Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

seine Gesetze, selbst nur die unbedeutendsten Lebensregeln, ans sich selbst zu er¬
zeugen, sondern seinen Moses hatte ans den. Berg senden müssen, um die Gesetze
direct aus des Gottes Hand zu empfangen; ein Volk, welches nimmermehr den
Muth gehabt hatte, sich lebensvoll auszudehnen, sich in der Welt umzusehen und
zu bewähren; ein Volk, welches nie in Adelsgeschlechtern geblüht hatte, sondern
stets das Spielwerk vou Tyrannen und Priestern gewesen war; ein Volt', welches
sich daher auch stets vor seinem einzigen Gott, der keine anderen Götter neben
sich duldet, niedergeworfen hatte,

"Dies Pvbelvolk also, dies Volk der Knechte und Verworfenen, lieferte die
Elemente zu der Religion des Pöbels, der Knechte und Verworfenen. Dies Volk
lieferte den einigen Gott, es lieferte den Anlaß zu der Lehre vom Sohne Gottes,
der Knechtsgestalt angenommen hatte, der sich nicht anders als Mensch hatte be¬
währen können, als indem er das Leben eines unterthänigen und demüthigen
Krenzeöträgers auf sich nahm, der sich nicht anders zu empören gewußt hatte, als
indem er sich vou deu Behörden an'S Krenz schlagen ließ, und den Tod eines
Plebejers starb, der keinen großen Gedanken hatte zu Tage fordern können, als
den einer seichten Liebe und als den Gedanken von der Seligkeit der Geistes¬
armut!): -- das war eine willkommene Pvbelreligion: eine Religion der Willens-
losigkeit, der Welt- und Lcbensverachtnng, des Schnippchens, welches man hinter
dem Rücken der Dränger dnrch die Hoffnung ans den Himmel schlug.

"Aber es dauerte lauge, es dauerte keine kürzere Zeit, als das ganze Mittel¬
alter hindurch, bis die Lehre von der Willcnlostgkeit triumphirte. Eine neue
Aristokratie erobernder Völker unterwarf den Pöbel des römischen Reiches: und
wenn sie anch keine Bildung mitbrachte, wenn sie sich auch an den Ueberresten
römischer Bildung nährte, wenn sie auch uuter diesen Ueberresten die christliche
Religion in sich ausnehmen mußte, so ließ sich doch der natürliche Sinn des mit¬
telalterlichen Adels uicht so schnell durch die Pöbelreligion unterwerfen: es gelang
ihm, auf einige Zeit dem höchsten Gott die ständische Repräsentation der Heiligen
an die Seite zu setzen, es gelang dem lebenslustigen Adel des Mittelalters, anch
die Lehre ständisch zu machen: daß die Pfaffen die Besitzer, die Ausleger, die
Betrachter des Dogma waren, das sagte seiner religiösen Bequemlichkeit zu: nnn
brauchte er sich uicht viel um'das Dogma zu kümmern.

Man nahm es mit dem Gekreuzigten uicht so genan: man begnügte sich mit
dem Factum, daß er gestorben: man stellte zwar die Crucifixe an die Landstraßen,
man heftete sich ein Kreuz ans den Rittermantel, man that dein Messias deu Ehren¬
dienst, sein Grab zu erobern, man verstand sich wohl auch zu dem Dienste des
Christophorus und nahm das heilige Kind aus den Rücken, aber erst nach der
langen Abspannung, welche das fünfzehnte Jahrhundert charakteristrt, und in welcher
die Herrlichkeit des Adels unterging, gelang es der Reformation im sechszehnten
Jahrhundert, das Kreuz von den Landstraßen in die Brust, von dem Mantel in


seine Gesetze, selbst nur die unbedeutendsten Lebensregeln, ans sich selbst zu er¬
zeugen, sondern seinen Moses hatte ans den. Berg senden müssen, um die Gesetze
direct aus des Gottes Hand zu empfangen; ein Volk, welches nimmermehr den
Muth gehabt hatte, sich lebensvoll auszudehnen, sich in der Welt umzusehen und
zu bewähren; ein Volk, welches nie in Adelsgeschlechtern geblüht hatte, sondern
stets das Spielwerk vou Tyrannen und Priestern gewesen war; ein Volt', welches
sich daher auch stets vor seinem einzigen Gott, der keine anderen Götter neben
sich duldet, niedergeworfen hatte,

„Dies Pvbelvolk also, dies Volk der Knechte und Verworfenen, lieferte die
Elemente zu der Religion des Pöbels, der Knechte und Verworfenen. Dies Volk
lieferte den einigen Gott, es lieferte den Anlaß zu der Lehre vom Sohne Gottes,
der Knechtsgestalt angenommen hatte, der sich nicht anders als Mensch hatte be¬
währen können, als indem er das Leben eines unterthänigen und demüthigen
Krenzeöträgers auf sich nahm, der sich nicht anders zu empören gewußt hatte, als
indem er sich vou deu Behörden an'S Krenz schlagen ließ, und den Tod eines
Plebejers starb, der keinen großen Gedanken hatte zu Tage fordern können, als
den einer seichten Liebe und als den Gedanken von der Seligkeit der Geistes¬
armut!): — das war eine willkommene Pvbelreligion: eine Religion der Willens-
losigkeit, der Welt- und Lcbensverachtnng, des Schnippchens, welches man hinter
dem Rücken der Dränger dnrch die Hoffnung ans den Himmel schlug.

