Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

laus mit tatkräftiger Hand das Steuerruder des Staates führt, wäre allerdings
von keinem dieser widerstreitenden Elemente irgend eine Gefahr für die gegen¬
wärtige Gestaltung der Dinge in Rußland zu erwarten. Die vorsorgende russische
Politik weiß indessen recht wohl, daß diese Persönlichkeit uicht unsterblich ist, daß
auch die stärkste Hand, im Alter mitunter zittert. Sie muß also eine moralische
Kraft substituirend zu immer höherer Geltung zu bringen suchen; und diese ist
eben unter russischen Verhältnissen nicht nur das russisch-orthodoxe, sondern das
Element der Strenggläubigkeit überhaupt. Darin liegt die wesentliche Ursache
dafür, daß Rußland, heraustretend aus der so oft verkündeten Rolle religiöser
Toleranz und confessioneller Indifferenz, einerseits die Intoleranz im Innern des
Reiches bis auf die höchste Spitze trieb, andrerseits den politischen Bewegungen
Europa's gegenüber zu dem Ausspruche kommt: "Die Revolution ist vor Allem
antichristlich."

Aber die Gefahr drängt sich für Rußland auch noch unmittelbarer aus dem
religiösen Gebiete heran. Die, trotz Grenzsperre und Strafhärte, gegen jedes
Aufleuchten einer Thcilncchme an der geistigen Bewegung der Neuzeit, wenngleich
nur in einzelnen Tropfen nach Rußland aussprützendeu Wellenschlage europäischer
Geistesfluthen verdampften nicht auf dem Gemäuer der orthodoxen Kirche, sondern
drangen in deren Fugen und fanden hier befruchtnngsreife Keime. Die Anzahl
der russischen Secten ist bekannt, minder ihre innere Organisation. Die meisten
derselben besitzen auch in der That keine solche, fit- ketten sich vielmehr an einzelne
Lehrsätze, an gewisse Aussprüche und ausarbeiten eine oder die andere Idee, um
welche sich deren Anhänger mit einem bisweilen grausenhaften Fanatismus schaaren.
Massenhafte Selbstvcrbreunuugcu, Kiudertödtuugcu, Selbstverstümmluugeu u. tgi.
treten dann hier oder da als Ergebnisse dieser Sondcrlehren ans, welche bis da¬
hin unbekannt geblieben waren, da die meisten Secten den Grundsatz haben, sich
äußerlich den anbefohlenen Gebräuchen der orthodoxen Kirche nicht zu entziehen.
Die vom Regierungsprincip bedingte Versteinnng der Kirche im Formelwesen, die
vom politischen System begünstigte Abscheidung des Gegenstandes vom innern
Volksleben hatte bis zum Hervortreten solcher Erscheinungen den verheimlichten
Gängen dieser Secten nicht folgen können; die politische Untersuchuugsbehörde
dringt nicht weiter vor, als bis zu dem offen vorliegenden Verbrechen, und das
Schisma erobert sich durch das Martyrthum seiner Bekenner neue Anhänger.
Zwei Secten dagegen, die Starowerzeu und die Duchabvrzen, sind in wirklichen Orga¬
nisationen vereinigt. Die Starowerzen (vom Volke Roskolniks, Ketzer, genannt)
sind die Vertreter des altgläubige" Elements, die Träger jener Orthodoxie, welche
bereits Peter des Ersten Reformpläne in der Kirche bekämpfte und trotz aller
Verfolgungen, wie aller Lockungen zu Kompromissen mit der Staarskirche ueben
dieser ein vollständiges dogmatisches Lehrgebäude aufgerichtet hat. Wie groß ihre
Macht, erhellt schon daraus, daß Alexander es ausgab, deu Starowerzen mit


laus mit tatkräftiger Hand das Steuerruder des Staates führt, wäre allerdings
von keinem dieser widerstreitenden Elemente irgend eine Gefahr für die gegen¬
wärtige Gestaltung der Dinge in Rußland zu erwarten. Die vorsorgende russische
Politik weiß indessen recht wohl, daß diese Persönlichkeit uicht unsterblich ist, daß
auch die stärkste Hand, im Alter mitunter zittert. Sie muß also eine moralische
Kraft substituirend zu immer höherer Geltung zu bringen suchen; und diese ist
eben unter russischen Verhältnissen nicht nur das russisch-orthodoxe, sondern das
Element der Strenggläubigkeit überhaupt. Darin liegt die wesentliche Ursache
dafür, daß Rußland, heraustretend aus der so oft verkündeten Rolle religiöser
Toleranz und confessioneller Indifferenz, einerseits die Intoleranz im Innern des
Reiches bis auf die höchste Spitze trieb, andrerseits den politischen Bewegungen
Europa's gegenüber zu dem Ausspruche kommt: „Die Revolution ist vor Allem
antichristlich."

