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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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dieselbe Partei, welche im März dem Drängen des Volks fast ohne Widerstand
wich, hat im November 1848 und Mai 1849 die alte Position fast ohne Wider¬
stand wieder erobert. -- Diese vereinzelten Gewaltthaten, die man sonst unter die
Kategorie des Verbrechens stellt, gewinnen nur dadurch Charakter und Bedeutung,
daß sie in einen sittlichen Zersetzungsproceß fallen, der auf die bestehenden Mächte
ebenso influirr als auf die angreifenden. Warum hat die französische Regierung
der Febrnaremeute nicht eben solchen Widerstand geleistet, als den Republikanern
im Jahr 1834, als später den Jnniinsnrgenten? Sie hatte dieselben Mittel in
Händen, dieselben Feinde gegen sich. Der Unterschied liegt in der verschiedenen
Richtung des sittlichen Geistes. -- Was nutzt es uun, diesen Thatsachen gegen¬
über die Heiligkeh einer jeden Autorität predigen? Der Sieg der Revolution
liegt ja uicht in den Insurgenten, denn eine leidenschaftliche Opposition und leicht
erregbare Massen finden sich zu jeder Zeit, sondern in der Beschaffenheit jener
Autorität. Welchem Menschen will man einbilden, das; eine Autorität heilig sei,
wenn sie sich vor aller Welt als hinfällig und ohnmächtig darstellt?

In der Anwendung von Gewalt, selbst in der Verlängerung des Gewaltzn-
staudes, der Anarchie, liegt also das Wesen der Revolution uicht: die Gesetzlosig¬
keit kann immer nnr ein vorübergehendes Moment sein. Auch nicht in dem
Einfluß dieser Gewaltthaten ans die Beschleunigung der legislativen Thätigkeit,
denn über der nachträglichen Lcgaiisirnng vergißt man den Ursprung, und die
legale Form kann uuter allen Umständen gewahrt werden. In den dreißiger
Jahren ist in vielen deutschen Staaten Gewalt angewendet worden, die bestehein
den Verfassungen zu modificiren, es ist aber "irgend ein revolutionärer Zustand
daraus hervorgegangen. -- Die Veränderungen in den Fundamenten deS Staats¬
wesens in der Form des Gesetzes sind schon ein viel bedeutenderes Moment zur
Charakteristik der Revolution, namentlich wenn durch sie bestehende Rechte ohne
die Einwilligung oder wohl gar trotz des Widerspruchs der Berechtigten aufgeho¬
ben werden. Das Letztere ist dennoch nicht die Hauptsache: die Einberufung der
modificirten Ltatg (-on^raux durch Necker, der preußischen Constituante durch
Camphausen und den vereinigten Landtag, der deutschen Nationalversammlung dnrch
den Bundestag, warm politische Acte, dnrch welche eigentlich für den Augenblick
Niemandes Rechte lgekränkt wurden, und doch sprach sich in ihnen die Natur der
Revolution viel bestimmter ans, als in den vorhergegangenen Emeuten, als
später in einzelnen Beschlüssen dieser neuen legislativen Factoren, dnrch welche
bestimmte Rechte gekränkt wurden. -- Es ist hier aber immer nicht ein ein¬
zelnes Moment, welches mau als das Princip der Revolution bezeichnen
Mute, sondern das Zusammenwirken verschiedener: Beschleunigung der legislativen
Thätigkeit uuter dem Eindruck einer wesentlich veränderten erregten Stimmung,
Nichtachtung bestehender Rechte, Einführung eiues neuen Factors in die Gesetz¬
gebung, dessen Natur man noch nicht übersehen kann u. s. w. -- Wenn nnn die


dieselbe Partei, welche im März dem Drängen des Volks fast ohne Widerstand
wich, hat im November 1848 und Mai 1849 die alte Position fast ohne Wider¬
stand wieder erobert. — Diese vereinzelten Gewaltthaten, die man sonst unter die
Kategorie des Verbrechens stellt, gewinnen nur dadurch Charakter und Bedeutung,
daß sie in einen sittlichen Zersetzungsproceß fallen, der auf die bestehenden Mächte
ebenso influirr als auf die angreifenden. Warum hat die französische Regierung
der Febrnaremeute nicht eben solchen Widerstand geleistet, als den Republikanern
im Jahr 1834, als später den Jnniinsnrgenten? Sie hatte dieselben Mittel in
Händen, dieselben Feinde gegen sich. Der Unterschied liegt in der verschiedenen
Richtung des sittlichen Geistes. — Was nutzt es uun, diesen Thatsachen gegen¬
über die Heiligkeh einer jeden Autorität predigen? Der Sieg der Revolution
liegt ja uicht in den Insurgenten, denn eine leidenschaftliche Opposition und leicht
erregbare Massen finden sich zu jeder Zeit, sondern in der Beschaffenheit jener
Autorität. Welchem Menschen will man einbilden, das; eine Autorität heilig sei,
wenn sie sich vor aller Welt als hinfällig und ohnmächtig darstellt?

