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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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gen ist von Natur unsicher in seinen Empfindungen, weil bei ihnen stets die
Eitelkeit den eigentlichen Hintergrund ausmacht; er ist eben darum auch nicht
eigensinnig in seinen Schöpfungen, er arbeitet nach dem Belieben des Publicums
den Schluß, die Pointe seiner Stücke bald so, bald anders; er stellt die Wahl
zwischen einer Hochzeit und einer Hinrichtung, und es kaun ihm wohl begegnen,
daß die spätere Bearbeitung eine wirkliche Verbesserung enthält.

Das Urbild des Tartüffe ist ein schlagendes Beispiel. Nach der ersten
Ausgabe geht die Pointe darauf aus, daß Moliöre mit seinem Lustspiel dem
Urbild desselben eine Summe Geldes erpreßt, nicht für sich, souderu zu Gunsten
eiuer armen Familie, die jener Pharisäer unglücklich gemacht hat. Der "gebildete"
Theil des Publicums ist mit dieser Speculation nicht zufrieden gewesen, und
Gutzkow hat nicht verfehlt, in seiner Umarbeitung dem Ganzen eine andere Wen¬
dung zu geben. Die Intrigue dreht sich jetzt lediglich darum, das Stück über¬
haupt zur Aufführung zu bringen, und die Einheit der sittlichen Idee verliert
sich in eine lyrische Pointe. Der erste Act schließt mit dem Ausruf: "Tartüffe???",
der zweite: "Tartüffe??!", der dritte: "Tartüffe?!?", der vierte: "Tartüffe?!!",
der letzte: "Tartüffe!!! " "Weh mir, ich bin erkannt!"

Die nächste Frage ist nun, warum in einem Lustspiel denn überhaupt
Prellerei eines heuchlerischen Wucherers etwas Unästhetisches 'haben soll? Es
fallt doch keinem ein, an Göthe's Scapin und Scapine ein Aergerniß zu nehmen,
in dem dasselbe Motiv noch viel dreister und nackter auftritt. -- Aber darin liegt
es eben. Man läßt sich einen Spaß schon gefallen, wenn nnr nicht zugleich
die Zumuthung gemacht wird, man solle sich erbauen. Der Moliöre unsers
Dichters ist nämlich eine Art Prediger, der sich zur Aufgabe seines Lebens und
seiner Dichtung gesetzt hat, das Laster zu züchtigen und die Tugend zu belohnen.
Ein sehr vortrefflicher Charakter für's Leben, aber nicht für's Lustspiel. Er greift
zu sehr der Polizei in's Handwerk -- die beiläufig ihm darin in der That einen
gar zu freien Spielraum läßt, denn eine bekannte, im Staat angesehene Persön¬
lichkeit geradezu auf der Bühne zu produciren und als gemeinen Verbrecher dar¬
zustellen, so etwas läßt sich nnr in einem Aristophauischcu Zeitalter begreifen, am
wenigsten in einer absoluten Monarchie. Moliörc würde uns weit besser gefallen,
wenn er in freiem Humor mit dem Leben und seinen Verhältnissen zu spielen
die Kühnheit hätte. Wir würden ihm dann auch bei der Wahl seiner Mittel
nicht so genau auf die Finger sehn. In einer Lustspiel-Situation hat ein pathetischer
salbungsvoller Charakter immer das Ansehn eines Don Quixote. Unsere Dichter
scheiden darin noch nicht genau; das Publicum fühlt darin richtiger. Wenn wir
lachen, so wollen wir uns nicht erbauen; es gehört zu allen Dingen eine gewisse
Stimmung. Bei dieser Verwirrung der Stimmungen wissen wir nie, wo es
eigentlich hinaus soll, und warten auch nach dem Fall des Vorhangs immer noch,
ob nicht etwas nachkommt, was uns über den eigentlichen Zweck in's Klare setzt.


gen ist von Natur unsicher in seinen Empfindungen, weil bei ihnen stets die
Eitelkeit den eigentlichen Hintergrund ausmacht; er ist eben darum auch nicht
eigensinnig in seinen Schöpfungen, er arbeitet nach dem Belieben des Publicums
den Schluß, die Pointe seiner Stücke bald so, bald anders; er stellt die Wahl
zwischen einer Hochzeit und einer Hinrichtung, und es kaun ihm wohl begegnen,
daß die spätere Bearbeitung eine wirkliche Verbesserung enthält.

