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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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tischeS Wesen hat sich einigermaßen abgeklärt. In der Abendpost geht dieser
Abklärungsproceß ans eine erfreuliche Weise weiter vor sich.

Schon die beständige Nothwendigkeit, sich mit concreten, bestimmten Fragen
zu beschäftigen, die über den Kreis der abstracten Politik Hinausgehen, zwingt
die Kritik, den ätherlosen Himmel ihres reinen Denkens zu verlassen, und die
Seligkeit des Selbstgefühls, daß außer ihr auf Erden alles Tand und Eitelkeit
sei, aufzugeben. Zuweilen macht diese Art, wie die Kritik sich selber corrigirt,
einen fast komischen Eindruck. So beginnt ein Aussatz mit dem Nachweis, daß
jede Schuld, die ein Staat contrahirt, sein unausbleibliches Verderben nach sich
ziehen muß. Die souveräne Kritik wäre dabei stehen geblieben, und hätte ein
Jubellied über den nahe bevorstehenden Untergang sämmtlicher Staaten ange¬
stimmt, die ja sämmtlich schulde" haben. Einer Zeitung dagegen muß es ein¬
fallen, daß auch nach Aufhebung des Staats die Geldverwickelnugeu übrig bleibe",
die durch einen Dous ex maolimo, nicht aufgehoben werden können. Statt also in
jenen Triumphgesang auszubrechen, schließt sie mit dem höchst soliden Rath, die
Staaten mochte" sparsam wirtschaften, ihre alten Schulden allmälig bezahlen, und
keine neuen machen.

Dennoch ist die alte Paradoxenjagd uicht ganz aufgegeben. Das Gespenst
des Staats erscheint mit der Gewalt einer fixen Idee, wo man es am wenigsten
erwartet; der Staat wird nicht nur an sich, sondern auch in seinen Compositionen
verfolgt. Als die Abendpost über Sir Robert Peel's Tod berichtet, dessen Ver¬
dienste sie im Uebrigen gebührend anerkennt, kann sie sich doch des Ausrufs
nicht enthalten: Gott sei Dank, wieder ein Staatsmann weniger!

Abgesehen von diesen Aeußerlichkeiten, krankt ihr Princip an einer Reihe
falscher Voraussetzungen, die eigentlich so evident sind, daß nur die Träumerei
deutscher Speculation von ihnen befangen werden kaum Wir heben nur einige hervor.

Die eine ist, daß eine Gesellschaft sich selbst bilden könne, ohne sittliche Vor¬
aussetzung, ohne Tradition, ohne Autorität. Diese sittlichen Voraussetzungen
folgen sogar dem Ansiedler in die Urwälder Amerika's, wo die Hindernisse, die
eine bereits vorhandene Cultur, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse der Bildung
einer voraussetzungslosen Gesellschaft in den Weg setzt, uoch uicht vorhanden sind.
Ja diese sittlich-religiösen Voraussetzungen sind es, die ihn aus Europa getrieben
haben, und die jenseit des Meeres sein Thun und Treiben bestimmen. Nicht die
Fluchen des Oceans spülen die historische Tradition vom Meuscheu ab. -- Wenn
in der Gegenwart die Mehrzahl der Menschen den Mord, das Verbrechen über¬
haupt, verabscheut, so ist auch das nicht Natur, sondern Erwerb der Geschichte.
Ja die Fähigkeit, sich auch nur zu vorübergehenden Zwecken zu verbinden, setzt
bereits die Mlichen Grundlagen voraus, der jene Verwandlung des Staats in
Vereine zu entfliehen sucht. Was wir sind, sind wir nur als Kinder der Zeit,
als Producte der Geschichte, als Glieder eines realen staatlichen Organismus.


tischeS Wesen hat sich einigermaßen abgeklärt. In der Abendpost geht dieser
Abklärungsproceß ans eine erfreuliche Weise weiter vor sich.

Schon die beständige Nothwendigkeit, sich mit concreten, bestimmten Fragen
zu beschäftigen, die über den Kreis der abstracten Politik Hinausgehen, zwingt
die Kritik, den ätherlosen Himmel ihres reinen Denkens zu verlassen, und die
Seligkeit des Selbstgefühls, daß außer ihr auf Erden alles Tand und Eitelkeit
sei, aufzugeben. Zuweilen macht diese Art, wie die Kritik sich selber corrigirt,
einen fast komischen Eindruck. So beginnt ein Aussatz mit dem Nachweis, daß
jede Schuld, die ein Staat contrahirt, sein unausbleibliches Verderben nach sich
ziehen muß. Die souveräne Kritik wäre dabei stehen geblieben, und hätte ein
Jubellied über den nahe bevorstehenden Untergang sämmtlicher Staaten ange¬
stimmt, die ja sämmtlich schulde« haben. Einer Zeitung dagegen muß es ein¬
fallen, daß auch nach Aufhebung des Staats die Geldverwickelnugeu übrig bleibe«,
die durch einen Dous ex maolimo, nicht aufgehoben werden können. Statt also in
jenen Triumphgesang auszubrechen, schließt sie mit dem höchst soliden Rath, die
Staaten mochte» sparsam wirtschaften, ihre alten Schulden allmälig bezahlen, und
keine neuen machen.

Dennoch ist die alte Paradoxenjagd uicht ganz aufgegeben. Das Gespenst
des Staats erscheint mit der Gewalt einer fixen Idee, wo man es am wenigsten
erwartet; der Staat wird nicht nur an sich, sondern auch in seinen Compositionen
verfolgt. Als die Abendpost über Sir Robert Peel's Tod berichtet, dessen Ver¬
dienste sie im Uebrigen gebührend anerkennt, kann sie sich doch des Ausrufs
nicht enthalten: Gott sei Dank, wieder ein Staatsmann weniger!

Abgesehen von diesen Aeußerlichkeiten, krankt ihr Princip an einer Reihe
falscher Voraussetzungen, die eigentlich so evident sind, daß nur die Träumerei
deutscher Speculation von ihnen befangen werden kaum Wir heben nur einige hervor.

Die eine ist, daß eine Gesellschaft sich selbst bilden könne, ohne sittliche Vor¬
aussetzung, ohne Tradition, ohne Autorität. Diese sittlichen Voraussetzungen
folgen sogar dem Ansiedler in die Urwälder Amerika's, wo die Hindernisse, die
eine bereits vorhandene Cultur, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse der Bildung
einer voraussetzungslosen Gesellschaft in den Weg setzt, uoch uicht vorhanden sind.
Ja diese sittlich-religiösen Voraussetzungen sind es, die ihn aus Europa getrieben
haben, und die jenseit des Meeres sein Thun und Treiben bestimmen. Nicht die
Fluchen des Oceans spülen die historische Tradition vom Meuscheu ab. — Wenn
in der Gegenwart die Mehrzahl der Menschen den Mord, das Verbrechen über¬
haupt, verabscheut, so ist auch das nicht Natur, sondern Erwerb der Geschichte.
Ja die Fähigkeit, sich auch nur zu vorübergehenden Zwecken zu verbinden, setzt
bereits die Mlichen Grundlagen voraus, der jene Verwandlung des Staats in
Vereine zu entfliehen sucht. Was wir sind, sind wir nur als Kinder der Zeit,
als Producte der Geschichte, als Glieder eines realen staatlichen Organismus.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/228>, abgerufen am 01.09.2024.