Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist übrigens schade um das Stück, denn es ist bedeutend weniger sen¬
timental, als die übrigen Sachen von Gutzkow, und hat einige ganz vortrefflich
ausgeführte komische Scenen. Taillandier, den es wahrscheinlich geärgert hat,
daß ein Deutscher sich unterfängt, berühmte Franzosen auf die Bühne zu bringen,
hat es sehr getadelt, wahrend er die übrigen, unendlich schlechtem Stücke wenig¬
stens verhältnißmäßig lobt. Er tadelt es namentlich wegen seiner historischen
Unwahrheit. Ein Franzose sollte doch wohl durch seine Scribe, Dumas u. s. w.
an dergleichen gewöhnt sein. Freilich wird die Kritik durch das historische Detail
gereizt, und die Dichter sollten endlich zu der Ueberzeugung kommen, daß man
ein historisches Stück, d. h. einen bestimmten sittlichen Zersetznngsproceß darstellen
kann, ohne den ganzen Raritatcnladen historischer Alterthümer auf die Bühne zu
schleppen.

Ich erlaube mir dabei eine Bemerkung in Bezug auf die Aeußerlichkeit in
historischen Stucken. Ich habe es schon häufig ausgesprochen, daß ich die Aengst-
lichkeit in der getreuen Nachbildung des historischen Costüms, wie sie jetzt ans
den Theatern Sitte ist, nicht billigen kann. Man verliert über der Aufmerk¬
samkeit auf dieses uicht zur Sache gehörige Detail zu sehr den Hauptpunkt
ans den Augen. Wo aber das Costüm wesentlich ist, d. h. wo es uns die
Vorstellung einer Sitte, die von der unsrigen wesentlich verschieden ist, erleichtern
soll, darf man es uicht zu leicht nehmen. So hat z. B. das Costüm, in dem
Figaro's Hochzeit fast überall aufgeführt wird, etwas geradezu Empörendes.
Der Graf in mittelalterlicher Niedertracht, die Gräfin und Susanne modern,
Figaro, der Doctor und Basil als italienische Masken, Marceline in Rococo,
Cherubin in dein abstracten Pagencostüm -- und dazu die fortwährenden An¬
spielungen Beaumarchais' ans die Sitten und Thorheiten einer bestimmten Zeit,
das ist nicht zu ertragen. Die ganze Handlung ist im Rococozeitalter gedacht,
und muß anch im Rococo dargestellt werden.

Die Regel findet nämlich nicht blos auf solche Stücke Anwendung, die aus¬
drücklich als historische bezeichnet und in eine bestimmte Zeit verlegt werden,
sondern anch bei der Darstellung älterer Stücke, die in der Vorstellungsweise
einer bestimmten Zeit gedacht sind und nur innerhalb derselben begriffen werden
können. So muß Cabale und Liebe, Minna von Barnhelm unstreitig in Rococo
gegeben werden; ich behaupte es auch von Emilia Galotti. In andern Stücken
tritt, gerade wie in den Karlsschülern, die jüngere Generation als die aufstrebende
neue Zeit der alten entgegen. Das muß gleichfalls im Costüm ausgedrückt werden;
z. B. Cordelchen in den Jägern anders als im Reifrock und hoher Frisur ge¬
spielt, wird zu einer vollkommenen Abgeschmacktheit. Ich halte es auch für rath¬
sam, solche Schauspiele, die eigentlich über die Rococozeit schon Hinausgehn, aber
in einem von unserer modernen Bildung wesentlich abweichenden Geist concipirt
sind, wie z. B. "die Macht der Verhältnisse," durch das Costüm in eine gewisse


Es ist übrigens schade um das Stück, denn es ist bedeutend weniger sen¬
timental, als die übrigen Sachen von Gutzkow, und hat einige ganz vortrefflich
ausgeführte komische Scenen. Taillandier, den es wahrscheinlich geärgert hat,
daß ein Deutscher sich unterfängt, berühmte Franzosen auf die Bühne zu bringen,
hat es sehr getadelt, wahrend er die übrigen, unendlich schlechtem Stücke wenig¬
stens verhältnißmäßig lobt. Er tadelt es namentlich wegen seiner historischen
Unwahrheit. Ein Franzose sollte doch wohl durch seine Scribe, Dumas u. s. w.
an dergleichen gewöhnt sein. Freilich wird die Kritik durch das historische Detail
gereizt, und die Dichter sollten endlich zu der Ueberzeugung kommen, daß man
ein historisches Stück, d. h. einen bestimmten sittlichen Zersetznngsproceß darstellen
kann, ohne den ganzen Raritatcnladen historischer Alterthümer auf die Bühne zu
schleppen.

