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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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wie Schumami'sche Lieder. Es ist nicht zu leugnen: Berlin erhält dadurch, was
es sonst nicht hat, in der Musik wenigstens einen Charakter; aber dieser Charakter
ist nicht ohne eine bedeutende Beimischung von Eigensinn. Wie wenig von dem
reiche" Schatz der Symphonien, die deutsche Musiker geschaffen habe", tritt hier im
Vergleich z. B. mit Leipzig in die Oeffentlichkeit! Mannigfaltiger siud in dieser
Hinsicht die Tri"; und Quartett-Svirüen, weil sie ein kleines und gebildeteres
Publicum haben. Aehnlich verhält es sich mit den Leistungen auf dem Gebiet
der Kirchenmusik. Beethoven'S, Schubert's, Bach'S Messen ruhen gänzlich; Händel
und Fasch, daneben etwas Mendelssohn und Haydn -- darauf beschränkt sich das
Repertoire der Singakademie. Dies gab die Veranlassung zu der Gründung des
Stern'schen Gesangvereins; dieser macht es aber fast noch schlimmer; denn
er hat weder das elastische Repertoire der Singakademie, noch hat er sich mit
Energie auf das Moderne gelegt; es ist dilettantischer Eklekticismus. Berlin
ist so reich an productiven musikalischen Kräften, daß seine Institute schon vollauf
beschäftigt sind, wenn sie nur das, was aus ihrer Mitte hervorgeht, zur Ausfüh¬
rung bringen wollen; dieser Pflicht der Pietät schließt sich der Dünkel an, sich
auf sich selbst beschränken zu können, und daraus geht die unvermeidliche Folge
hervor, daß viel Schlechtes in den Kauf genommen werden muß. Noch hervor¬
tretender, als in der Singakademie, zeigt sich dies in der von Zelter gegründeten
Liedertafel, die nichts Anderes singt, als was entweder von ihren Mitgliedern
componirt oder ihr dedicirt worden ist. Mendelssohns, Otto'S, Zellner's Quar¬
tette, die in allen andern Männergesangvcreincn den Stamm bilden, fehlen hier
gänzlich. Ueberhaupt ist es mit dem Männergesang schlecht in Berlin bestellt.
Der Grund liegt theilweise.darin, daß der eigentliche Antrieb zum Mänucrgesang
sich vorzugsweise nur da findet, wo die Natur zum Lebensgenuß unter freiem
Himmel auffordert; diese Anregung fehlt hier, und daher können die Hindernisse,
die in Berlin sich stets finden, wenn etwas Gemeinsames unternommen werden
soll, um so weniger beseitigt werden.

Wenn der musikalische Geschmack Berlins etwas Specistschcs hat, so fragt
es sich, worin dies Specifische besteht. Mozart, Händel, Haydn sind von alter
Zeit her in Berlin in hohen Ehren gehalten worden, und werden es bis aus diesen
Augenblick, namentlich ist Haydn ein bevorzugter Liebling unserer musikalischen
Welt. Gluck hat auch hier nur ein kleines Publicum, Bach ist erst seit Mendels¬
sohn wieder zugänglich geworden. Das eigentliche Berlinerthnm hat seine Haupt-
vertreter in Fasch und seinen Nachfolgern, Zelter, Ruugeuhageu und Grell, auf
dem Gebiete des Liedes in Curschmann, zum Theil auch in Mendelssohn, in
neuester Zeit in gewisser Beziehung in Taubert. Seine hervortretenden Eigen¬
schaften sind ruhige und edle Klarheit in der Form neben einer gewissen Energie¬
losigkeit der Empfindung und weichen, fast süßlichen Haltung. Man könnte
sagen: es ist Mozart's Geist, von manchen Schlacken und Nachlässigkeiten gerei-


wie Schumami'sche Lieder. Es ist nicht zu leugnen: Berlin erhält dadurch, was
es sonst nicht hat, in der Musik wenigstens einen Charakter; aber dieser Charakter
ist nicht ohne eine bedeutende Beimischung von Eigensinn. Wie wenig von dem
reiche» Schatz der Symphonien, die deutsche Musiker geschaffen habe», tritt hier im
Vergleich z. B. mit Leipzig in die Oeffentlichkeit! Mannigfaltiger siud in dieser
Hinsicht die Tri»; und Quartett-Svirüen, weil sie ein kleines und gebildeteres
Publicum haben. Aehnlich verhält es sich mit den Leistungen auf dem Gebiet
der Kirchenmusik. Beethoven'S, Schubert's, Bach'S Messen ruhen gänzlich; Händel
und Fasch, daneben etwas Mendelssohn und Haydn — darauf beschränkt sich das
Repertoire der Singakademie. Dies gab die Veranlassung zu der Gründung des
Stern'schen Gesangvereins; dieser macht es aber fast noch schlimmer; denn
er hat weder das elastische Repertoire der Singakademie, noch hat er sich mit
Energie auf das Moderne gelegt; es ist dilettantischer Eklekticismus. Berlin
ist so reich an productiven musikalischen Kräften, daß seine Institute schon vollauf
beschäftigt sind, wenn sie nur das, was aus ihrer Mitte hervorgeht, zur Ausfüh¬
rung bringen wollen; dieser Pflicht der Pietät schließt sich der Dünkel an, sich
auf sich selbst beschränken zu können, und daraus geht die unvermeidliche Folge
hervor, daß viel Schlechtes in den Kauf genommen werden muß. Noch hervor¬
tretender, als in der Singakademie, zeigt sich dies in der von Zelter gegründeten
Liedertafel, die nichts Anderes singt, als was entweder von ihren Mitgliedern
componirt oder ihr dedicirt worden ist. Mendelssohns, Otto'S, Zellner's Quar¬
tette, die in allen andern Männergesangvcreincn den Stamm bilden, fehlen hier
gänzlich. Ueberhaupt ist es mit dem Männergesang schlecht in Berlin bestellt.
Der Grund liegt theilweise.darin, daß der eigentliche Antrieb zum Mänucrgesang
sich vorzugsweise nur da findet, wo die Natur zum Lebensgenuß unter freiem
Himmel auffordert; diese Anregung fehlt hier, und daher können die Hindernisse,
die in Berlin sich stets finden, wenn etwas Gemeinsames unternommen werden
soll, um so weniger beseitigt werden.

