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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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heilig, daß sie alle unsere Kraft in Anspruch nehmen. Wir haben keine übrig
für fremdes Blut." -- Ah, seid ihr so besorgt um das Blut eures eigenen Landes?
Wir wollen sehn! Du aber, Zigennervolk, schlafe in Frieden im grünen Kiefer¬
wald. Du hast hartnäckig mehr mit der Natur gelebt, als mit Menschen, durch
die Natur, deine Göttin, bist du auch getödtet worden; sie allein hat Riesen und
Fortbildung durch deine Existenz, sie zieht Keime zu neuem Leben aus deinem ver¬
wesenden Leibe.

Ja, wärst du ein Sohn des Staates gewesen, indem du gestorben bist! Der
Staat ist in seiner innern Einrichtung einer der Besten; er ist besorgt, ja zu sehr
besorgt um seine einzelnen Bürger. Es ist so viel Polizei und Aufsicht, und sehr
viele Gesetze sind in Preußen, welche alle zu executireu viele Beamte beschäftigt
sind. Es kann kein Mensch geboren werden oder sterben, ohne daß der Staat
sich darum bekümmert; es kann keiner lustige Tanzmusik in sein Hans laden, ohne
daß der Staat sich darüber freut; es darf keiner von seiner Heimach fortgehn,
ohne Zettel des Staats, in welchen versichert wird, daß er nicht gefährlich ist;
es darf keiner irgendwo außer seinem Hause zu Nacht bleiben, ohne daß der
Staat es erfährt; kurz unser Staat ist zwar durch große Sorge manchmal dem
Einzelnen lästig, aber es ist doch dafür auch überall Ordnung, Zusammenhang
Schule, bürgerliche Sicherheit, und Jeder weiß, daß er zum Staate gehört und
der Staat zu ihm! Wir wollen sehn.

Kennen Sie deu Annaberg, die waldbewachsene Stätte für oberschlesische
Frömmigkeit und rohe Liebesabenteuer! Seine Basaltmassen haben sich wie eine
große Schanze in abgerundeten Terrassen und übereinander steigenden Stein-
blascn ausgegossen über das Flachland, in welchem er thront. -- Der kleine Berg
ist heilig und weltberühmt durch die Heilkraft seines Ablasses. Oben steht eine
kleine Kirche voll dürftiger Weihgeschenke, wie sie das arme Volk seinen Göttern
darbringt, daneben das Pricsterhauö, ein alter stiller Bau mit Kreuzgang und
schattigem Hofe. An den Festtagen des Berges belebt sich die einsame Gegend.
Schaaren von Gläubigen, Männer und Weiber ziehen mit der Kreuzfahne unter
Anführung eiues Vorsängers von allen Seiten dem Berge zu. Seltsam und
wild tönt ihr Gesang durch die Straßen der Städte, welche auf ihrem Wege liegen;
es sind zwar schlesische Landleute, unsere guten Nachbarn, College" der Herren
Deputirten Kiolbassa und Mros, welche die Haufen bilden; aber einem ehrlichen
Christen kommen sie fremdartig vor, wie ein Haufe Indianer. Voran schreitet
ein Banerlümmel mit der Kreuzstandarte, er sieht stier auf seine Fahne, uicht rechts
und nicht links auf die neugierigen Gesichter der Städter, dahinter der Vorsänger
mit faltigem, widerlichem Gesicht, rother Nase und offenem Munde, aus dem die
langgezogenen Töne der polnischen Wallfahrtsliedcr wie ein melancholisches Geheul
herausbringen. Jede Zeile wiederholt die Masse der Folgenden, die armen
Schelme können- nicht lesen und müssen seinem Munde nachbeten. Immer macht


21*

heilig, daß sie alle unsere Kraft in Anspruch nehmen. Wir haben keine übrig
für fremdes Blut." — Ah, seid ihr so besorgt um das Blut eures eigenen Landes?
Wir wollen sehn! Du aber, Zigennervolk, schlafe in Frieden im grünen Kiefer¬
wald. Du hast hartnäckig mehr mit der Natur gelebt, als mit Menschen, durch
die Natur, deine Göttin, bist du auch getödtet worden; sie allein hat Riesen und
Fortbildung durch deine Existenz, sie zieht Keime zu neuem Leben aus deinem ver¬
wesenden Leibe.

Ja, wärst du ein Sohn des Staates gewesen, indem du gestorben bist! Der
Staat ist in seiner innern Einrichtung einer der Besten; er ist besorgt, ja zu sehr
besorgt um seine einzelnen Bürger. Es ist so viel Polizei und Aufsicht, und sehr
viele Gesetze sind in Preußen, welche alle zu executireu viele Beamte beschäftigt
sind. Es kann kein Mensch geboren werden oder sterben, ohne daß der Staat
sich darum bekümmert; es kann keiner lustige Tanzmusik in sein Hans laden, ohne
daß der Staat sich darüber freut; es darf keiner von seiner Heimach fortgehn,
ohne Zettel des Staats, in welchen versichert wird, daß er nicht gefährlich ist;
es darf keiner irgendwo außer seinem Hause zu Nacht bleiben, ohne daß der
Staat es erfährt; kurz unser Staat ist zwar durch große Sorge manchmal dem
Einzelnen lästig, aber es ist doch dafür auch überall Ordnung, Zusammenhang
Schule, bürgerliche Sicherheit, und Jeder weiß, daß er zum Staate gehört und
der Staat zu ihm! Wir wollen sehn.