Das Urbild des Tartüffe ist ein schlagendes Beispiel. Nach der ersten
Ausgabe geht die Pointe darauf aus, daß Moliöre mit seinem Lustspiel dem
Urbild desselben eine Summe Geldes erpreßt, nicht für sich, souderu zu Gunsten
eiuer armen Familie, die jener Pharisäer unglücklich gemacht hat. Der „gebildete"
Theil des Publicums ist mit dieser Speculation nicht zufrieden gewesen, und
Gutzkow hat nicht verfehlt, in seiner Umarbeitung dem Ganzen eine andere Wen¬
dung zu geben. Die Intrigue dreht sich jetzt lediglich darum, das Stück über¬
haupt zur Aufführung zu bringen, und die Einheit der sittlichen Idee verliert
sich in eine lyrische Pointe. Der erste Act schließt mit dem Ausruf: „Tartüffe???",
der zweite: „Tartüffe??!", der dritte: „Tartüffe?!?", der vierte: „Tartüffe?!!",
der letzte: „Tartüffe!!! " „Weh mir, ich bin erkannt!"

Die nächste Frage ist nun, warum in einem Lustspiel denn überhaupt
Prellerei eines heuchlerischen Wucherers etwas Unästhetisches 'haben soll? Es
fallt doch keinem ein, an Göthe's Scapin und Scapine ein Aergerniß zu nehmen,
in dem dasselbe Motiv noch viel dreister und nackter auftritt. — Aber darin liegt
es eben. Man läßt sich einen Spaß schon gefallen, wenn nnr nicht zugleich
die Zumuthung gemacht wird, man solle sich erbauen. Der Moliöre unsers
Dichters ist nämlich eine Art Prediger, der sich zur Aufgabe seines Lebens und
seiner Dichtung gesetzt hat, das Laster zu züchtigen und die Tugend zu belohnen.
Ein sehr vortrefflicher Charakter für's Leben, aber nicht für's Lustspiel. Er greift
zu sehr der Polizei in's Handwerk — die beiläufig ihm darin in der That einen
gar zu freien Spielraum läßt, denn eine bekannte, im Staat angesehene Persön¬
lichkeit geradezu auf der Bühne zu produciren und als gemeinen Verbrecher dar¬
zustellen, so etwas läßt sich nnr in einem Aristophauischcu Zeitalter begreifen, am
wenigsten in einer absoluten Monarchie. Moliörc würde uns weit besser gefallen,
wenn er in freiem Humor mit dem Leben und seinen Verhältnissen zu spielen
die Kühnheit hätte. Wir würden ihm dann auch bei der Wahl seiner Mittel
nicht so genau auf die Finger sehn. In einer Lustspiel-Situation hat ein pathetischer
salbungsvoller Charakter immer das Ansehn eines Don Quixote. Unsere Dichter
scheiden darin noch nicht genau; das Publicum fühlt darin richtiger. Wenn wir
lachen, so wollen wir uns nicht erbauen; es gehört zu allen Dingen eine gewisse
Stimmung. Bei dieser Verwirrung der Stimmungen wissen wir nie, wo es
eigentlich hinaus soll, und warten auch nach dem Fall des Vorhangs immer noch,
ob nicht etwas nachkommt, was uns über den eigentlichen Zweck in's Klare setzt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/276>, abgerufen am 01.09.2024.