ist, uicht stehe»; er sucht mit den Allgen seiner Gegner um sich zu scheu, aus ihrem eigenen Interesse sich zu orientiren. Er steht darum höher, weil sein Grundsatz eine viel solidere Basis hat; denn er beruht auf den factischen Verhältnissen, während die Legitimität unsers deutscheu Bundes u. s. w. nur noch in der Einbildung vorhanden ist. Wenn aber uicht einmal eine einfache staatsrechtliche Frage durch jenes Zauberwort, durch welches man den bösen Geist der Revolution zu bannen vermeint, zu entscheiden ist, so ist das noch viel weniger denkbar bei denjenigen Bestrebungen, die in der Politik sehr bald das abstracte Staatsrecht ganz aus dem Gesichtskreise drängen werden: den Bestrcbrngen der eigentlichen Cultur. Eine legitimistische Nationalökonomie und Handelspolitik — der Gedanke ist zu absurd, als daß nicht unsere romantischen Staatsknnstler schon darauf verfallen sein sollten. Den Hunger durch das göttliche Recht der Könige zu heilen, den Socialismus dnrch den Ge¬ danken an die Obrigkeit von Gottes Gnaden zu beschworen — den französischen Legitimisten blieb es vorbehalten, auch diesen Hohn gegen die Menschheit auSznklügelu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/343>, abgerufen am 27.07.2024.