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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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wie es seitdem kein anderer Liedercomponist, selbst Mendelssohn nicht geworden
ist. Ein eigenthümliches Product dieser Richtung ist der Faust des Fürsten Rad-
ziwill, an dem, wie das Gerücht sagt, auch Zelter und Nungenhagen gearbeitet
haben. An diesem Werk, das in Berlin zu den gefeiertsten gehört, auswärts
aber wenig gekannt ist, finden sich dieselben Eigenschaften: vollständige Unfähig¬
keit, in den Geist einer Dichtung, wie Faust es ist, einzudringen, neben einer
zauberischen Klarheit und Grazie der Form. Zu den neuesten, noch von demselben
Geiste herrührenden Erscheinungen gehören Taubert's Klänge ans der Kinderwelt,
eine noch nicht abgeschlossene Sammlung von sechsunddreißig Liedern; sie be¬
rühren ebenfalls nnr die äußern Seiten deö Gemüths, haben aber innerhalb
dieser Oberflächlichkeit eine Feinheit der Behandlung, einen Anstand der Form,
daß der Berlinische Ursprung unverkennbar ist. --

Alles was von Fasch gesagt worden ist, läßt sich in Mendelssohn nachweisen,
am reinsten in seinen gemischten Quartetten und Sopran-Duetten; Mendelssohn
hat eine vorherrschende Neigung, mit einer milden, träumerischen Wehmuth seine
Compositionen zu enden. Er begnügt sich nicht nur damit, volle und kräftige
Schlüsse zu vermeiden, sondern er liebt es auch, den weichen und milden Ab¬
schluß durch eine leise Wehmuth, einen Anflug vou Unbefriedigtem zu färben.
Es ist gewiß merkwürdig, daß diese Neigung sich anch schon in Fasch in hervor¬
tretendem Grade zeigt. Sie tritt zwar weniger ungestüm oder unruhig auf, als
bei Mendelssohn; aber diesen Unterschied abgerechnet, ist es ein und dieselbe
süße Wehmuth, ein und dieselbe träumerische Sehnsucht, ein und derselbe mild
betäubende Duft. ' Auch diese Färbung hat ihre einseitigen AnSbildner gefunden,
z. B. in dem kürzlich gestorbenen Liedercompvuisten Tiehsen. -- Es ist bei der
Bedeutung, die Berlin für die musikalischen Zustände Deutschlands hat, von
großem Juteresse, die Entwickelung der Berlin specifisch angehörenden musikali¬
schen Richtung zu verfolgen. Die Singakademie, der Stern'sche Gesangverein,
der Domchor gehören in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit fast-ganz ihrem
Einfluß an. Sie hat ihre eigenthümlichen Sänger hervorgebracht, nnter denen
ich Stümer, Martius und Krause nenne. Martius ist zwar ein Schüler des
Leipziger Pohleuz, ist aber ein so treuer Ausdruck dessen, was in Berlin gefällt,
und hat entweder ursprünglich eine solche innere Verwandtschaft mit dein Berliner
Geschmack gehabt oder sich ihm so anzuschmiegen gemußt, daß man ihn vorzugs¬
weise als eiuen Vertreter desselben hinzustellen berechtigt ist. Nicht in geringe¬
rem Grade gilt dies von Krause, dessen musikalische Bildung überdies ans dem
Mittelpunkt der an Fasch sich anlehnenden Kreise herrührt; er ist ein Schüler
des Professor Fischer, der, ein ebenso tüchtiger Mathematiker, als Musiker, vor
vielen Andern zu den Eingeweihten der Singakademie gehörte. Dagegen würde
ein Tichatschek auch noch jetzt nicht Anerkennung bei dem Theil des Berliner
Publicums finden, an dessen Beifall ihm am meisten gelegen sein muß.


wie es seitdem kein anderer Liedercomponist, selbst Mendelssohn nicht geworden
ist. Ein eigenthümliches Product dieser Richtung ist der Faust des Fürsten Rad-
ziwill, an dem, wie das Gerücht sagt, auch Zelter und Nungenhagen gearbeitet
haben. An diesem Werk, das in Berlin zu den gefeiertsten gehört, auswärts
aber wenig gekannt ist, finden sich dieselben Eigenschaften: vollständige Unfähig¬
keit, in den Geist einer Dichtung, wie Faust es ist, einzudringen, neben einer
zauberischen Klarheit und Grazie der Form. Zu den neuesten, noch von demselben
Geiste herrührenden Erscheinungen gehören Taubert's Klänge ans der Kinderwelt,
eine noch nicht abgeschlossene Sammlung von sechsunddreißig Liedern; sie be¬
rühren ebenfalls nnr die äußern Seiten deö Gemüths, haben aber innerhalb
dieser Oberflächlichkeit eine Feinheit der Behandlung, einen Anstand der Form,
daß der Berlinische Ursprung unverkennbar ist. —

Alles was von Fasch gesagt worden ist, läßt sich in Mendelssohn nachweisen,
am reinsten in seinen gemischten Quartetten und Sopran-Duetten; Mendelssohn
hat eine vorherrschende Neigung, mit einer milden, träumerischen Wehmuth seine
Compositionen zu enden. Er begnügt sich nicht nur damit, volle und kräftige
Schlüsse zu vermeiden, sondern er liebt es auch, den weichen und milden Ab¬
schluß durch eine leise Wehmuth, einen Anflug vou Unbefriedigtem zu färben.
Es ist gewiß merkwürdig, daß diese Neigung sich anch schon in Fasch in hervor¬
tretendem Grade zeigt. Sie tritt zwar weniger ungestüm oder unruhig auf, als
bei Mendelssohn; aber diesen Unterschied abgerechnet, ist es ein und dieselbe
süße Wehmuth, ein und dieselbe träumerische Sehnsucht, ein und derselbe mild
betäubende Duft. ' Auch diese Färbung hat ihre einseitigen AnSbildner gefunden,
z. B. in dem kürzlich gestorbenen Liedercompvuisten Tiehsen. — Es ist bei der
Bedeutung, die Berlin für die musikalischen Zustände Deutschlands hat, von
großem Juteresse, die Entwickelung der Berlin specifisch angehörenden musikali¬
schen Richtung zu verfolgen. Die Singakademie, der Stern'sche Gesangverein,
der Domchor gehören in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit fast-ganz ihrem
Einfluß an. Sie hat ihre eigenthümlichen Sänger hervorgebracht, nnter denen
ich Stümer, Martius und Krause nenne. Martius ist zwar ein Schüler des
Leipziger Pohleuz, ist aber ein so treuer Ausdruck dessen, was in Berlin gefällt,
und hat entweder ursprünglich eine solche innere Verwandtschaft mit dein Berliner
Geschmack gehabt oder sich ihm so anzuschmiegen gemußt, daß man ihn vorzugs¬
weise als eiuen Vertreter desselben hinzustellen berechtigt ist. Nicht in geringe¬
rem Grade gilt dies von Krause, dessen musikalische Bildung überdies ans dem
Mittelpunkt der an Fasch sich anlehnenden Kreise herrührt; er ist ein Schüler
des Professor Fischer, der, ein ebenso tüchtiger Mathematiker, als Musiker, vor
vielen Andern zu den Eingeweihten der Singakademie gehörte. Dagegen würde
ein Tichatschek auch noch jetzt nicht Anerkennung bei dem Theil des Berliner
Publicums finden, an dessen Beifall ihm am meisten gelegen sein muß.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/310>, abgerufen am 27.07.2024.