Ich erlaube mir dabei eine Bemerkung in Bezug auf die Aeußerlichkeit in
historischen Stucken. Ich habe es schon häufig ausgesprochen, daß ich die Aengst-
lichkeit in der getreuen Nachbildung des historischen Costüms, wie sie jetzt ans
den Theatern Sitte ist, nicht billigen kann. Man verliert über der Aufmerk¬
samkeit auf dieses uicht zur Sache gehörige Detail zu sehr den Hauptpunkt
ans den Augen. Wo aber das Costüm wesentlich ist, d. h. wo es uns die
Vorstellung einer Sitte, die von der unsrigen wesentlich verschieden ist, erleichtern
soll, darf man es uicht zu leicht nehmen. So hat z. B. das Costüm, in dem
Figaro's Hochzeit fast überall aufgeführt wird, etwas geradezu Empörendes.
Der Graf in mittelalterlicher Niedertracht, die Gräfin und Susanne modern,
Figaro, der Doctor und Basil als italienische Masken, Marceline in Rococo,
Cherubin in dein abstracten Pagencostüm — und dazu die fortwährenden An¬
spielungen Beaumarchais' ans die Sitten und Thorheiten einer bestimmten Zeit,
das ist nicht zu ertragen. Die ganze Handlung ist im Rococozeitalter gedacht,
und muß anch im Rococo dargestellt werden.

Die Regel findet nämlich nicht blos auf solche Stücke Anwendung, die aus¬
drücklich als historische bezeichnet und in eine bestimmte Zeit verlegt werden,
sondern anch bei der Darstellung älterer Stücke, die in der Vorstellungsweise
einer bestimmten Zeit gedacht sind und nur innerhalb derselben begriffen werden
können. So muß Cabale und Liebe, Minna von Barnhelm unstreitig in Rococo
gegeben werden; ich behaupte es auch von Emilia Galotti. In andern Stücken
tritt, gerade wie in den Karlsschülern, die jüngere Generation als die aufstrebende
neue Zeit der alten entgegen. Das muß gleichfalls im Costüm ausgedrückt werden;
z. B. Cordelchen in den Jägern anders als im Reifrock und hoher Frisur ge¬
spielt, wird zu einer vollkommenen Abgeschmacktheit. Ich halte es auch für rath¬
sam, solche Schauspiele, die eigentlich über die Rococozeit schon Hinausgehn, aber
in einem von unserer modernen Bildung wesentlich abweichenden Geist concipirt
sind, wie z. B. „die Macht der Verhältnisse," durch das Costüm in eine gewisse


