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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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verschiedenheiteil nickt qualitativ, sondern quantitativ zu messen, durch die Ueber-
legung, daß die Abcudpost doch am weitesten gehe, und darum am schädlichsten
sei, sodann durch die Gereiztheit über den völligen Maugel an Ehrerbietung, der
sich allerdings in der Abcndpost am schärfsten ausspricht.

Wir von unserm Standpunkt glauben vielmehr den gebildeten Leser aus
eine Richtung aufmerksam macheu zu müssen, die von bei weitem größeren Interesse
ist, als z. B. die Deklamationen der Nativualzcitnng. Denn der Verstand hat auch
in seinen Irrfahrten etwas Lehrreiches; das hohle Pathos dagegen ist unausstehlich.

Um der Abendpost ihre Stellung in der Partei anzuweisen, die man sonst
die radicale, jetzt die demokratische nennt, sondern wir dieselbe -- soweit sie
überhaupt sich mit Positivem abgibt -- nach drei Richtungen, die sich nicht nur
dem Grade', sondern dem wesentliche" Inhalt nach voll einander scheiden.

Die eine, die specistsch demokratische, geht von der Idee der Volkssou-
veränetät aus. Sie stellt als einzige Aufgabe des Staates hin, den Willen des
Volks auszuführen. Da sie sich unter dem Begriffe Volk nichts anders denken
kauu, als die Masse der in einem gewissen territorialen oder nationalen oder po¬
litischen Umfang begriffenen Individuen, so weiß sie den Willen des Volkes nicht
anders zu erforschen, als dnrch Zählung, durch Addition und Subtracrion, und
es kommt uur darauf an, eine Modalität zu finden, nach welcher diese Zahlung
so genau als möglich vor sich geht. Der ans diese Weise constatirte Wille des
Volks soll dann Gesetz des Staates sein, und jede Staatsform, in welcher die
Gesetze nicht in der Form der Zählung gefunden werden, soll als ein Attentat
gegen die Volkssouveränetät vernichtet werden, wenn es nicht anders geht, durch
eine Revolution, d. h. durch eine handgreifliche Darstellung des Vvlkswilleus.

Am consequentesten ist dieser Begriff in der französischen Verfassung von
1793 ausgeführt worden, nach welcher über jeden Gesetzvorschlag jeder einzelne
Bürger befragt und demnach entschieden werden sollte. In dieser Konsequenz zeigt
sich die Gedankenlosigkeit des Princips am augenscheinlichsten. Wenn z. B. die
Staatszähler zur Entscheidung der Frage, ob der Zollaufschlag auf den Toise
erhöht werdeu sollte oder nicht, von Haus zu Haus gehen sollen, um den Willen
des Souveräns zu constatiren, so würde das Endresultat, wie es auch ausfallen
möge, jedenfalls nicht eine Folge verständiger Ueberlegung sein. Man hat diese
handgreifliche Absurdität durch eine Fiction, die Uebertragung des souveränen
Willens an Ncpräsentatitcn, zu corrigiren gesucht; aber die verschiedenen Reprä-
sentativsysteme sind so lange haltlos, als sie sich nicht von dem n^rov ^M<?z
der Volkssouveränetät lossagen, in welchem der Begriff der unbeschränkten
Gewalt, und die Uebergabe dieser Gewalt an einen aus Judividuen atvmistisch
zusammengesetzten Collectivbegriff sich vermischen. Freilich ist es noch viel schlim¬
mer, wenn man der Massenherrschaft gegenüber den Staat auf den fürstlichen
Absolutismus gründen will. --


verschiedenheiteil nickt qualitativ, sondern quantitativ zu messen, durch die Ueber-
legung, daß die Abcudpost doch am weitesten gehe, und darum am schädlichsten
sei, sodann durch die Gereiztheit über den völligen Maugel an Ehrerbietung, der
sich allerdings in der Abcndpost am schärfsten ausspricht.

Wir von unserm Standpunkt glauben vielmehr den gebildeten Leser aus
eine Richtung aufmerksam macheu zu müssen, die von bei weitem größeren Interesse
ist, als z. B. die Deklamationen der Nativualzcitnng. Denn der Verstand hat auch
in seinen Irrfahrten etwas Lehrreiches; das hohle Pathos dagegen ist unausstehlich.

Um der Abendpost ihre Stellung in der Partei anzuweisen, die man sonst
die radicale, jetzt die demokratische nennt, sondern wir dieselbe — soweit sie
überhaupt sich mit Positivem abgibt — nach drei Richtungen, die sich nicht nur
dem Grade', sondern dem wesentliche» Inhalt nach voll einander scheiden.

Die eine, die specistsch demokratische, geht von der Idee der Volkssou-
veränetät aus. Sie stellt als einzige Aufgabe des Staates hin, den Willen des
Volks auszuführen. Da sie sich unter dem Begriffe Volk nichts anders denken
kauu, als die Masse der in einem gewissen territorialen oder nationalen oder po¬
litischen Umfang begriffenen Individuen, so weiß sie den Willen des Volkes nicht
anders zu erforschen, als dnrch Zählung, durch Addition und Subtracrion, und
es kommt uur darauf an, eine Modalität zu finden, nach welcher diese Zahlung
so genau als möglich vor sich geht. Der ans diese Weise constatirte Wille des
Volks soll dann Gesetz des Staates sein, und jede Staatsform, in welcher die
Gesetze nicht in der Form der Zählung gefunden werden, soll als ein Attentat
gegen die Volkssouveränetät vernichtet werden, wenn es nicht anders geht, durch
eine Revolution, d. h. durch eine handgreifliche Darstellung des Vvlkswilleus.