„Aber es dauerte lauge, es dauerte keine kürzere Zeit, als das ganze Mittel¬
alter hindurch, bis die Lehre von der Willcnlostgkeit triumphirte. Eine neue
Aristokratie erobernder Völker unterwarf den Pöbel des römischen Reiches: und
wenn sie anch keine Bildung mitbrachte, wenn sie sich auch an den Ueberresten
römischer Bildung nährte, wenn sie auch uuter diesen Ueberresten die christliche
Religion in sich ausnehmen mußte, so ließ sich doch der natürliche Sinn des mit¬
telalterlichen Adels uicht so schnell durch die Pöbelreligion unterwerfen: es gelang
ihm, auf einige Zeit dem höchsten Gott die ständische Repräsentation der Heiligen
an die Seite zu setzen, es gelang dem lebenslustigen Adel des Mittelalters, anch
die Lehre ständisch zu machen: daß die Pfaffen die Besitzer, die Ausleger, die
Betrachter des Dogma waren, das sagte seiner religiösen Bequemlichkeit zu: nnn
brauchte er sich uicht viel um'das Dogma zu kümmern.

Man nahm es mit dem Gekreuzigten uicht so genan: man begnügte sich mit
dem Factum, daß er gestorben: man stellte zwar die Crucifixe an die Landstraßen,
man heftete sich ein Kreuz ans den Rittermantel, man that dein Messias deu Ehren¬
dienst, sein Grab zu erobern, man verstand sich wohl auch zu dem Dienste des
Christophorus und nahm das heilige Kind aus den Rücken, aber erst nach der
langen Abspannung, welche das fünfzehnte Jahrhundert charakteristrt, und in welcher
die Herrlichkeit des Adels unterging, gelang es der Reformation im sechszehnten
Jahrhundert, das Kreuz von den Landstraßen in die Brust, von dem Mantel in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85902"/>
          <p xml:id="ID_1089" prev="#ID_1088"> seine Gesetze, selbst nur die unbedeutendsten Lebensregeln, ans sich selbst zu er¬<lb/>
zeugen, sondern seinen Moses hatte ans den. Berg senden müssen, um die Gesetze<lb/>
direct aus des Gottes Hand zu empfangen; ein Volk, welches nimmermehr den<lb/>
Muth gehabt hatte, sich lebensvoll auszudehnen, sich in der Welt umzusehen und<lb/>
zu bewähren; ein Volk, welches nie in Adelsgeschlechtern geblüht hatte, sondern<lb/>
stets das Spielwerk vou Tyrannen und Priestern gewesen war; ein Volt', welches<lb/>
sich daher auch stets vor seinem einzigen Gott, der keine anderen Götter neben<lb/>
sich duldet, niedergeworfen hatte,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1090"> &#x201E;Dies Pvbelvolk also, dies Volk der Knechte und Verworfenen, lieferte die<lb/>
Elemente zu der Religion des Pöbels, der Knechte und Verworfenen. Dies Volk<lb/>
lieferte den einigen Gott, es lieferte den Anlaß zu der Lehre vom Sohne Gottes,<lb/>
der Knechtsgestalt angenommen hatte, der sich nicht anders als Mensch hatte be¬<lb/>
währen können, als indem er das Leben eines unterthänigen und demüthigen<lb/>
Krenzeöträgers auf sich nahm, der sich nicht anders zu empören gewußt hatte, als<lb/>
indem er sich vou deu Behörden an'S Krenz schlagen ließ, und den Tod eines<lb/>
Plebejers starb, der keinen großen Gedanken hatte zu Tage fordern können, als<lb/>
den einer seichten Liebe und als den Gedanken von der Seligkeit der Geistes¬<lb/>
armut!): &#x2014; das war eine willkommene Pvbelreligion: eine Religion der Willens-<lb/>
losigkeit, der Welt- und Lcbensverachtnng, des Schnippchens, welches man hinter<lb/>
dem Rücken der Dränger dnrch die Hoffnung ans den Himmel schlug.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1091"> &#x201E;Aber es dauerte lauge, es dauerte keine kürzere Zeit, als das ganze Mittel¬<lb/>
alter hindurch, bis die Lehre von der Willcnlostgkeit triumphirte. Eine neue<lb/>
Aristokratie erobernder Völker unterwarf den Pöbel des römischen Reiches: und<lb/>
wenn sie anch keine Bildung mitbrachte, wenn sie sich auch an den Ueberresten<lb/>
römischer Bildung nährte, wenn sie auch uuter diesen Ueberresten die christliche<lb/>
Religion in sich ausnehmen mußte, so ließ sich doch der natürliche Sinn des mit¬<lb/>
telalterlichen Adels uicht so schnell durch die Pöbelreligion unterwerfen: es gelang<lb/>
ihm, auf einige Zeit dem höchsten Gott die ständische Repräsentation der Heiligen<lb/>
an die Seite zu setzen, es gelang dem lebenslustigen Adel des Mittelalters, anch<lb/>
