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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Interessen, wird also die nationale Trägerin einer panslavistischen Idee -- z"in
großen Theil vielleicht selbst, ohne sich dessen bewußt zu sein. Um aber auch die
Massen der nationalen Elemente wirksam zu machen, ist ihr deren persönliche Be¬
freiung natürlich erstes Erfordernis). Die Art, wie der Staat sie angebahnt hat,
sührt die persönlich Befreiten in immer unmittelbarere Abhängigkeit von der Staats¬
macht. Dieser Art der Freilassung wirkt die grundbesitzlose Nationalpartei ent¬
gegen. Während das Endresultat der gouvernementalen Befreiung der Leibeignen
die Basirung der Freiheit aus den Grundbesitz ist, schwebt dieser nicht grund-
besitzenden Nationalpartei die Möglichkeit vor, daß durch die vorausgehende Be¬
freiung die Mißverhältnisse in allen socialen Richtungen am leichtesten ausgeglichen
werden. Und hier ist der Punkt, wo sie mit denjenigen Wünschen und Anfor-
derungen zusammentrifft, welche vorzugsweise in der Herrschaft des europäischen
Geistes in Nußland eine Zukunft des Reiches erblicken. Auch die Vertreter dieser
Richtung gehören zum großen Theile dem Slaviömus an, und die panslavische Idee
liegt ihnen noch näher als jenen. Sie tragen in diese Zukunft auch die europäische
Idee der politischen Gleichberechtigung Aller herein. Die Verwirklicht"^ derselben
stellt aber die Vernichtung des jetzigen Staats- und GesellschastövrganiSmns nicht
nur als Endziel anf, sondern diese ist ihr Vorbedingung jeder Möglichkeit. Halt
und Festigkeit des russischen Staats- und Gesellschaftöorganiömus liegt nun zunächst
in der gouvernemental festgestellten Orthodoxie der russischen Kirche, wie bereits
früher des Weitem erörtert ist. Die von europäischen Ideen bewegte social-poli-
tische Partei muß sonach folgerecht die nächste Verbindung mit den reformatorischen,
verflüchtigenden Richtungen des Sectemvesenö in der russischen Kirche suchen,
während die nationale Partei das altkatholische Schisma in den Kreis ihrer Streit¬
kräfte aufnimmt. Wir haben aber gesehen, wie die kirchlich dissentirenden Bewe¬
gungen sich auf dem socialen Felde begegneten. Und so erblicken wir denn hier
ein Zusammentreffen aller Elemente im russische" Reiche, welche sich als revolutionäre
bezeichnen lassen.

Sociale Reform wird das Bannerwort der russischen Revolution; die poli¬
tische folgt ihr erst vielleicht in weiter Entfernung. Es muß weitem Ausführungen
an anderer Stelle überlassen werden, die Nothwendigkeit dieser Priorität der
socialen Revolution in Rußland im Einzelnen zu entwickeln. Hier galt es nur,
das Vorhandensein ihrer geistigen Elemente darzulegen. Es wird noch lauger
Zeit bedürfen, ehe diese Ideen zu eiuer wirklichen Macht gelangen, zu einer
Macht, welche auf Rußlands äußere Politik bedingend einzuwirken vermag. Wir
wissen aber, wie seit Kankrin'ö Finanzverwaltung bereits ein starkes Proletariat
in Rußlands Städten emporwuchs. Wir wissen, wie der grundbesitzende Adel
in der vom Staat begünstigten Mauufacturiudustrie, einen Schutz gegen sein ma¬
terielles Verkommen suchte. Wir wisse", wie dieses System der Begünstigung
der Manufacturindustrie von: Staate wieder aufgegeben ward, als es jene national-


Interessen, wird also die nationale Trägerin einer panslavistischen Idee — z»in
großen Theil vielleicht selbst, ohne sich dessen bewußt zu sein. Um aber auch die
Massen der nationalen Elemente wirksam zu machen, ist ihr deren persönliche Be¬
freiung natürlich erstes Erfordernis). Die Art, wie der Staat sie angebahnt hat,
sührt die persönlich Befreiten in immer unmittelbarere Abhängigkeit von der Staats¬
macht. Dieser Art der Freilassung wirkt die grundbesitzlose Nationalpartei ent¬
gegen. Während das Endresultat der gouvernementalen Befreiung der Leibeignen
die Basirung der Freiheit aus den Grundbesitz ist, schwebt dieser nicht grund-
besitzenden Nationalpartei die Möglichkeit vor, daß durch die vorausgehende Be¬
freiung die Mißverhältnisse in allen socialen Richtungen am leichtesten ausgeglichen
werden. Und hier ist der Punkt, wo sie mit denjenigen Wünschen und Anfor-
derungen zusammentrifft, welche vorzugsweise in der Herrschaft des europäischen
Geistes in Nußland eine Zukunft des Reiches erblicken. Auch die Vertreter dieser
Richtung gehören zum großen Theile dem Slaviömus an, und die panslavische Idee
liegt ihnen noch näher als jenen. Sie tragen in diese Zukunft auch die europäische
Idee der politischen Gleichberechtigung Aller herein. Die Verwirklicht«^ derselben
stellt aber die Vernichtung des jetzigen Staats- und GesellschastövrganiSmns nicht
nur als Endziel anf, sondern diese ist ihr Vorbedingung jeder Möglichkeit. Halt
und Festigkeit des russischen Staats- und Gesellschaftöorganiömus liegt nun zunächst
in der gouvernemental festgestellten Orthodoxie der russischen Kirche, wie bereits
früher des Weitem erörtert ist. Die von europäischen Ideen bewegte social-poli-
tische Partei muß sonach folgerecht die nächste Verbindung mit den reformatorischen,
verflüchtigenden Richtungen des Sectemvesenö in der russischen Kirche suchen,
während die nationale Partei das altkatholische Schisma in den Kreis ihrer Streit¬
kräfte aufnimmt. Wir haben aber gesehen, wie die kirchlich dissentirenden Bewe¬
gungen sich auf dem socialen Felde begegneten. Und so erblicken wir denn hier
ein Zusammentreffen aller Elemente im russische» Reiche, welche sich als revolutionäre
bezeichnen lassen.

Sociale Reform wird das Bannerwort der russischen Revolution; die poli¬
tische folgt ihr erst vielleicht in weiter Entfernung. Es muß weitem Ausführungen
an anderer Stelle überlassen werden, die Nothwendigkeit dieser Priorität der
socialen Revolution in Rußland im Einzelnen zu entwickeln. Hier galt es nur,
das Vorhandensein ihrer geistigen Elemente darzulegen. Es wird noch lauger
Zeit bedürfen, ehe diese Ideen zu eiuer wirklichen Macht gelangen, zu einer
Macht, welche auf Rußlands äußere Politik bedingend einzuwirken vermag. Wir
wissen aber, wie seit Kankrin'ö Finanzverwaltung bereits ein starkes Proletariat
in Rußlands Städten emporwuchs. Wir wissen, wie der grundbesitzende Adel
in der vom Staat begünstigten Mauufacturiudustrie, einen Schutz gegen sein ma¬
terielles Verkommen suchte. Wir wisse», wie dieses System der Begünstigung
der Manufacturindustrie von: Staate wieder aufgegeben ward, als es jene national-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/296>, abgerufen am 27.07.2024.