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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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so viel Tiefsinn und Geist aufgewendet, daß mau zuletzt alles Arts eil verloren hat;
der künstlerische Eindruck hat die historische Kritik getödtet. Die sehr lebendigen
Personen von Fleisch und Blut bekommen in dem seltsam romantischen Licht etwas
Moudscheiuartiges, Mythisches, trotz ihrer sehr säubern Ausführung im Einzelnen.

Lei Bauer haben wir das Gegentheil. Das Ganze besteht aus einer Reihe
von Citaten, in denen die handelnden Personen ganz in dem Jargon und der wüsten
Verstelluugsweise ihres Glaubens auftrete", und dazwischen eingestreuten Para-
basen, in denen die souveräne Kritik sich darüber ausspricht, zu welcher Species
der Verrücktheit die eben vorgeführte Erscheinung gehört. Denn da die Bauer
eigentlich nur Theologie studirt, und in alleu Zeiten, die' sie durchmessen, nnr
der theologischen Bewegung ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, und da ihnen
Theologie gleichbedeutend ist mit Verrücktheit, so ist für sie die ganze Geschichte,
bis ans die Zeit, da das Wort sich erfüllte, d. h. bis auf die Synoptiker von
Bruno Bauer, nichts anders als die KrankheitSentwickeluug eines Fiebertoileu,
wenn auch das Delirium von verschiedenen fixen Ideen zehrt.

So ist eben in dieser Geschichte das Lutherthum, ganz wie wir es bei den
Fragmenten aus ,der französischen Revolution angedeutet haben, eine Mischung
deö äußersten Objectivismus und des äußersten SnbjectiviSmuS: bald ein bloßes
Ausschreiben der Quellen, bald das Hervorheben eines philosophischen Stand¬
punkts, der, abgesehen von seinem sonstigen Inhalt, den kritisirten Erscheinungen
gegenüber sich wie ein obligates Hep! bey! ausnimmt, welches das Volk den
Juden nachruft.

Die Bibliothek der deutscheu Aufklärer ist eine Ergänzung zu der Kultur¬
geschichte des 18. Jahrhunderts von Br. Bauer, wozu auch ein Abriß der theo¬
logischen Literatur von Jungnitz (Vetter und Mitarbeiter der Bauer) gehört. In
dieser ist der burschikose Ausdruck gemildert, wie es dem ehemaligen Docenten
ziemt, und es ist sogar viel Witz und Geist daraus verwendet; ein Witz, der zu¬
weilen in mehr scharfsinnigen als treffenden Deductionen sich ergeht. Br. Bauer
kommt nämlich einmal aus Bach, Händel u. s. w. zu sprechen, und legt sich selbst
die Frage vor: wie ist es möglich gewesen, daß ein so unaussprechlich verrücktes
und uuproductivcö Zeitalter so vortreffliche Musik gemacht hat? Diese Frage be¬
antwortet er: das Wesen deö Zeitalters war die Stimmung (reget- und kritiklose
Subjektivität); der wahre Ausdruck der Stimmung ist aber die Musik u. s. w. --
Als gelegentlicher Einfall ist das artig genug, aber der Geschichtschreiber glaubt
ganz ernsthaft, damit die Notwendigkeit Kant's und Händel's a Mort erwiesen,
und die Geschichte, nach der Anschauung der Hegel'schen Philosophie, construirt
zu haben.

Jene fortwährende Einbildung, der menschlichen Verrücktheit gegenüber aus
einer unnahbaren Höhe des Wissens zu stehen, verkümmert auch das Studium des
Details, und macht die anscheinende Objectivität zur Fratze. Wie kann man ob-


Grenzboten. III. 18S0. 40

so viel Tiefsinn und Geist aufgewendet, daß mau zuletzt alles Arts eil verloren hat;
der künstlerische Eindruck hat die historische Kritik getödtet. Die sehr lebendigen
Personen von Fleisch und Blut bekommen in dem seltsam romantischen Licht etwas
Moudscheiuartiges, Mythisches, trotz ihrer sehr säubern Ausführung im Einzelnen.

Lei Bauer haben wir das Gegentheil. Das Ganze besteht aus einer Reihe
von Citaten, in denen die handelnden Personen ganz in dem Jargon und der wüsten
Verstelluugsweise ihres Glaubens auftrete», und dazwischen eingestreuten Para-
basen, in denen die souveräne Kritik sich darüber ausspricht, zu welcher Species
der Verrücktheit die eben vorgeführte Erscheinung gehört. Denn da die Bauer
eigentlich nur Theologie studirt, und in alleu Zeiten, die' sie durchmessen, nnr
der theologischen Bewegung ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, und da ihnen
Theologie gleichbedeutend ist mit Verrücktheit, so ist für sie die ganze Geschichte,
bis ans die Zeit, da das Wort sich erfüllte, d. h. bis auf die Synoptiker von
Bruno Bauer, nichts anders als die KrankheitSentwickeluug eines Fiebertoileu,
wenn auch das Delirium von verschiedenen fixen Ideen zehrt.

So ist eben in dieser Geschichte das Lutherthum, ganz wie wir es bei den
Fragmenten aus ,der französischen Revolution angedeutet haben, eine Mischung
deö äußersten Objectivismus und des äußersten SnbjectiviSmuS: bald ein bloßes
Ausschreiben der Quellen, bald das Hervorheben eines philosophischen Stand¬
punkts, der, abgesehen von seinem sonstigen Inhalt, den kritisirten Erscheinungen
gegenüber sich wie ein obligates Hep! bey! ausnimmt, welches das Volk den
Juden nachruft.