In der Anwendung von Gewalt, selbst in der Verlängerung des Gewaltzn-
staudes, der Anarchie, liegt also das Wesen der Revolution uicht: die Gesetzlosig¬
keit kann immer nnr ein vorübergehendes Moment sein. Auch nicht in dem
Einfluß dieser Gewaltthaten ans die Beschleunigung der legislativen Thätigkeit,
denn über der nachträglichen Lcgaiisirnng vergißt man den Ursprung, und die
legale Form kann uuter allen Umständen gewahrt werden. In den dreißiger
Jahren ist in vielen deutschen Staaten Gewalt angewendet worden, die bestehein
den Verfassungen zu modificiren, es ist aber «irgend ein revolutionärer Zustand
daraus hervorgegangen. — Die Veränderungen in den Fundamenten deS Staats¬
wesens in der Form des Gesetzes sind schon ein viel bedeutenderes Moment zur
Charakteristik der Revolution, namentlich wenn durch sie bestehende Rechte ohne
die Einwilligung oder wohl gar trotz des Widerspruchs der Berechtigten aufgeho¬
ben werden. Das Letztere ist dennoch nicht die Hauptsache: die Einberufung der
modificirten Ltatg (-on^raux durch Necker, der preußischen Constituante durch
Camphausen und den vereinigten Landtag, der deutschen Nationalversammlung dnrch
den Bundestag, warm politische Acte, dnrch welche eigentlich für den Augenblick
Niemandes Rechte lgekränkt wurden, und doch sprach sich in ihnen die Natur der
Revolution viel bestimmter ans, als in den vorhergegangenen Emeuten, als
später in einzelnen Beschlüssen dieser neuen legislativen Factoren, dnrch welche
bestimmte Rechte gekränkt wurden. — Es ist hier aber immer nicht ein ein¬
zelnes Moment, welches mau als das Princip der Revolution bezeichnen
Mute, sondern das Zusammenwirken verschiedener: Beschleunigung der legislativen
Thätigkeit uuter dem Eindruck einer wesentlich veränderten erregten Stimmung,
Nichtachtung bestehender Rechte, Einführung eiues neuen Factors in die Gesetz¬
gebung, dessen Natur man noch nicht übersehen kann u. s. w. — Wenn nnn die


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[0332] dieselbe Partei, welche im März dem Drängen des Volks fast ohne Widerstand wich, hat im November 1848 und Mai 1849 die alte Position fast ohne Wider¬ stand wieder erobert. — Diese vereinzelten Gewaltthaten, die man sonst unter die Kategorie des Verbrechens stellt, gewinnen nur dadurch Charakter und Bedeutung, daß sie in einen sittlichen Zersetzungsproceß fallen, der auf die bestehenden Mächte ebenso influirr als auf die angreifenden. Warum hat die französische Regierung der Febrnaremeute nicht eben solchen Widerstand geleistet, als den Republikanern im Jahr 1834, als später den Jnniinsnrgenten? Sie hatte dieselben Mittel in Händen, dieselben Feinde gegen sich. Der Unterschied liegt in der verschiedenen Richtung des sittlichen Geistes. — Was nutzt es uun, diesen Thatsachen gegen¬ über die Heiligkeh einer jeden Autorität predigen? Der Sieg der Revolution liegt ja uicht in den Insurgenten, denn eine leidenschaftliche Opposition und leicht erregbare Massen finden sich zu jeder Zeit, sondern in der Beschaffenheit jener Autorität. Welchem Menschen will man einbilden, das; eine Autorität heilig sei, wenn sie sich vor aller Welt als hinfällig und ohnmächtig darstellt? In der Anwendung von Gewalt, selbst in der Verlängerung des Gewaltzn- staudes, der Anarchie, liegt also das Wesen der Revolution uicht: die Gesetzlosig¬ keit kann immer nnr ein vorübergehendes Moment sein. Auch nicht in dem Einfluß dieser Gewaltthaten ans die Beschleunigung der legislativen Thätigkeit, denn über der nachträglichen Lcgaiisirnng vergißt man den Ursprung, und die legale Form kann uuter allen Umständen gewahrt werden. In den dreißiger Jahren ist in vielen deutschen Staaten Gewalt angewendet worden, die bestehein den Verfassungen zu modificiren, es ist aber «irgend ein revolutionärer Zustand daraus hervorgegangen. — Die Veränderungen in den Fundamenten deS Staats¬ wesens in der Form des Gesetzes sind schon ein viel bedeutenderes Moment zur Charakteristik der Revolution, namentlich wenn durch sie bestehende Rechte ohne die Einwilligung oder wohl gar trotz des Widerspruchs der Berechtigten aufgeho¬ ben werden. Das Letztere ist dennoch nicht die Hauptsache: die Einberufung der modificirten Ltatg (-on^raux durch Necker, der preußischen Constituante durch Camphausen und den vereinigten Landtag, der deutschen Nationalversammlung dnrch den Bundestag, warm politische Acte, dnrch welche eigentlich für den Augenblick Niemandes Rechte lgekränkt wurden, und doch sprach sich in ihnen die Natur der Revolution viel bestimmter ans, als in den vorhergegangenen Emeuten, als später in einzelnen Beschlüssen dieser neuen legislativen Factoren, dnrch welche bestimmte Rechte gekränkt wurden. — Es ist hier aber immer nicht ein ein¬ zelnes Moment, welches mau als das Princip der Revolution bezeichnen Mute, sondern das Zusammenwirken verschiedener: Beschleunigung der legislativen Thätigkeit uuter dem Eindruck einer wesentlich veränderten erregten Stimmung, Nichtachtung bestehender Rechte, Einführung eiues neuen Factors in die Gesetz¬ gebung, dessen Natur man noch nicht übersehen kann u. s. w. — Wenn nnn die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/332>, abgerufen am 01.09.2024.