die Lehre ständisch zu machen: daß die Pfaffen die Besitzer, die Ausleger, die<lb/>
Betrachter des Dogma waren, das sagte seiner religiösen Bequemlichkeit zu: nnn<lb/>
brauchte er sich uicht viel um'das Dogma zu kümmern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1092" next="#ID_1093"> Man nahm es mit dem Gekreuzigten uicht so genan: man begnügte sich mit<lb/>
dem Factum, daß er gestorben: man stellte zwar die Crucifixe an die Landstraßen,<lb/>
man heftete sich ein Kreuz ans den Rittermantel, man that dein Messias deu Ehren¬<lb/>
dienst, sein Grab zu erobern, man verstand sich wohl auch zu dem Dienste des<lb/>
Christophorus und nahm das heilige Kind aus den Rücken, aber erst nach der<lb/>
langen Abspannung, welche das fünfzehnte Jahrhundert charakteristrt, und in welcher<lb/>
die Herrlichkeit des Adels unterging, gelang es der Reformation im sechszehnten<lb/>
Jahrhundert, das Kreuz von den Landstraßen in die Brust, von dem Mantel in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0319] seine Gesetze, selbst nur die unbedeutendsten Lebensregeln, ans sich selbst zu er¬ zeugen, sondern seinen Moses hatte ans den. Berg senden müssen, um die Gesetze direct aus des Gottes Hand zu empfangen; ein Volk, welches nimmermehr den Muth gehabt hatte, sich lebensvoll auszudehnen, sich in der Welt umzusehen und zu bewähren; ein Volk, welches nie in Adelsgeschlechtern geblüht hatte, sondern stets das Spielwerk vou Tyrannen und Priestern gewesen war; ein Volt', welches sich daher auch stets vor seinem einzigen Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet, niedergeworfen hatte, „Dies Pvbelvolk also, dies Volk der Knechte und Verworfenen, lieferte die Elemente zu der Religion des Pöbels, der Knechte und Verworfenen. Dies Volk lieferte den einigen Gott, es lieferte den Anlaß zu der Lehre vom Sohne Gottes, der Knechtsgestalt angenommen hatte, der sich nicht anders als Mensch hatte be¬ währen können, als indem er das Leben eines unterthänigen und demüthigen Krenzeöträgers auf sich nahm, der sich nicht anders zu empören gewußt hatte, als indem er sich vou deu Behörden an'S Krenz schlagen ließ, und den Tod eines Plebejers starb, der keinen großen Gedanken hatte zu Tage fordern können, als den einer seichten Liebe und als den Gedanken von der Seligkeit der Geistes¬ armut!): — das war eine willkommene Pvbelreligion: eine Religion der Willens- losigkeit, der Welt- und Lcbensverachtnng, des Schnippchens, welches man hinter dem Rücken der Dränger dnrch die Hoffnung ans den Himmel schlug. „Aber es dauerte lauge, es dauerte keine kürzere Zeit, als das ganze Mittel¬ alter hindurch, bis die Lehre von der Willcnlostgkeit triumphirte. Eine neue Aristokratie erobernder Völker unterwarf den Pöbel des römischen Reiches: und wenn sie anch keine Bildung mitbrachte, wenn sie sich auch an den Ueberresten römischer Bildung nährte, wenn sie auch uuter diesen Ueberresten die christliche Religion in sich ausnehmen mußte, so ließ sich doch der natürliche Sinn des mit¬ telalterlichen Adels uicht so schnell durch die Pöbelreligion unterwerfen: es gelang ihm, auf einige Zeit dem höchsten Gott die ständische Repräsentation der Heiligen an die Seite zu setzen, es gelang dem lebenslustigen Adel des Mittelalters, anch die Lehre ständisch zu machen: daß die Pfaffen die Besitzer, die Ausleger, die Betrachter des Dogma waren, das sagte seiner religiösen Bequemlichkeit zu: nnn brauchte er sich uicht viel um'das Dogma zu kümmern. Man nahm es mit dem Gekreuzigten uicht so genan: man begnügte sich mit dem Factum, daß er gestorben: man stellte zwar die Crucifixe an die Landstraßen, man heftete sich ein Kreuz ans den Rittermantel, man that dein Messias deu Ehren¬ dienst, sein Grab zu erobern, man verstand sich wohl auch zu dem Dienste des Christophorus und nahm das heilige Kind aus den Rücken, aber erst nach der langen Abspannung, welche das fünfzehnte Jahrhundert charakteristrt, und in welcher die Herrlichkeit des Adels unterging, gelang es der Reformation im sechszehnten Jahrhundert, das Kreuz von den Landstraßen in die Brust, von dem Mantel in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/319
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/319>, abgerufen am 27.07.2024.