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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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jectiv zu Werke gehen, wo man immer nur Symptome eines, und zwar sehr be¬
stimmten Fiebers sucht? Trotz der sorgfältig hervorgesuchten Einzelheiten der
Charakteristik werden die Helden dieser Geschichte doch wieder zu Abstraktionen,
denn man sucht in ihnen nnr die Träger einer bestimmten Idee. Außerdem 'se
auch die Kenntniß der Quellen unvollständig "ud gibt eben darum, weil sie im
Einzelnen sehr weit geht, eine schiefes Bild.

Wer in dem 16., 17. und 18. Jahrhundert nur die Zuckungen des specifisch
christlichen Geistes verfolgt, wird nothwendig ungerecht. Er wird ebenso auf
diejenigen, welche das ganze christliche Wesen bekämpften, einen zu großen Werth
legen, wie z. B. hier aus Dippel und Edelmann.

Eine Kulturgeschichte zu schreiben und dabei die Naturwissenschaft ganz zu
ignoriren, die Kunst nur nebenbei zu behandeln und in der Metamorphose der
gesellschaftlichen und staatlichen Gebilde nur die theologische Seite in's Auge zu
fassen, ist ein verfehltes Unternehme". Das erstreckt sich auch ans die Form:
schon die Überschriften der einzelnen Capitel sind possenhaft novellistisch und haben
oft den faden Anstrich eines Straßcnivitzcs, ungefähr wie bei Thomas Carlyle,
einem torystischen Kritiker, der aber in seiner Bildung mit unsern Philosophen
viel Aehnlichkeit hat, und dessen Charakteristik wir uns vorbehalten. -- Dabei
dürfen wir nicht vergessen, daß die energische Hinweisung ans dieses anomale Mo¬
ment in der Cultur immer ein Verdienst ist.

Zum Schluß uoch eine Bemerkung. Die falsche Stellung, welche der Ge¬
schichtschreiber seinem Gegenstand gegenüber einnimmt, ist nur die Folge seiner
falschen Stellung gegen das wirkliche Leben und die Gedanken, die dasselbe bewegen.
Die souveräne Kritik ist der Ausdruck von dem subjectiven Hochmuth, der den
Mittelpunkt der Welt in das menschliche Ich legt. In der Philosophie kranken
wir seit Fichte und Schelling daran, in der Poesie entsprang jene "Weltironie"
der romantischen Schule daraus. In unserer Zeit ist Hebbel's Poesie das her-
vortretendste Phänomen dieses geistigen Hochmuths, dem die Welt krank und
verworren erscheint, weil das Medium, dnrch das er sie ansieht, krank und ver¬
worren ist.




Offener Brief
an die Gesellschaft der Friedensfreunde.

Sehr geehrte Herren!

Sie haben mir die Ehre erwiesen, mich zu den bevorstehenden Verhandlungen des
Fnedenscongresscs in Frankfurt a. M. einzuladen. Dieses Vertrauen erheischt meinen
aufrichtigen Dank; die Einladung selbst nimmt mein lebhaftestes Interesse in Anspruch.
Ich müßte kein Deutscher sein, ich müßte nicht,der "Nation von Denkern" angehören
(wie uns einst in guter Meinung jene geistreiche französische Frau, wie uns öfter noch
spottweise das praktischere Ausland genannt hat), wenn nicht der Gedanke, dafür allzu-.


jectiv zu Werke gehen, wo man immer nur Symptome eines, und zwar sehr be¬
stimmten Fiebers sucht? Trotz der sorgfältig hervorgesuchten Einzelheiten der
Charakteristik werden die Helden dieser Geschichte doch wieder zu Abstraktionen,
denn man sucht in ihnen nnr die Träger einer bestimmten Idee. Außerdem 'se
auch die Kenntniß der Quellen unvollständig »ud gibt eben darum, weil sie im
Einzelnen sehr weit geht, eine schiefes Bild.

Wer in dem 16., 17. und 18. Jahrhundert nur die Zuckungen des specifisch
christlichen Geistes verfolgt, wird nothwendig ungerecht. Er wird ebenso auf
diejenigen, welche das ganze christliche Wesen bekämpften, einen zu großen Werth
legen, wie z. B. hier aus Dippel und Edelmann.

Eine Kulturgeschichte zu schreiben und dabei die Naturwissenschaft ganz zu
ignoriren, die Kunst nur nebenbei zu behandeln und in der Metamorphose der
gesellschaftlichen und staatlichen Gebilde nur die theologische Seite in's Auge zu
fassen, ist ein verfehltes Unternehme». Das erstreckt sich auch ans die Form:
schon die Überschriften der einzelnen Capitel sind possenhaft novellistisch und haben
oft den faden Anstrich eines Straßcnivitzcs, ungefähr wie bei Thomas Carlyle,
einem torystischen Kritiker, der aber in seiner Bildung mit unsern Philosophen
viel Aehnlichkeit hat, und dessen Charakteristik wir uns vorbehalten. — Dabei
dürfen wir nicht vergessen, daß die energische Hinweisung ans dieses anomale Mo¬
ment in der Cultur immer ein Verdienst ist.