Wenn der musikalische Geschmack Berlins etwas Specistschcs hat, so fragt
es sich, worin dies Specifische besteht. Mozart, Händel, Haydn sind von alter
Zeit her in Berlin in hohen Ehren gehalten worden, und werden es bis aus diesen
Augenblick, namentlich ist Haydn ein bevorzugter Liebling unserer musikalischen
Welt. Gluck hat auch hier nur ein kleines Publicum, Bach ist erst seit Mendels¬
sohn wieder zugänglich geworden. Das eigentliche Berlinerthnm hat seine Haupt-
vertreter in Fasch und seinen Nachfolgern, Zelter, Ruugeuhageu und Grell, auf
dem Gebiete des Liedes in Curschmann, zum Theil auch in Mendelssohn, in
neuester Zeit in gewisser Beziehung in Taubert. Seine hervortretenden Eigen¬
schaften sind ruhige und edle Klarheit in der Form neben einer gewissen Energie¬
losigkeit der Empfindung und weichen, fast süßlichen Haltung. Man könnte
sagen: es ist Mozart's Geist, von manchen Schlacken und Nachlässigkeiten gerei-


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[0308] wie Schumami'sche Lieder. Es ist nicht zu leugnen: Berlin erhält dadurch, was es sonst nicht hat, in der Musik wenigstens einen Charakter; aber dieser Charakter ist nicht ohne eine bedeutende Beimischung von Eigensinn. Wie wenig von dem reiche» Schatz der Symphonien, die deutsche Musiker geschaffen habe», tritt hier im Vergleich z. B. mit Leipzig in die Oeffentlichkeit! Mannigfaltiger siud in dieser Hinsicht die Tri»; und Quartett-Svirüen, weil sie ein kleines und gebildeteres Publicum haben. Aehnlich verhält es sich mit den Leistungen auf dem Gebiet der Kirchenmusik. Beethoven'S, Schubert's, Bach'S Messen ruhen gänzlich; Händel und Fasch, daneben etwas Mendelssohn und Haydn — darauf beschränkt sich das Repertoire der Singakademie. Dies gab die Veranlassung zu der Gründung des Stern'schen Gesangvereins; dieser macht es aber fast noch schlimmer; denn er hat weder das elastische Repertoire der Singakademie, noch hat er sich mit Energie auf das Moderne gelegt; es ist dilettantischer Eklekticismus. Berlin ist so reich an productiven musikalischen Kräften, daß seine Institute schon vollauf beschäftigt sind, wenn sie nur das, was aus ihrer Mitte hervorgeht, zur Ausfüh¬ rung bringen wollen; dieser Pflicht der Pietät schließt sich der Dünkel an, sich auf sich selbst beschränken zu können, und daraus geht die unvermeidliche Folge hervor, daß viel Schlechtes in den Kauf genommen werden muß. Noch hervor¬ tretender, als in der Singakademie, zeigt sich dies in der von Zelter gegründeten Liedertafel, die nichts Anderes singt, als was entweder von ihren Mitgliedern componirt oder ihr dedicirt worden ist. Mendelssohns, Otto'S, Zellner's Quar¬ tette, die in allen andern Männergesangvcreincn den Stamm bilden, fehlen hier gänzlich. Ueberhaupt ist es mit dem Männergesang schlecht in Berlin bestellt. Der Grund liegt theilweise.darin, daß der eigentliche Antrieb zum Mänucrgesang sich vorzugsweise nur da findet, wo die Natur zum Lebensgenuß unter freiem Himmel auffordert; diese Anregung fehlt hier, und daher können die Hindernisse, die in Berlin sich stets finden, wenn etwas Gemeinsames unternommen werden soll, um so weniger beseitigt werden. Wenn der musikalische Geschmack Berlins etwas Specistschcs hat, so fragt es sich, worin dies Specifische besteht. Mozart, Händel, Haydn sind von alter Zeit her in Berlin in hohen Ehren gehalten worden, und werden es bis aus diesen Augenblick, namentlich ist Haydn ein bevorzugter Liebling unserer musikalischen Welt. Gluck hat auch hier nur ein kleines Publicum, Bach ist erst seit Mendels¬ sohn wieder zugänglich geworden. Das eigentliche Berlinerthnm hat seine Haupt- vertreter in Fasch und seinen Nachfolgern, Zelter, Ruugeuhageu und Grell, auf dem Gebiete des Liedes in Curschmann, zum Theil auch in Mendelssohn, in neuester Zeit in gewisser Beziehung in Taubert. Seine hervortretenden Eigen¬ schaften sind ruhige und edle Klarheit in der Form neben einer gewissen Energie¬ losigkeit der Empfindung und weichen, fast süßlichen Haltung. Man könnte sagen: es ist Mozart's Geist, von manchen Schlacken und Nachlässigkeiten gerei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/308>, abgerufen am 27.07.2024.