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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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ganzen Genre des bürgerlichen Schauspiels. Das Lustspiel soll belustigen, das
Trauerspiel erschüttern, dem bürgerlichen Drama bleibt nichts übrig, als zu rühren.
Diese Einwirkung auf unsere Thränendrüsen wird nie dem höchsten Zweck der
Kunst entsprechen;-da das Genre aber einmal in einem "tiefgefühlten Bedürfniß"
des Publicums begründet ist, so kommt es nnr daraus an, ob jene Rührung auf
eine gesunde oder eine krankhafte Weise angestrebt wird. Man vergleiche auch
die schlechteren Stücke Jffland's etwa mit Gutzkow's Werner oder dem drei¬
zehnten November, so ist die künstlerische Unvollkommenheit beiden gemein,
bei Jffland ist aber doch ein realer, in wirklichen Verhältnissen gegebener Grund
des Kummers und der Thränen, bei Gutzkow uur ein eingebildeter. Der Spleen
ist ein passender Gegenstand für's Lustspiel; über einen Narren, über eine fixe
Idee zu lachen, ist angenehm, und darf einem rechtschaffenen Gemüth nicht ver¬
sagt werden; aber uus in die Narrheit hereinznsühlen, mit ihr zu empfinden, zu
lieben, zu hassen, zu weinen und zu verzweifeln, das ist zu viel verlangt.

Ju den Jägern ist aber auch uicht einmal jene Sentimentalität auf eine über¬
triebene Weise vorhanden. Die Trivialität des Inhalts, durch den wir gerührt
werden sollen, wird theils durch echten Humor, theils-durch das tapfere Wesen
des alten Oberförsters ans eine sehr geschickte Weise versteckt. Was den Letztern
betrifft, so ist mir unbegreiflich, wie auf den Theatern noch eine schlechtere Ver¬
sion des Stücks gegeben wird, von der ich gar nicht weiß, ob sie Jffland selber
angehört, oder von irgend einem einfältigen Regisseur, der seiner Rolle noch Ge¬
legenheit geben wollte, auch vou der Gefühlsseite Effect zu machen, eingeschmug-
gelt ist. In den gedruckten Werken Jffland's hält der Oberförster bis ans
Ende seinen Charakter; er fordert deu Sohn vor und fragt ihn in feierlichem
Ernst, ob er schuldig sei oder nicht. Auf das Nichtschuldig erklärt er sich befrie¬
digt und versichert, bei dieser Ueberzeugung werde er nun auch äußerliche Gerech¬
tigkeit zu finden wissen, und sollte er sie bis am Throne suchen. Bei der Aus¬
führung dagegen bettelt er bei dem Amtmann mit Einschiebung von Motiven, die
nicht zur Sache gehören, er möge doch die Relation, die zum Nachtheil seines
Sohnes ausgefallen ist, abändern, weil diesem sonst in vierzehn Tagen der Kopf
abgeschlagen würde. Abgesehen davon, daß auf eine einfache Relation hin doch kein
Todesurtheil erfolgen wird, am wenigsten in den Zeiten des Jnqnisitiousprocesses,
wo das Geständniß des Angeklagten nothwendig ist, liegt in dieser Bitte eine
Unwürdigkeit, die mit dem Charakter des Oberförsters gar nicht übereinstimmt.
-- Der Vorzug, den die Regien dieser albernen Version geben, ist eine Gedanken¬
losigkeit, die von der Kritik nicht strenge genug gerügt werden kann. --

Das zweite Stück, die Macht der Verhältnisse, hat das Leipziger
Publicum schlecht befriedigt. Man sieht, wie rasch die Sitten sich ändern. --
Der Inhalt ist folgender: Ein adliger Offizier macht einem bürgerlichen Mädchen
die Conr, ohne viel darüber nachzudenken, was daraus werdeu soll. Der Bruder


ganzen Genre des bürgerlichen Schauspiels. Das Lustspiel soll belustigen, das
Trauerspiel erschüttern, dem bürgerlichen Drama bleibt nichts übrig, als zu rühren.
Diese Einwirkung auf unsere Thränendrüsen wird nie dem höchsten Zweck der
Kunst entsprechen;-da das Genre aber einmal in einem „tiefgefühlten Bedürfniß"
des Publicums begründet ist, so kommt es nnr daraus an, ob jene Rührung auf
eine gesunde oder eine krankhafte Weise angestrebt wird. Man vergleiche auch
die schlechteren Stücke Jffland's etwa mit Gutzkow's Werner oder dem drei¬
zehnten November, so ist die künstlerische Unvollkommenheit beiden gemein,
bei Jffland ist aber doch ein realer, in wirklichen Verhältnissen gegebener Grund
des Kummers und der Thränen, bei Gutzkow uur ein eingebildeter. Der Spleen
ist ein passender Gegenstand für's Lustspiel; über einen Narren, über eine fixe
Idee zu lachen, ist angenehm, und darf einem rechtschaffenen Gemüth nicht ver¬
sagt werden; aber uus in die Narrheit hereinznsühlen, mit ihr zu empfinden, zu
lieben, zu hassen, zu weinen und zu verzweifeln, das ist zu viel verlangt.

Ju den Jägern ist aber auch uicht einmal jene Sentimentalität auf eine über¬
triebene Weise vorhanden. Die Trivialität des Inhalts, durch den wir gerührt
werden sollen, wird theils durch echten Humor, theils-durch das tapfere Wesen
des alten Oberförsters ans eine sehr geschickte Weise versteckt. Was den Letztern
betrifft, so ist mir unbegreiflich, wie auf den Theatern noch eine schlechtere Ver¬
sion des Stücks gegeben wird, von der ich gar nicht weiß, ob sie Jffland selber
angehört, oder von irgend einem einfältigen Regisseur, der seiner Rolle noch Ge¬
legenheit geben wollte, auch vou der Gefühlsseite Effect zu machen, eingeschmug-
gelt ist. In den gedruckten Werken Jffland's hält der Oberförster bis ans
Ende seinen Charakter; er fordert deu Sohn vor und fragt ihn in feierlichem
Ernst, ob er schuldig sei oder nicht. Auf das Nichtschuldig erklärt er sich befrie¬
digt und versichert, bei dieser Ueberzeugung werde er nun auch äußerliche Gerech¬
tigkeit zu finden wissen, und sollte er sie bis am Throne suchen. Bei der Aus¬
führung dagegen bettelt er bei dem Amtmann mit Einschiebung von Motiven, die
nicht zur Sache gehören, er möge doch die Relation, die zum Nachtheil seines
Sohnes ausgefallen ist, abändern, weil diesem sonst in vierzehn Tagen der Kopf
abgeschlagen würde. Abgesehen davon, daß auf eine einfache Relation hin doch kein
Todesurtheil erfolgen wird, am wenigsten in den Zeiten des Jnqnisitiousprocesses,
wo das Geständniß des Angeklagten nothwendig ist, liegt in dieser Bitte eine
Unwürdigkeit, die mit dem Charakter des Oberförsters gar nicht übereinstimmt.
— Der Vorzug, den die Regien dieser albernen Version geben, ist eine Gedanken¬
losigkeit, die von der Kritik nicht strenge genug gerügt werden kann. —

Das zweite Stück, die Macht der Verhältnisse, hat das Leipziger
Publicum schlecht befriedigt. Man sieht, wie rasch die Sitten sich ändern. —
Der Inhalt ist folgender: Ein adliger Offizier macht einem bürgerlichen Mädchen
die Conr, ohne viel darüber nachzudenken, was daraus werdeu soll. Der Bruder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/279>, abgerufen am 01.09.2024.