Zum Schluß uoch eine Bemerkung. Die falsche Stellung, welche der Ge¬
schichtschreiber seinem Gegenstand gegenüber einnimmt, ist nur die Folge seiner
falschen Stellung gegen das wirkliche Leben und die Gedanken, die dasselbe bewegen.
Die souveräne Kritik ist der Ausdruck von dem subjectiven Hochmuth, der den
Mittelpunkt der Welt in das menschliche Ich legt. In der Philosophie kranken
wir seit Fichte und Schelling daran, in der Poesie entsprang jene „Weltironie"
der romantischen Schule daraus. In unserer Zeit ist Hebbel's Poesie das her-
vortretendste Phänomen dieses geistigen Hochmuths, dem die Welt krank und
verworren erscheint, weil das Medium, dnrch das er sie ansieht, krank und ver¬
worren ist.




Offener Brief
an die Gesellschaft der Friedensfreunde.

Sehr geehrte Herren!

Sie haben mir die Ehre erwiesen, mich zu den bevorstehenden Verhandlungen des
Fnedenscongresscs in Frankfurt a. M. einzuladen. Dieses Vertrauen erheischt meinen
aufrichtigen Dank; die Einladung selbst nimmt mein lebhaftestes Interesse in Anspruch.
Ich müßte kein Deutscher sein, ich müßte nicht,der „Nation von Denkern" angehören
(wie uns einst in guter Meinung jene geistreiche französische Frau, wie uns öfter noch
spottweise das praktischere Ausland genannt hat), wenn nicht der Gedanke, dafür allzu-.


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[0322] jectiv zu Werke gehen, wo man immer nur Symptome eines, und zwar sehr be¬ stimmten Fiebers sucht? Trotz der sorgfältig hervorgesuchten Einzelheiten der Charakteristik werden die Helden dieser Geschichte doch wieder zu Abstraktionen, denn man sucht in ihnen nnr die Träger einer bestimmten Idee. Außerdem 'se auch die Kenntniß der Quellen unvollständig »ud gibt eben darum, weil sie im Einzelnen sehr weit geht, eine schiefes Bild. Wer in dem 16., 17. und 18. Jahrhundert nur die Zuckungen des specifisch christlichen Geistes verfolgt, wird nothwendig ungerecht. Er wird ebenso auf diejenigen, welche das ganze christliche Wesen bekämpften, einen zu großen Werth legen, wie z. B. hier aus Dippel und Edelmann. Eine Kulturgeschichte zu schreiben und dabei die Naturwissenschaft ganz zu ignoriren, die Kunst nur nebenbei zu behandeln und in der Metamorphose der gesellschaftlichen und staatlichen Gebilde nur die theologische Seite in's Auge zu fassen, ist ein verfehltes Unternehme». Das erstreckt sich auch ans die Form: schon die Überschriften der einzelnen Capitel sind possenhaft novellistisch und haben oft den faden Anstrich eines Straßcnivitzcs, ungefähr wie bei Thomas Carlyle, einem torystischen Kritiker, der aber in seiner Bildung mit unsern Philosophen viel Aehnlichkeit hat, und dessen Charakteristik wir uns vorbehalten. — Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß die energische Hinweisung ans dieses anomale Mo¬ ment in der Cultur immer ein Verdienst ist. Zum Schluß uoch eine Bemerkung. Die falsche Stellung, welche der Ge¬ schichtschreiber seinem Gegenstand gegenüber einnimmt, ist nur die Folge seiner falschen Stellung gegen das wirkliche Leben und die Gedanken, die dasselbe bewegen. Die souveräne Kritik ist der Ausdruck von dem subjectiven Hochmuth, der den Mittelpunkt der Welt in das menschliche Ich legt. In der Philosophie kranken wir seit Fichte und Schelling daran, in der Poesie entsprang jene „Weltironie" der romantischen Schule daraus. In unserer Zeit ist Hebbel's Poesie das her- vortretendste Phänomen dieses geistigen Hochmuths, dem die Welt krank und verworren erscheint, weil das Medium, dnrch das er sie ansieht, krank und ver¬ worren ist. Offener Brief an die Gesellschaft der Friedensfreunde. Sehr geehrte Herren! Sie haben mir die Ehre erwiesen, mich zu den bevorstehenden Verhandlungen des Fnedenscongresscs in Frankfurt a. M. einzuladen. Dieses Vertrauen erheischt meinen aufrichtigen Dank; die Einladung selbst nimmt mein lebhaftestes Interesse in Anspruch. Ich müßte kein Deutscher sein, ich müßte nicht,der „Nation von Denkern" angehören (wie uns einst in guter Meinung jene geistreiche französische Frau, wie uns öfter noch spottweise das praktischere Ausland genannt hat), wenn nicht der Gedanke, dafür allzu-.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/322>, abgerufen am 27.07.2024.