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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Die Kinder wurde" in die Kaserne gebracht, welche ein hölzernes, von einem'
Erdanfwurfe rings umgebenes Gebäude ist und sich außerhalb der Stadt dicht am
Strome befindet. Sie enthielt eine kleine Abtheilung Kvsakenartillerie, einige
Schwadronen Kosakencavalcrie und zwei kleine Compagnien Infanterie von den
sogenannten "Grünen". In diesen beiden Kompagnien befanden sich vierzehn
Polen.

Die Militärschule, in welche die Knaben am Morgen des andern Tags ge¬
bracht wurden, befand sich zwischen der Kaserne und Stadt und war von einer Pfahl¬
wand umgeben. Sie enthielt sechzig Zöglinge, Söhne theils von Kosaken, theils
von Kronbauern, in drei Classen; in jeder mußte ein Schüler zwei Jahre bleiben.
Lehrgegenstand der Unterseen war Lesen und Schreiben; denn nur in äußerst sel-
teuer Ausnahme kau: einmal ein Schüler auf diese Schule, welcher schon etwas
vom Lesen und Schreiben verstand. In der mittleren Classe Rechnen, ein wenig
Zeichnen, russische Sprache und etwas Geometrie und dasselbe in der obersten
Classe, hauptsächlich aber großrussische Sprache, russische Geschichte und die Geo¬
graphie des Reiches. Die Geschichte Rußlands, welche hier im Gebrauch war,
war in Petersburg aus Befehl des Ministeriums versaßt worden und war daher
so eiHeuthümlicher Art, daß sie kaum einige Aehnlichkeit mit der russischen Geschichte
hatte, welche man in Lithauen kannte. Aber in sofern war sie dem jungen Polen
interessant, als sie die Geschichte des asiatischen Rußlands ausführlicher enthielt,
als er sie kannte; anch schien diese viel weniger verzerrt zu sein, als die Ge¬
schichte des europäischen Rußlands.

Zwölf Schüler logirten in einer Kanuner, und bei ihnen befand sich ein Un¬
teroffizier, der ungefähr dieselbe Rolle spielte, wie der Repetent eines Cadetten-
hauseS.

Außer den Unterrichtsstunden bestand die Beschäftigung der Schüler in Holz-
und Schilshackcu, Reinigen der Classen und Kammern, Fischefangen, Füttern einer
Heerde von Ziegen und Pferden, die den Lehrern und Unteroffizieren gehörten,
und Bearbeitung eines großen, am Strome gelegenen Feldstückes, auf welchem
alljährlich Hafer und eine Art Haidekorn erbaut wurde. Man grub mit hölzernen
Spaten, und dies war natürlich für Kinder im hohen Grade anstrengend.

Nachdem der Director die Knaben mit seinen Unglücksgefährten in Empfang
genommen, warf er die Verzagten mit eigener Hand in die düstern Lehmzellen,
das künftige Wohnzimmer, und fluchte dabei sehr.

Die Mitschüler kamen aus der Classe zurück und erfuhren, wer der Neue sei.
Da warfen sie sich auf das Couuuaudo des Unteroffiziers über ihn her und prügelten
ihn so unsanft, daß er mehrere Wochen lang Beulen an seinem Körper trug.
Nach abgemachten Einpfangöprügcln machten sie doch niemals mit ihm Gemein¬
schaft. Die Lehrer und Aufseher nährten diesen Haß, indem sie den kleinen Polen
zur Sklaven der russischen Buben machten, die ihm an Kenntnissen und Sitten


Die Kinder wurde» in die Kaserne gebracht, welche ein hölzernes, von einem'
Erdanfwurfe rings umgebenes Gebäude ist und sich außerhalb der Stadt dicht am
Strome befindet. Sie enthielt eine kleine Abtheilung Kvsakenartillerie, einige
Schwadronen Kosakencavalcrie und zwei kleine Compagnien Infanterie von den
sogenannten „Grünen". In diesen beiden Kompagnien befanden sich vierzehn
Polen.

Die Militärschule, in welche die Knaben am Morgen des andern Tags ge¬
bracht wurden, befand sich zwischen der Kaserne und Stadt und war von einer Pfahl¬
wand umgeben. Sie enthielt sechzig Zöglinge, Söhne theils von Kosaken, theils
von Kronbauern, in drei Classen; in jeder mußte ein Schüler zwei Jahre bleiben.
Lehrgegenstand der Unterseen war Lesen und Schreiben; denn nur in äußerst sel-
teuer Ausnahme kau: einmal ein Schüler auf diese Schule, welcher schon etwas
vom Lesen und Schreiben verstand. In der mittleren Classe Rechnen, ein wenig
Zeichnen, russische Sprache und etwas Geometrie und dasselbe in der obersten
Classe, hauptsächlich aber großrussische Sprache, russische Geschichte und die Geo¬
graphie des Reiches. Die Geschichte Rußlands, welche hier im Gebrauch war,
war in Petersburg aus Befehl des Ministeriums versaßt worden und war daher
so eiHeuthümlicher Art, daß sie kaum einige Aehnlichkeit mit der russischen Geschichte
hatte, welche man in Lithauen kannte. Aber in sofern war sie dem jungen Polen
interessant, als sie die Geschichte des asiatischen Rußlands ausführlicher enthielt,
als er sie kannte; anch schien diese viel weniger verzerrt zu sein, als die Ge¬
schichte des europäischen Rußlands.