Aber die Gefahr drängt sich für Rußland auch noch unmittelbarer aus dem
religiösen Gebiete heran. Die, trotz Grenzsperre und Strafhärte, gegen jedes
Aufleuchten einer Thcilncchme an der geistigen Bewegung der Neuzeit, wenngleich
nur in einzelnen Tropfen nach Rußland aussprützendeu Wellenschlage europäischer
Geistesfluthen verdampften nicht auf dem Gemäuer der orthodoxen Kirche, sondern
drangen in deren Fugen und fanden hier befruchtnngsreife Keime. Die Anzahl
der russischen Secten ist bekannt, minder ihre innere Organisation. Die meisten
derselben besitzen auch in der That keine solche, fit- ketten sich vielmehr an einzelne
Lehrsätze, an gewisse Aussprüche und ausarbeiten eine oder die andere Idee, um
welche sich deren Anhänger mit einem bisweilen grausenhaften Fanatismus schaaren.
Massenhafte Selbstvcrbreunuugcu, Kiudertödtuugcu, Selbstverstümmluugeu u. tgi.
treten dann hier oder da als Ergebnisse dieser Sondcrlehren ans, welche bis da¬
hin unbekannt geblieben waren, da die meisten Secten den Grundsatz haben, sich
äußerlich den anbefohlenen Gebräuchen der orthodoxen Kirche nicht zu entziehen.
Die vom Regierungsprincip bedingte Versteinnng der Kirche im Formelwesen, die
vom politischen System begünstigte Abscheidung des Gegenstandes vom innern
Volksleben hatte bis zum Hervortreten solcher Erscheinungen den verheimlichten
Gängen dieser Secten nicht folgen können; die politische Untersuchuugsbehörde
dringt nicht weiter vor, als bis zu dem offen vorliegenden Verbrechen, und das
Schisma erobert sich durch das Martyrthum seiner Bekenner neue Anhänger.
Zwei Secten dagegen, die Starowerzeu und die Duchabvrzen, sind in wirklichen Orga¬
nisationen vereinigt. Die Starowerzen (vom Volke Roskolniks, Ketzer, genannt)
sind die Vertreter des altgläubige» Elements, die Träger jener Orthodoxie, welche
bereits Peter des Ersten Reformpläne in der Kirche bekämpfte und trotz aller
Verfolgungen, wie aller Lockungen zu Kompromissen mit der Staarskirche ueben
dieser ein vollständiges dogmatisches Lehrgebäude aufgerichtet hat. Wie groß ihre
Macht, erhellt schon daraus, daß Alexander es ausgab, deu Starowerzen mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85836"/>
            <p xml:id="ID_826" prev="#ID_825"> laus mit tatkräftiger Hand das Steuerruder des Staates führt, wäre allerdings<lb/>
von keinem dieser widerstreitenden Elemente irgend eine Gefahr für die gegen¬<lb/>
wärtige Gestaltung der Dinge in Rußland zu erwarten. Die vorsorgende russische<lb/>
Politik weiß indessen recht wohl, daß diese Persönlichkeit uicht unsterblich ist, daß<lb/>
auch die stärkste Hand, im Alter mitunter zittert. Sie muß also eine moralische<lb/>
Kraft substituirend zu immer höherer Geltung zu bringen suchen; und diese ist<lb/>
eben unter russischen Verhältnissen nicht nur das russisch-orthodoxe, sondern das<lb/>
Element der Strenggläubigkeit überhaupt. Darin liegt die wesentliche Ursache<lb/>
dafür, daß Rußland, heraustretend aus der so oft verkündeten Rolle religiöser<lb/>
Toleranz und confessioneller Indifferenz, einerseits die Intoleranz im Innern des<lb/>
Reiches bis auf die höchste Spitze trieb, andrerseits den politischen Bewegungen<lb/>
Europa's gegenüber zu dem Ausspruche kommt: &#x201E;Die Revolution ist vor Allem<lb/>
antichristlich."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_827" next="#ID_828"> Aber die Gefahr drängt sich für Rußland auch noch unmittelbarer aus dem<lb/>
religiösen Gebiete heran. Die, trotz Grenzsperre und Strafhärte, gegen jedes<lb/>
Aufleuchten einer Thcilncchme an der geistigen Bewegung der Neuzeit, wenngleich<lb/>
nur in einzelnen Tropfen nach Rußland aussprützendeu Wellenschlage europäischer<lb/>
Geistesfluthen verdampften nicht auf dem Gemäuer der orthodoxen Kirche, sondern<lb/>
drangen in deren Fugen und fanden hier befruchtnngsreife Keime. Die Anzahl<lb/>
der russischen Secten ist bekannt, minder ihre innere Organisation. Die meisten<lb/>
derselben besitzen auch in der That keine solche, fit- ketten sich vielmehr an einzelne<lb/>
Lehrsätze, an gewisse Aussprüche und ausarbeiten eine oder die andere Idee, um<lb/>
welche sich deren Anhänger mit einem bisweilen grausenhaften Fanatismus schaaren.<lb/>
Massenhafte Selbstvcrbreunuugcu, Kiudertödtuugcu, Selbstverstümmluugeu u. tgi.<lb/>
treten dann hier oder da als Ergebnisse dieser Sondcrlehren ans, welche bis da¬<lb/>
hin unbekannt geblieben waren, da die meisten Secten den Grundsatz haben, sich<lb/>