Am consequentesten ist dieser Begriff in der französischen Verfassung von
1793 ausgeführt worden, nach welcher über jeden Gesetzvorschlag jeder einzelne
Bürger befragt und demnach entschieden werden sollte. In dieser Konsequenz zeigt
sich die Gedankenlosigkeit des Princips am augenscheinlichsten. Wenn z. B. die
Staatszähler zur Entscheidung der Frage, ob der Zollaufschlag auf den Toise
erhöht werdeu sollte oder nicht, von Haus zu Haus gehen sollen, um den Willen
des Souveräns zu constatiren, so würde das Endresultat, wie es auch ausfallen
möge, jedenfalls nicht eine Folge verständiger Ueberlegung sein. Man hat diese
handgreifliche Absurdität durch eine Fiction, die Uebertragung des souveränen
Willens an Ncpräsentatitcn, zu corrigiren gesucht; aber die verschiedenen Reprä-
sentativsysteme sind so lange haltlos, als sie sich nicht von dem n^rov ^M<?z
der Volkssouveränetät lossagen, in welchem der Begriff der unbeschränkten
Gewalt, und die Uebergabe dieser Gewalt an einen aus Judividuen atvmistisch
zusammengesetzten Collectivbegriff sich vermischen. Freilich ist es noch viel schlim¬
mer, wenn man der Massenherrschaft gegenüber den Staat auf den fürstlichen
Absolutismus gründen will. —


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[0224] verschiedenheiteil nickt qualitativ, sondern quantitativ zu messen, durch die Ueber- legung, daß die Abcudpost doch am weitesten gehe, und darum am schädlichsten sei, sodann durch die Gereiztheit über den völligen Maugel an Ehrerbietung, der sich allerdings in der Abcndpost am schärfsten ausspricht. Wir von unserm Standpunkt glauben vielmehr den gebildeten Leser aus eine Richtung aufmerksam macheu zu müssen, die von bei weitem größeren Interesse ist, als z. B. die Deklamationen der Nativualzcitnng. Denn der Verstand hat auch in seinen Irrfahrten etwas Lehrreiches; das hohle Pathos dagegen ist unausstehlich. Um der Abendpost ihre Stellung in der Partei anzuweisen, die man sonst die radicale, jetzt die demokratische nennt, sondern wir dieselbe — soweit sie überhaupt sich mit Positivem abgibt — nach drei Richtungen, die sich nicht nur dem Grade', sondern dem wesentliche» Inhalt nach voll einander scheiden. Die eine, die specistsch demokratische, geht von der Idee der Volkssou- veränetät aus. Sie stellt als einzige Aufgabe des Staates hin, den Willen des Volks auszuführen. Da sie sich unter dem Begriffe Volk nichts anders denken kauu, als die Masse der in einem gewissen territorialen oder nationalen oder po¬ litischen Umfang begriffenen Individuen, so weiß sie den Willen des Volkes nicht anders zu erforschen, als dnrch Zählung, durch Addition und Subtracrion, und es kommt uur darauf an, eine Modalität zu finden, nach welcher diese Zahlung so genau als möglich vor sich geht. Der ans diese Weise constatirte Wille des Volks soll dann Gesetz des Staates sein, und jede Staatsform, in welcher die Gesetze nicht in der Form der Zählung gefunden werden, soll als ein Attentat gegen die Volkssouveränetät vernichtet werden, wenn es nicht anders geht, durch eine Revolution, d. h. durch eine handgreifliche Darstellung des Vvlkswilleus. Am consequentesten ist dieser Begriff in der französischen Verfassung von 1793 ausgeführt worden, nach welcher über jeden Gesetzvorschlag jeder einzelne Bürger befragt und demnach entschieden werden sollte. In dieser Konsequenz zeigt sich die Gedankenlosigkeit des Princips am augenscheinlichsten. Wenn z. B. die Staatszähler zur Entscheidung der Frage, ob der Zollaufschlag auf den Toise erhöht werdeu sollte oder nicht, von Haus zu Haus gehen sollen, um den Willen des Souveräns zu constatiren, so würde das Endresultat, wie es auch ausfallen möge, jedenfalls nicht eine Folge verständiger Ueberlegung sein. Man hat diese handgreifliche Absurdität durch eine Fiction, die Uebertragung des souveränen Willens an Ncpräsentatitcn, zu corrigiren gesucht; aber die verschiedenen Reprä- sentativsysteme sind so lange haltlos, als sie sich nicht von dem n^rov ^M<?z der Volkssouveränetät lossagen, in welchem der Begriff der unbeschränkten Gewalt, und die Uebergabe dieser Gewalt an einen aus Judividuen atvmistisch zusammengesetzten Collectivbegriff sich vermischen. Freilich ist es noch viel schlim¬ mer, wenn man der Massenherrschaft gegenüber den Staat auf den fürstlichen Absolutismus gründen will. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/224>, abgerufen am 27.07.2024.