Zwölf Schüler logirten in einer Kanuner, und bei ihnen befand sich ein Un¬
teroffizier, der ungefähr dieselbe Rolle spielte, wie der Repetent eines Cadetten-
hauseS.

Außer den Unterrichtsstunden bestand die Beschäftigung der Schüler in Holz-
und Schilshackcu, Reinigen der Classen und Kammern, Fischefangen, Füttern einer
Heerde von Ziegen und Pferden, die den Lehrern und Unteroffizieren gehörten,
und Bearbeitung eines großen, am Strome gelegenen Feldstückes, auf welchem
alljährlich Hafer und eine Art Haidekorn erbaut wurde. Man grub mit hölzernen
Spaten, und dies war natürlich für Kinder im hohen Grade anstrengend.

Nachdem der Director die Knaben mit seinen Unglücksgefährten in Empfang
genommen, warf er die Verzagten mit eigener Hand in die düstern Lehmzellen,
das künftige Wohnzimmer, und fluchte dabei sehr.

Die Mitschüler kamen aus der Classe zurück und erfuhren, wer der Neue sei.
Da warfen sie sich auf das Couuuaudo des Unteroffiziers über ihn her und prügelten
ihn so unsanft, daß er mehrere Wochen lang Beulen an seinem Körper trug.
Nach abgemachten Einpfangöprügcln machten sie doch niemals mit ihm Gemein¬
schaft. Die Lehrer und Aufseher nährten diesen Haß, indem sie den kleinen Polen
zur Sklaven der russischen Buben machten, die ihm an Kenntnissen und Sitten


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[0026] Die Kinder wurde» in die Kaserne gebracht, welche ein hölzernes, von einem' Erdanfwurfe rings umgebenes Gebäude ist und sich außerhalb der Stadt dicht am Strome befindet. Sie enthielt eine kleine Abtheilung Kvsakenartillerie, einige Schwadronen Kosakencavalcrie und zwei kleine Compagnien Infanterie von den sogenannten „Grünen". In diesen beiden Kompagnien befanden sich vierzehn Polen. Die Militärschule, in welche die Knaben am Morgen des andern Tags ge¬ bracht wurden, befand sich zwischen der Kaserne und Stadt und war von einer Pfahl¬ wand umgeben. Sie enthielt sechzig Zöglinge, Söhne theils von Kosaken, theils von Kronbauern, in drei Classen; in jeder mußte ein Schüler zwei Jahre bleiben. Lehrgegenstand der Unterseen war Lesen und Schreiben; denn nur in äußerst sel- teuer Ausnahme kau: einmal ein Schüler auf diese Schule, welcher schon etwas vom Lesen und Schreiben verstand. In der mittleren Classe Rechnen, ein wenig Zeichnen, russische Sprache und etwas Geometrie und dasselbe in der obersten Classe, hauptsächlich aber großrussische Sprache, russische Geschichte und die Geo¬ graphie des Reiches. Die Geschichte Rußlands, welche hier im Gebrauch war, war in Petersburg aus Befehl des Ministeriums versaßt worden und war daher so eiHeuthümlicher Art, daß sie kaum einige Aehnlichkeit mit der russischen Geschichte hatte, welche man in Lithauen kannte. Aber in sofern war sie dem jungen Polen interessant, als sie die Geschichte des asiatischen Rußlands ausführlicher enthielt, als er sie kannte; anch schien diese viel weniger verzerrt zu sein, als die Ge¬ schichte des europäischen Rußlands. Zwölf Schüler logirten in einer Kanuner, und bei ihnen befand sich ein Un¬ teroffizier, der ungefähr dieselbe Rolle spielte, wie der Repetent eines Cadetten- hauseS. Außer den Unterrichtsstunden bestand die Beschäftigung der Schüler in Holz- und Schilshackcu, Reinigen der Classen und Kammern, Fischefangen, Füttern einer Heerde von Ziegen und Pferden, die den Lehrern und Unteroffizieren gehörten, und Bearbeitung eines großen, am Strome gelegenen Feldstückes, auf welchem alljährlich Hafer und eine Art Haidekorn erbaut wurde. Man grub mit hölzernen Spaten, und dies war natürlich für Kinder im hohen Grade anstrengend. Nachdem der Director die Knaben mit seinen Unglücksgefährten in Empfang genommen, warf er die Verzagten mit eigener Hand in die düstern Lehmzellen, das künftige Wohnzimmer, und fluchte dabei sehr. Die Mitschüler kamen aus der Classe zurück und erfuhren, wer der Neue sei. Da warfen sie sich auf das Couuuaudo des Unteroffiziers über ihn her und prügelten ihn so unsanft, daß er mehrere Wochen lang Beulen an seinem Körper trug. Nach abgemachten Einpfangöprügcln machten sie doch niemals mit ihm Gemein¬ schaft. Die Lehrer und Aufseher nährten diesen Haß, indem sie den kleinen Polen zur Sklaven der russischen Buben machten, die ihm an Kenntnissen und Sitten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/26>, abgerufen am 27.07.2024.