äußerlich den anbefohlenen Gebräuchen der orthodoxen Kirche nicht zu entziehen.<lb/>
Die vom Regierungsprincip bedingte Versteinnng der Kirche im Formelwesen, die<lb/>
vom politischen System begünstigte Abscheidung des Gegenstandes vom innern<lb/>
Volksleben hatte bis zum Hervortreten solcher Erscheinungen den verheimlichten<lb/>
Gängen dieser Secten nicht folgen können; die politische Untersuchuugsbehörde<lb/>
dringt nicht weiter vor, als bis zu dem offen vorliegenden Verbrechen, und das<lb/>
Schisma erobert sich durch das Martyrthum seiner Bekenner neue Anhänger.<lb/>
Zwei Secten dagegen, die Starowerzeu und die Duchabvrzen, sind in wirklichen Orga¬<lb/>
nisationen vereinigt. Die Starowerzen (vom Volke Roskolniks, Ketzer, genannt)<lb/>
sind die Vertreter des altgläubige» Elements, die Träger jener Orthodoxie, welche<lb/>
bereits Peter des Ersten Reformpläne in der Kirche bekämpfte und trotz aller<lb/>
Verfolgungen, wie aller Lockungen zu Kompromissen mit der Staarskirche ueben<lb/>
dieser ein vollständiges dogmatisches Lehrgebäude aufgerichtet hat. Wie groß ihre<lb/>
Macht, erhellt schon daraus, daß Alexander es ausgab, deu Starowerzen mit</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] laus mit tatkräftiger Hand das Steuerruder des Staates führt, wäre allerdings von keinem dieser widerstreitenden Elemente irgend eine Gefahr für die gegen¬ wärtige Gestaltung der Dinge in Rußland zu erwarten. Die vorsorgende russische Politik weiß indessen recht wohl, daß diese Persönlichkeit uicht unsterblich ist, daß auch die stärkste Hand, im Alter mitunter zittert. Sie muß also eine moralische Kraft substituirend zu immer höherer Geltung zu bringen suchen; und diese ist eben unter russischen Verhältnissen nicht nur das russisch-orthodoxe, sondern das Element der Strenggläubigkeit überhaupt. Darin liegt die wesentliche Ursache dafür, daß Rußland, heraustretend aus der so oft verkündeten Rolle religiöser Toleranz und confessioneller Indifferenz, einerseits die Intoleranz im Innern des Reiches bis auf die höchste Spitze trieb, andrerseits den politischen Bewegungen Europa's gegenüber zu dem Ausspruche kommt: „Die Revolution ist vor Allem antichristlich." Aber die Gefahr drängt sich für Rußland auch noch unmittelbarer aus dem religiösen Gebiete heran. Die, trotz Grenzsperre und Strafhärte, gegen jedes Aufleuchten einer Thcilncchme an der geistigen Bewegung der Neuzeit, wenngleich nur in einzelnen Tropfen nach Rußland aussprützendeu Wellenschlage europäischer Geistesfluthen verdampften nicht auf dem Gemäuer der orthodoxen Kirche, sondern drangen in deren Fugen und fanden hier befruchtnngsreife Keime. Die Anzahl der russischen Secten ist bekannt, minder ihre innere Organisation. Die meisten derselben besitzen auch in der That keine solche, fit- ketten sich vielmehr an einzelne Lehrsätze, an gewisse Aussprüche und ausarbeiten eine oder die andere Idee, um welche sich deren Anhänger mit einem bisweilen grausenhaften Fanatismus schaaren. Massenhafte Selbstvcrbreunuugcu, Kiudertödtuugcu, Selbstverstümmluugeu u. tgi. treten dann hier oder da als Ergebnisse dieser Sondcrlehren ans, welche bis da¬ hin unbekannt geblieben waren, da die meisten Secten den Grundsatz haben, sich äußerlich den anbefohlenen Gebräuchen der orthodoxen Kirche nicht zu entziehen. Die vom Regierungsprincip bedingte Versteinnng der Kirche im Formelwesen, die vom politischen System begünstigte Abscheidung des Gegenstandes vom innern Volksleben hatte bis zum Hervortreten solcher Erscheinungen den verheimlichten Gängen dieser Secten nicht folgen können; die politische Untersuchuugsbehörde dringt nicht weiter vor, als bis zu dem offen vorliegenden Verbrechen, und das Schisma erobert sich durch das Martyrthum seiner Bekenner neue Anhänger. Zwei Secten dagegen, die Starowerzeu und die Duchabvrzen, sind in wirklichen Orga¬ nisationen vereinigt. Die Starowerzen (vom Volke Roskolniks, Ketzer, genannt) sind die Vertreter des altgläubige» Elements, die Träger jener Orthodoxie, welche bereits Peter des Ersten Reformpläne in der Kirche bekämpfte und trotz aller Verfolgungen, wie aller Lockungen zu Kompromissen mit der Staarskirche ueben dieser ein vollständiges dogmatisches Lehrgebäude aufgerichtet hat. Wie groß ihre Macht, erhellt schon daraus, daß Alexander es ausgab, deu Starowerzen mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/253>, abgerufen am 28.07.2024.