Die Bibliothek der deutscheu Aufklärer ist eine Ergänzung zu der Kultur¬
geschichte des 18. Jahrhunderts von Br. Bauer, wozu auch ein Abriß der theo¬
logischen Literatur von Jungnitz (Vetter und Mitarbeiter der Bauer) gehört. In
dieser ist der burschikose Ausdruck gemildert, wie es dem ehemaligen Docenten
ziemt, und es ist sogar viel Witz und Geist daraus verwendet; ein Witz, der zu¬
weilen in mehr scharfsinnigen als treffenden Deductionen sich ergeht. Br. Bauer
kommt nämlich einmal aus Bach, Händel u. s. w. zu sprechen, und legt sich selbst
die Frage vor: wie ist es möglich gewesen, daß ein so unaussprechlich verrücktes
und uuproductivcö Zeitalter so vortreffliche Musik gemacht hat? Diese Frage be¬
antwortet er: das Wesen deö Zeitalters war die Stimmung (reget- und kritiklose
Subjektivität); der wahre Ausdruck der Stimmung ist aber die Musik u. s. w. —
Als gelegentlicher Einfall ist das artig genug, aber der Geschichtschreiber glaubt
ganz ernsthaft, damit die Notwendigkeit Kant's und Händel's a Mort erwiesen,
und die Geschichte, nach der Anschauung der Hegel'schen Philosophie, construirt
zu haben.

Jene fortwährende Einbildung, der menschlichen Verrücktheit gegenüber aus
einer unnahbaren Höhe des Wissens zu stehen, verkümmert auch das Studium des
Details, und macht die anscheinende Objectivität zur Fratze. Wie kann man ob-


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[0321] so viel Tiefsinn und Geist aufgewendet, daß mau zuletzt alles Arts eil verloren hat; der künstlerische Eindruck hat die historische Kritik getödtet. Die sehr lebendigen Personen von Fleisch und Blut bekommen in dem seltsam romantischen Licht etwas Moudscheiuartiges, Mythisches, trotz ihrer sehr säubern Ausführung im Einzelnen. Lei Bauer haben wir das Gegentheil. Das Ganze besteht aus einer Reihe von Citaten, in denen die handelnden Personen ganz in dem Jargon und der wüsten Verstelluugsweise ihres Glaubens auftrete», und dazwischen eingestreuten Para- basen, in denen die souveräne Kritik sich darüber ausspricht, zu welcher Species der Verrücktheit die eben vorgeführte Erscheinung gehört. Denn da die Bauer eigentlich nur Theologie studirt, und in alleu Zeiten, die' sie durchmessen, nnr der theologischen Bewegung ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, und da ihnen Theologie gleichbedeutend ist mit Verrücktheit, so ist für sie die ganze Geschichte, bis ans die Zeit, da das Wort sich erfüllte, d. h. bis auf die Synoptiker von Bruno Bauer, nichts anders als die KrankheitSentwickeluug eines Fiebertoileu, wenn auch das Delirium von verschiedenen fixen Ideen zehrt. So ist eben in dieser Geschichte das Lutherthum, ganz wie wir es bei den Fragmenten aus ,der französischen Revolution angedeutet haben, eine Mischung deö äußersten Objectivismus und des äußersten SnbjectiviSmuS: bald ein bloßes Ausschreiben der Quellen, bald das Hervorheben eines philosophischen Stand¬ punkts, der, abgesehen von seinem sonstigen Inhalt, den kritisirten Erscheinungen gegenüber sich wie ein obligates Hep! bey! ausnimmt, welches das Volk den Juden nachruft. Die Bibliothek der deutscheu Aufklärer ist eine Ergänzung zu der Kultur¬ geschichte des 18. Jahrhunderts von Br. Bauer, wozu auch ein Abriß der theo¬ logischen Literatur von Jungnitz (Vetter und Mitarbeiter der Bauer) gehört. In dieser ist der burschikose Ausdruck gemildert, wie es dem ehemaligen Docenten ziemt, und es ist sogar viel Witz und Geist daraus verwendet; ein Witz, der zu¬ weilen in mehr scharfsinnigen als treffenden Deductionen sich ergeht. Br. Bauer kommt nämlich einmal aus Bach, Händel u. s. w. zu sprechen, und legt sich selbst die Frage vor: wie ist es möglich gewesen, daß ein so unaussprechlich verrücktes und uuproductivcö Zeitalter so vortreffliche Musik gemacht hat? Diese Frage be¬ antwortet er: das Wesen deö Zeitalters war die Stimmung (reget- und kritiklose Subjektivität); der wahre Ausdruck der Stimmung ist aber die Musik u. s. w. — Als gelegentlicher Einfall ist das artig genug, aber der Geschichtschreiber glaubt ganz ernsthaft, damit die Notwendigkeit Kant's und Händel's a Mort erwiesen, und die Geschichte, nach der Anschauung der Hegel'schen Philosophie, construirt zu haben. Jene fortwährende Einbildung, der menschlichen Verrücktheit gegenüber aus einer unnahbaren Höhe des Wissens zu stehen, verkümmert auch das Studium des Details, und macht die anscheinende Objectivität zur Fratze. Wie kann man ob- Grenzboten. III. 18S0. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/321>, abgerufen am 27.07.2024.