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85860"/>
          <p xml:id="ID_954"> Es ist übrigens schade um das Stück, denn es ist bedeutend weniger sen¬<lb/>
timental, als die übrigen Sachen von Gutzkow, und hat einige ganz vortrefflich<lb/>
ausgeführte komische Scenen. Taillandier, den es wahrscheinlich geärgert hat,<lb/>
daß ein Deutscher sich unterfängt, berühmte Franzosen auf die Bühne zu bringen,<lb/>
hat es sehr getadelt, wahrend er die übrigen, unendlich schlechtem Stücke wenig¬<lb/>
stens verhältnißmäßig lobt. Er tadelt es namentlich wegen seiner historischen<lb/>
Unwahrheit. Ein Franzose sollte doch wohl durch seine Scribe, Dumas u. s. w.<lb/>
an dergleichen gewöhnt sein. Freilich wird die Kritik durch das historische Detail<lb/>
gereizt, und die Dichter sollten endlich zu der Ueberzeugung kommen, daß man<lb/>
ein historisches Stück, d. h. einen bestimmten sittlichen Zersetznngsproceß darstellen<lb/>
kann, ohne den ganzen Raritatcnladen historischer Alterthümer auf die Bühne zu<lb/>
schleppen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_955"> Ich erlaube mir dabei eine Bemerkung in Bezug auf die Aeußerlichkeit in<lb/>
historischen Stucken. Ich habe es schon häufig ausgesprochen, daß ich die Aengst-<lb/>
lichkeit in der getreuen Nachbildung des historischen Costüms, wie sie jetzt ans<lb/>
den Theatern Sitte ist, nicht billigen kann. Man verliert über der Aufmerk¬<lb/>
samkeit auf dieses uicht zur Sache gehörige Detail zu sehr den Hauptpunkt<lb/>
ans den Augen. Wo aber das Costüm wesentlich ist, d. h. wo es uns die<lb/>
Vorstellung einer Sitte, die von der unsrigen wesentlich verschieden ist, erleichtern<lb/>
soll, darf man es uicht zu leicht nehmen. So hat z. B. das Costüm, in dem<lb/>
Figaro's Hochzeit fast überall aufgeführt wird, etwas geradezu Empörendes.<lb/>
Der Graf in mittelalterlicher Niedertracht, die Gräfin und Susanne modern,<lb/>
Figaro, der Doctor und Basil als italienische Masken, Marceline in Rococo,<lb/>
Cherubin in dein abstracten Pagencostüm &#x2014; und dazu die fortwährenden An¬<lb/>
spielungen Beaumarchais' ans die Sitten und Thorheiten einer bestimmten Zeit,<lb/>
das ist nicht zu ertragen. Die ganze Handlung ist im Rococozeitalter gedacht,<lb/>
und muß anch im Rococo dargestellt werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_956" next="#ID_957"> Die Regel findet nämlich nicht blos auf solche Stücke Anwendung, die aus¬<lb/>
drücklich als historische bezeichnet und in eine bestimmte Zeit verlegt werden,<lb/>
sondern anch bei der Darstellung älterer Stücke, die in der Vorstellungsweise<lb/>
einer bestimmten Zeit gedacht sind und nur innerhalb derselben begriffen werden<lb/>
können. So muß Cabale und Liebe, Minna von Barnhelm unstreitig in Rococo<lb/>
gegeben werden; ich behaupte es auch von Emilia Galotti. In andern Stücken<lb/>
tritt, gerade wie in den Karlsschülern, die jüngere Generation als die aufstrebende<lb/>
neue Zeit der alten entgegen. Das muß gleichfalls im Costüm ausgedrückt werden;<lb/>
z. B. Cordelchen in den Jägern anders als im Reifrock und hoher Frisur ge¬<lb/>
spielt, wird zu einer vollkommenen Abgeschmacktheit. Ich halte es auch für rath¬<lb/>
sam, solche Schauspiele, die eigentlich über die Rococozeit schon Hinausgehn, aber<lb/>
in einem von unserer modernen Bildung wesentlich abweichenden Geist concipirt<lb/>
sind, wie z. B. &#x201E;die Macht der Verhältnisse," durch das Costüm in eine gewisse</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Es ist übrigens schade um das Stück, denn es ist bedeutend weniger sen¬ timental, als die übrigen Sachen von Gutzkow, und hat einige ganz vortrefflich ausgeführte komische Scenen. Taillandier, den es wahrscheinlich geärgert hat, daß ein Deutscher sich unterfängt, berühmte Franzosen auf die Bühne zu bringen, hat es sehr getadelt, wahrend er die übrigen, unendlich schlechtem Stücke wenig¬ stens verhältnißmäßig lobt. Er tadelt es namentlich wegen seiner historischen Unwahrheit. Ein Franzose sollte doch wohl durch seine Scribe, Dumas u. s. w. an dergleichen gewöhnt sein. Freilich wird die Kritik durch das historische Detail gereizt, und die Dichter sollten endlich zu der Ueberzeugung kommen, daß man ein historisches Stück, d. h. einen bestimmten sittlichen Zersetznngsproceß darstellen kann, ohne den ganzen Raritatcnladen historischer Alterthümer auf die Bühne zu schleppen. Ich erlaube mir dabei eine Bemerkung in Bezug auf die Aeußerlichkeit in historischen Stucken. Ich habe es schon häufig ausgesprochen, daß ich die Aengst- lichkeit in der getreuen Nachbildung des historischen Costüms, wie sie jetzt ans den Theatern Sitte ist, nicht billigen kann. Man verliert über der Aufmerk¬ samkeit auf dieses uicht zur Sache gehörige Detail zu sehr den Hauptpunkt ans den Augen. Wo aber das Costüm wesentlich ist, d. h. wo es uns die Vorstellung einer Sitte, die von der unsrigen wesentlich verschieden ist, erleichtern soll, darf man es uicht zu leicht nehmen. So hat z. B. das Costüm, in dem Figaro's Hochzeit fast überall aufgeführt wird, etwas geradezu Empörendes. Der Graf in mittelalterlicher Niedertracht, die Gräfin und Susanne modern, Figaro, der Doctor und Basil als italienische Masken, Marceline in Rococo, Cherubin in dein abstracten Pagencostüm — und dazu die fortwährenden An¬ spielungen Beaumarchais' ans die Sitten und Thorheiten einer bestimmten Zeit, das ist nicht zu ertragen. Die ganze Handlung ist im Rococozeitalter gedacht, und muß anch im Rococo dargestellt werden. Die Regel findet nämlich nicht blos auf solche Stücke Anwendung, die aus¬ drücklich als historische bezeichnet und in eine bestimmte Zeit verlegt werden, sondern anch bei der Darstellung älterer Stücke, die in der Vorstellungsweise einer bestimmten Zeit gedacht sind und nur innerhalb derselben begriffen werden können. So muß Cabale und Liebe, Minna von Barnhelm unstreitig in Rococo gegeben werden; ich behaupte es auch von Emilia Galotti. In andern Stücken tritt, gerade wie in den Karlsschülern, die jüngere Generation als die aufstrebende neue Zeit der alten entgegen. Das muß gleichfalls im Costüm ausgedrückt werden; z. B. Cordelchen in den Jägern anders als im Reifrock und hoher Frisur ge¬ spielt, wird zu einer vollkommenen Abgeschmacktheit. Ich halte es auch für rath¬ sam, solche Schauspiele, die eigentlich über die Rococozeit schon Hinausgehn, aber in einem von unserer modernen Bildung wesentlich abweichenden Geist concipirt sind, wie z. B. „die Macht der Verhältnisse," durch das Costüm in eine gewisse

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/277>, abgerufen am 01.09.2024.