Kennen Sie deu Annaberg, die waldbewachsene Stätte für oberschlesische
Frömmigkeit und rohe Liebesabenteuer! Seine Basaltmassen haben sich wie eine
große Schanze in abgerundeten Terrassen und übereinander steigenden Stein-
blascn ausgegossen über das Flachland, in welchem er thront. — Der kleine Berg
ist heilig und weltberühmt durch die Heilkraft seines Ablasses. Oben steht eine
kleine Kirche voll dürftiger Weihgeschenke, wie sie das arme Volk seinen Göttern
darbringt, daneben das Pricsterhauö, ein alter stiller Bau mit Kreuzgang und
schattigem Hofe. An den Festtagen des Berges belebt sich die einsame Gegend.
Schaaren von Gläubigen, Männer und Weiber ziehen mit der Kreuzfahne unter
Anführung eiues Vorsängers von allen Seiten dem Berge zu. Seltsam und
wild tönt ihr Gesang durch die Straßen der Städte, welche auf ihrem Wege liegen;
es sind zwar schlesische Landleute, unsere guten Nachbarn, College« der Herren
Deputirten Kiolbassa und Mros, welche die Haufen bilden; aber einem ehrlichen
Christen kommen sie fremdartig vor, wie ein Haufe Indianer. Voran schreitet
ein Banerlümmel mit der Kreuzstandarte, er sieht stier auf seine Fahne, uicht rechts
und nicht links auf die neugierigen Gesichter der Städter, dahinter der Vorsänger
mit faltigem, widerlichem Gesicht, rother Nase und offenem Munde, aus dem die
langgezogenen Töne der polnischen Wallfahrtsliedcr wie ein melancholisches Geheul
herausbringen. Jede Zeile wiederholt die Masse der Folgenden, die armen
Schelme können- nicht lesen und müssen seinem Munde nachbeten. Immer macht


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[0171] heilig, daß sie alle unsere Kraft in Anspruch nehmen. Wir haben keine übrig für fremdes Blut." — Ah, seid ihr so besorgt um das Blut eures eigenen Landes? Wir wollen sehn! Du aber, Zigennervolk, schlafe in Frieden im grünen Kiefer¬ wald. Du hast hartnäckig mehr mit der Natur gelebt, als mit Menschen, durch die Natur, deine Göttin, bist du auch getödtet worden; sie allein hat Riesen und Fortbildung durch deine Existenz, sie zieht Keime zu neuem Leben aus deinem ver¬ wesenden Leibe. Ja, wärst du ein Sohn des Staates gewesen, indem du gestorben bist! Der Staat ist in seiner innern Einrichtung einer der Besten; er ist besorgt, ja zu sehr besorgt um seine einzelnen Bürger. Es ist so viel Polizei und Aufsicht, und sehr viele Gesetze sind in Preußen, welche alle zu executireu viele Beamte beschäftigt sind. Es kann kein Mensch geboren werden oder sterben, ohne daß der Staat sich darum bekümmert; es kann keiner lustige Tanzmusik in sein Hans laden, ohne daß der Staat sich darüber freut; es darf keiner von seiner Heimach fortgehn, ohne Zettel des Staats, in welchen versichert wird, daß er nicht gefährlich ist; es darf keiner irgendwo außer seinem Hause zu Nacht bleiben, ohne daß der Staat es erfährt; kurz unser Staat ist zwar durch große Sorge manchmal dem Einzelnen lästig, aber es ist doch dafür auch überall Ordnung, Zusammenhang Schule, bürgerliche Sicherheit, und Jeder weiß, daß er zum Staate gehört und der Staat zu ihm! Wir wollen sehn. Kennen Sie deu Annaberg, die waldbewachsene Stätte für oberschlesische Frömmigkeit und rohe Liebesabenteuer! Seine Basaltmassen haben sich wie eine große Schanze in abgerundeten Terrassen und übereinander steigenden Stein- blascn ausgegossen über das Flachland, in welchem er thront. — Der kleine Berg ist heilig und weltberühmt durch die Heilkraft seines Ablasses. Oben steht eine kleine Kirche voll dürftiger Weihgeschenke, wie sie das arme Volk seinen Göttern darbringt, daneben das Pricsterhauö, ein alter stiller Bau mit Kreuzgang und schattigem Hofe. An den Festtagen des Berges belebt sich die einsame Gegend. Schaaren von Gläubigen, Männer und Weiber ziehen mit der Kreuzfahne unter Anführung eiues Vorsängers von allen Seiten dem Berge zu. Seltsam und wild tönt ihr Gesang durch die Straßen der Städte, welche auf ihrem Wege liegen; es sind zwar schlesische Landleute, unsere guten Nachbarn, College« der Herren Deputirten Kiolbassa und Mros, welche die Haufen bilden; aber einem ehrlichen Christen kommen sie fremdartig vor, wie ein Haufe Indianer. Voran schreitet ein Banerlümmel mit der Kreuzstandarte, er sieht stier auf seine Fahne, uicht rechts und nicht links auf die neugierigen Gesichter der Städter, dahinter der Vorsänger mit faltigem, widerlichem Gesicht, rother Nase und offenem Munde, aus dem die langgezogenen Töne der polnischen Wallfahrtsliedcr wie ein melancholisches Geheul herausbringen. Jede Zeile wiederholt die Masse der Folgenden, die armen Schelme können- nicht lesen und müssen seinem Munde nachbeten. Immer macht 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/171>, abgerufen am 01.09.2024.